Kein Kopftuch, keine Kippa, kein Kreuz – an den Berliner Schulen herrscht das Neutralitätsgesetz. Doch das Gesetz wirkt nicht neutral, sondern diskriminiert vor allem gläubige muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen möchten. Deswegen muss das Gesetz weg. Von Lucia Schnell und Jules El-Khatib und Irmgard Wurdack
Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt im August 2020 hat einer muslimischen, kopftuchtragenden Informatikern aus Berlin Recht gegeben, die gegen Ihre Diskriminierung beim der Bewerbung für den Quereinstieg in den Schuldienst geklagt hatte. Das Gericht erkannte an, dass sie eine unmittelbare Diskriminierung wegen ihrer Religion erfahren hatte. Bereits im März 2015 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass pauschale Kopftuchverbote der Religionsfreiheit widersprechen. Die beiden Urteile zeigen: Es ist höchste Zeit, dass in Berlin und in anderen Ländern, in denen es diskriminierende Kopftuchverbote gibt, die Konsequenzen gezogen werden. DIE LINKE. Berlin hatte sich dafür eingesetzt, dass das pauschale Verbot in Bezug auf das Tragen von religiös geprägten Bekleidungsstücken und Symbolen durch Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in öffentlichen Schulen aufgehoben wird. Doch in Berlin gilt immer noch das im Jahr 2006 vom damaligen SPD-PDS-Senat eingeführten so genannten Neutralitätsgesetz. Dieses Gesetz sollte ursprünglich dazu dienen, dass der Staat allen Menschen – egal welcher Konfession – neutral gegenüber tritt. In der Realität aber wirkt es als reines Kopftuchverbot. Darum ist es abzulehnen.
Ein Hindernis für Emanzipation
Das Neutralitätsgesetz verbietet es beispielsweise Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen, sichtbare religiöse Symbole und Kleidung zu tragen. Was für Christinnen und Christen unproblematisch ist, schließt muslimische Frauen mit Kopftuch davon aus, als Lehrerin oder Juristin für das Land Berlin zu arbeiten. So wirkt das Gesetz als Berufsverbot für kopftuchtragende Musliminnen im öffentlichen Dienst.
Dieses Kopftuchverbot schadet allen betroffenen Frauen und Mädchen – egal ob sie das Tuch aus Überzeugung tragen oder dazu gezwungen werden. Auch letzteren wird der Zugang zu sicheren und auskömmlichen Berufen verwehrt. Das Gesetz erschwert es ihnen, sich aus der ökonomischen Abhängigkeit der Familie zu lösen. Berufsverbote für Frauen behindern die Emanzipation. Die sozialistische Frauenbewegung um Clara Zetkin hat sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts gegen Berufsverbote und für die Berufstätigkeit von Frauen eingesetzt. Nur so können Frauen die Vereinzelung im Haushalt überwinden und Teil der Arbeiterbewegung werden.
Abwehrhaltung gegen Diversität
Das Gesetz verschärft die bestehende Diskriminierung von Muslimen in der Privatwirtschaft. Studentinnen und Schülerinnen berichten wiederholt, dass ihre Bewerbungen selbst für ein Praktikum oder ein Referendariat im öffentlichen Dienst mit Verweis auf ihr Kopftuch abgelehnt werden. Eine Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit zeigt, dass muslimische Frauen mit Kopftuch mehr als vier Mal so viele Bewerbungen verschicken müssen, um eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten, wie Bewerberinnen mit identischer Qualifikation ohne offensichtliche Religionszugehörigkeit.
Bei höher qualifizierten Stellen steigt der Grad der Diskriminierung sogar noch weiter an. Die Berliner Rassismusforscherin Yasemin Shooman: »Es stört sich keiner an dem Kopftuch der Putzfrau. Da interessiert es auch nicht, ob sie unterdrückt ist oder nicht. Das Argument wird erst in dem Moment bemüht, wo eine soziale Mobilität nach oben stattfindet. Da sehen wir eine Abwehrhaltung gegen Diversität, gegenüber dem Anerkennen und Aushalten von Anderssein und auch dem sozialen Aufstieg einer Minderheit.«
Rassistische Vorurteile gegen Muslime
Übersehen wird in der Debatte häufig, dass die meisten muslimischen Frauen das Tuch als Ausdruck ihrer Identität tragen. Die zunehmende Religiosität und der Wunsch der dritten und vierten Einwandergenerationen, Kopftuch zu tragen, ist eine Gegenbewegung zur alltäglichen Erfahrung, dass sie allen Anpassungsversuchen zum Trotz noch immer diskriminiert werden. Institutioneller Rassismus und rassistische Pöbeleien sind für sie Alltag, bis hin zu gewalttätigen Übergriffen.
Verteidigt wird der Ausschluss von Musliminnen vom öffentlichen Dienst vor allem von führenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Dabei bringen sie erfundene Behauptungen ohne Belege vor, die rassistische Vorurteile gegen muslimische Eltern und Schüler schüren: »Eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens ist in Berlin schon jetzt gegeben«, heißt es in dem Aufruf für das Neutralitätsgesetz.
AfD und Neonazis springen auf diesen Zug auf. Franz Kerker, der bildungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus: »Das Kopftuch ist ein Symbol des politischen Islams und seines Anspruchs auf Weltherrschaft. Überdies müssen muslimische Mädchen vor der mit dem Kopftuch einhergehenden Indoktrination wenigstens in der Schule geschützt werden.« Gerade bei Politikern einer Partei, die wie die AfD zahlreiche christliche Fundamentalistinnen wie Beatrix von Storch in ihren Reihen weiß und ein erzreaktionäres Frauenbild vertritt, ist es offensichtlich, dass das Wohl der Frauen und Mädchen nur vorgeschoben ist. Ihr Beifall sollte der SPD zu denken geben.
Neutralitätsgesetz abschaffen, Rassismus bekämpfen!
Aber vielleicht soll ihre Kampagne gegen kopftuchtragende Frauen von der eigenen Kürzungspolitik der letzten Jahrzehnte ablenken. Was Schülerinnen und Schüler sowie Beschäftigte an Berliner Schulen tatsächlich bräuchten, sind kleinere Klassen, mehr Lehrerinnen und Lehrer, Lehrmittelfreiheit und die dringend notwendige Renovierung der jahrzehntelang auf Verschleiß gefahrenen Schulgebäude. Gerade Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien werden im deutschen Bildungssystem bis in die 3./4. Generation systematisch diskriminiert. Hier wäre dringender Handlungsbedarf für alle, die das Wohl der Schülerinnen im Mund führen.
Vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf Moscheen, Geflüchtete und tatsächliche oder vermeintliche Muslime, verschärfter Hetze von Rechten und einer überwiegend negativen Berichterstattung über den Islam trägt das Neutralitätsgesetz – gewollt oder nicht – zu antimuslimischem Rassismus bei, denn es verschärft die Ausgrenzung und Stigmatisierung von Muslimen. DIE LINKE. Berlin sollte daher vom Senat fordern, das Neutralitätsgesetz abzuschaffen und Diskriminierung und Rassismus zu bekämpfen. Darüber hinaus sollte die Berliner Linke auf Moscheegemeinden, Musliminnen und Muslime zugehen, um gemeinsam Öffentlichkeit und Widerstand gegen die AfD, Neonazis und auch Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus zu organisieren.
Foto: DFID – UK Department for International Development
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Berlin, Inland, Islamfeindlichkeit, Kopftuch, Kopftuchverbot, Rassismus, Religion, Religionsfreiheit, Säkularismus, Schule, Staat