Der Sieg von Theresa May und den Tories bei der Neuwahl am 8. Juni gilt als sicher. Doch Jeremy Corbyn zeigt sich kampfbereit und könnte noch für eine Überraschung sorgen. Seine Gegner sitzen allerdings auch in der eigenen Partei und sie wetzen bereits die Messer. Sally Campbell, Redakteurin des Socialist Review, über die Stimmung nach dem Brexit-Votum, das Agieren des rechten Labour-Flügels und die Aufgaben der britischen Linken
Als Theresa May vorgezogene Neuwahlen bereits für Anfang Juni ausrief, kam das für alle völlig überraschend. Sie hatte seit ihrer Krönung zur Ministerpräsidentin, nachdem David Cameron sich versehentlich selbst aus dem Amt entlassen hatte, betont, es werde keine vorgezogenen Wahlen geben, sie werde stattdessen unbeirrt und hart bis zum Jahr 2020 die Bedingungen des Brexits verhandeln.
Dennoch gibt es etliche gute Gründe für sie, die Wahlen jetzt abzuhalten – nicht zuletzt die Tatsache, die sie aber nicht anspricht, dass die Tories nach neuesten Wahlumfragen um 20 Prozent vor Labour liegen. Für May sind frühe Wahlen also von Vorteil, da sie auf einen Zugewinn für die Tories hoffen kann, ehe die unangenehmen Entscheidungen für den Brexit getroffen werden müssen. Und die Tories rechnen sich aus, Zeit für weitere Kürzungen im Dienstleistungs- und Wohlfahrtsbereich zu gewinnen, da sie sich möglicherweise erst im Jahr 2022 wieder dem Urteil ihrer Wählerschaft stellen müssen.
Corbyn könnte für Überraschung sorgen
Aber ein Erdrutschsieg der Tories ist keine ausgemachte Sache. Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben uns gezeigt, dass Polarisierung und Enttäuschung über die politischen Eliten große Überraschungen bereithalten.
Die Tories haben bis jetzt versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Sie verhalten sich still und hoffen, dass sie in den Meinungsumfragen weiterhin vorn liegen. Theresa May wurde kaum gesehen, seit sie ihre Ankündigung gemacht hat. Diese Zurückhaltung wird sich aber wohl kaum fortsetzen. Die rechten Boulevardzeitungen haben schon versucht, Tory-Wählern mit möglichen Steueranhebungen unter einer Labour-Regierung Angst zu machen, damit sie wählen gehen. Die Sorge, dass eine geringe Wahlbeteiligung den Tories schaden könnte, ist durchaus begründet.
Sozialisten dagegen hoffen, dass die Begeisterung über Jeremy Corbyn, der Sparpolitik ablehnt und unbeugsam gegen Krieg und Rassismus auftritt und den Kampf um die Führung der Partei gewonnen hat, sich bei den Wahlen am 8. Juni in Wählerstimmen gegen die Tories niederschlägt.
Die neue Politik von Labour
Corbyn ist hoch anzurechnen, dass er kämpferisch in den Ring steigt. Mit seiner ersten Rede nach Mays Ankündigung hat er den Aktivistinnen und Aktivisten Mut gemacht. Er betonte, dass es bei dieser Wahl um »das Establishment gegen das Volk« gehe. Er sagte weiter: »Dies ist ein manipuliertes System, geschaffen von denen, die sich den gesellschaftlichen Reichtum aneignen und zugunsten ebendieser.« Die von Labour angekündigte Politik – das Manifest wird offiziell am 15. Mai vorgelegt – steht im Einklang mit der Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Austeritätspolitik. Versprochen wird die Beendigung der Privatisierung des Nationalen Gesundheitssystems (NHS) und Aufkündigung der Öffentlich-privaten Partnerschaft sowie Nichtverlängerung der privaten Verträge; die Wiedereinführung von Stipendien für Auszubildende im Pflegebereich; die Beibehaltung der bestehenden Rechte der EU-Bürger; die Anhebung der Unternehmenssteuer und des Spitzensteuersatzes; die Anhebung des Mindeststundenlohns auf 10 Pfund (derzeit etwa 12 Euro); die Wiederverstaatlichung der Bahn und des Postwesens; das Verbot des Frackings, stattdessen Investitionen in Energiequellen mit geringem Kohlendioxidausstoß; der Bau von einer Millionen Wohnungen innerhalb von fünf Jahren.
George Monbiot hat im Guardian auf eine ComRes-Umfrage hingewiesen, die zeigt, wie populär ein Teil dieser Politik ist: 71 Prozent sind für die Forderung nach 10 Pfund Mindestlohn und 62 Prozent für die Anhebung der Steuern ab einem Jahreseinkommen von mehr als 150.000 Pfund.
