Wer den aktuellen Ukraine-Konflikt zwischen Nato und Russland verstehen will, sollte nicht auf die Berichterstattung der bürgerlichen Medien vertrauen. Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist trauriger Höhepunkt, aber nicht Ausgangspunkt der Eskalation, meint Hannes Draeger
In Brüssel, Washington und Berlin war man zu keinem Zeitpunkt bereit, Russland nach dem Fall der Sowjetunion als stark geschrumpfte Regionalmacht zu akzeptieren. Trotz gegenteiliger Versprechungen dehnte sich die Nato immer weiter nach Osten aus. Seit 1990 sind 14 osteuropäische Staaten dem Militärbündnis beigetreten. 1999 griffen die Nato-Staaten Jugoslawien an – einen damaligen Verbündeten Russlands und machten zwei Dinge klar: Erstens: Der Balkan steht fortan unter Kontrolle der Nato. Im Kosovo wurde nach der westlichen Eroberung die US-Militärbasis »Camp Bondsteal« errichtet, eine der größten Militärbasen der Welt.
Eskalationspolitik der Nato
Zweitens: Nach dem Fall der Sowjetunion gilt jetzt nur noch das Recht des Stärkeren in internationalen Beziehungen. Die Bombardierung Jugoslawiens war zweifellos völkerrechtswidrig und die Allianz bemühte sich nicht einmal, dies als Ausnahmefall darzustellen. Mit dem Aufbau der heute 40.000 Soldat:innen starken »Response Force« ab 2002 machte die Nato klar, dass sie auch in Zukunft dieses Recht des Stärkeren anwenden wird, während die Eskalationspolitik gegenüber Russland weiter ging.
Der Ukraine, die bis dato eine Schaukelpolitik zwischen dem »Westen« und Russland betrieb, setzte man 2014 die Pistole auf die Brust, sich entscheiden zu müssen. Mit dem vorgelegten EU-Assoziierungsabkommen war genau das beabsichtigt. Nach der Machtübernahme der pro-westlichen Regierung in Kiew und der darauffolgenden Annektierung der Krim durch Russland, wurde eine weiterer Welle der Ost-Mobilmachung in Gang gesetzt.
Militarisierung der »Ostflanke«
Die »schnelle Eingreiftruppe« der Nato wurde aufgebaut, in Deutschland auch unter dem geschichtsvergessenen Namen »Speerspitze Ost« bekannt. Diese etwa 15.000 Soldat:innen starke Truppe soll innerhalb von 2-5 Tagen einsatzfähig sein. Das Einsatzgebiet dieser Truppe ist von ihrer Struktur her nach Osten gerichtet. Die Stützpunkte liegen nicht etwa in Frankreich, sondern im Baltikum sowie Polen, Rumänien und Bulgarien. 2016 wurde die »Ostflanke« der Nato noch einmal verstärkt, mit 4000 weiteren Soldat:innen im Baltikum und Polen, in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze. Über diesen »Truppenaufmarsch« schweigen die Medien, während jede russische Truppenbewegung zur Hauptschlagzeile wird.
Zugleich baute die Nato und in ihr führend die Bundeswehr ihre Ostsee-Präsenz massiv aus. Mit dem neu geschaffenen Marinekommando in Rostock wurden die deutschen Seestreittkräfte vor allem an der Ostsee konzentriert. 2019 fügte sich der Nato-Einsatzstab DEU MARFOR in diese Militarisierung der Ostsee ein.
Schiefe Berichterstattung
Heute vergeht kaum ein Tag ohne Nato-Truppenaktivitäten in der Nähe der russischen Grenze. Jahr für Jahr finden Großmanöver der Nato im Osten Europas statt. Die Manöver tragen friedvolle Namen wie Operation »Säbelschlag« (»Saber Strike«), an denen sich teilweise zehntausende Soldat:innen, dutzende Kriegsschiffe und unzählige Kampfbomber beteiligen.
Im vorherrschenden Schwarz-Weiß-Denken der Medien kommen die oben benannten Aspekte der Eskalation kaum oder nur bedingt vor. Bezieht man zusätzlich mit ein, dass die Nato-Staaten zusammen etwa sechzehnmal so viel Geld für Militär wie Russland ausgeben, so muss man zum Schluss kommen, dass in der hiesigen Berichterstattung über die Bedrohung durch Russland etwas gewaltig schief liegt.
Foto: NATO North Atlantic Treaty Organization / flickr.com
Schlagwörter: NATO, Russland, Ukraine