Die Medien und der rechte Labour-Flügel
Corbyn wird gleichzeitig von allen Seiten des Establishments angegriffen. Die rechten Medien nennen ihn, was wohl kaum überrascht, einen Extremisten. Aber auch die liberalen Medien haben sich zum Ziel gesetzt, ihn zu schwächen. In der Woche, als die Wahl verkündet wurde, widmete der Observer dem liberaldemokratischen Parteiführer Tim Farin und seinem Versuch, die Wahl in eine Wiederholung der Abstimmung über die EU zu verwandeln, mehrere Seiten, während Corbyns zahlreiche und klare politischen Aussagen vollständig ignoriert werden. Der Guardian ist voller Artikel und Kommentare, die Corbyns »schwache Führung« und »Inkompetenz« beklagen und in denen eine taktische Wahl vorgeschlagen wird, um die Tories zu verhindern, statt zur Wahl Labours aufzurufen.
Diese Angriffe sind nicht das Ergebnis einer Verschwörung der Medien – sie haben ihren Ursprung im rechten Flügel der Labour Party. Tony Blair ist ein besonders krasses Beispiel dafür, der Mann, der George W. Bush getreu folgte und Großbritannien in zwei verheerende Kriege führte. Er verlor von 1997 bis 2005 Millionen Stimmen. Wenn er jetzt fordert, nur Kandidaten zu unterstützen, die »keinen harten Brexit« befürworten – selbst wenn sie Tories sind – verschlägt es einem die Sprache. Bis jetzt hat ihn niemand dafür zur Verantwortung gezogen.
Abgesehen von dem Giftpilz Blair gibt es aber ein Argument, das nicht selten von guten Linken vorgebracht wird: Corbyns Labour Party könne nicht gewinnen und wir bräuchten »fortschrittliche Bündnisse«. In der Praxis wird dies möglicherweise zu Abspaltungen von der Labour Party und zu einer Neuformierung führen, um eine Art Pro-EU-Kraft aufzubauen. Die Folge wäre ohne Zweifel, dass Großbritannien für lange Zeit der Herrschaft der Tories unterworfen wäre.
Die Grenzen für Corbyn
Corbyn sind in seiner Funktion als Parteiführer deutliche Grenzen gesetzt. Das hindert ihn auch, den Wahlkampf zu seinen Bedingungen und auf seiner programmatischen Plattform zu führen. Der Apparat der Labour Party liegt nach wie vor in den Händen des rechten Flügels. Das Manifest, das sie bald veröffentlichen wollen, wird sehr wahrscheinlich auch ihre Handschrift tragen.
Das Gezerre über die Erneuerung der U-Boot-Flotte für Atomraketen (Trident) ist ein Beispiel dafür. Corbyn war schon immer Gegner von Atomwaffen und forderte, schon ehe er Parteiführer wurde, die einseitige Abrüstung und die Beendigung der atomaren »Abschreckung«. Labour jedoch steht für die Politik, Trident zu erneuern, unter anderem wegen des Einflusses der Gewerkschaft Unite, die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Industrie organisiert.
Als Corbyn sich in der »Andrew Marr Show« weigerte, für die Erneuerung von Trident einzutreten, wurde er von den Tories sofort als »Sicherheitsrisiko« angegriffen. Der Verteidigungsminister der Tories, Michael Fallon, beeilte sich, zu versichern, er würde keine Sekunde zögern und im Konfliktfall als Erster die Atomwaffen einsetzen. Ein Sprecher der Labour Party setzte sich über Corbyn hinweg und erklärte, die Partei stehe weiterhin zur Politik der atomaren Abschreckung.
Bezüglich der Verteidigung der Bewegungsfreihit in Europa scheint es bereits Kompromisse zu geben. Keir Starmer, der Schattenminister Labours für den Brexit, scheint die Beendigung der Bewegungsfreiheit nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU bereits akzeptiert zu haben. Corbyn und Diane Abbott haben dem, obwohl sie immer gegen Rassismus gekämpft haben, anscheinend zugestimmt.
Die Aufgaben der Linken
Es ist äußerst wichtig, dass die Linke klar an antirassistischer Politik festhält, insbesondere da Theresa Mays Wahlkampfleiter Lynton Crosby ist, der Mann, der im vergangenen Jahr auch zuständig für den berüchtigt rassistischen (und erfolglosen) Wahlkampf des Tories Zac Goldsmith um die Bürgermeisterwahl in London war.
Die auf den 4. Mai festgesetzten Bezirks- und Kommunalwahlen könnten Corbyns Kampagne ebenfalls behindern. Laut einigen Vorhersagen könnte Labour 75 Ratssitze verlieren, während die Tories über 100 dazugewinnen könnten. Labours Aussichten in Schottland sind besonders finster, weil dort die Schottische Nationalpartei die politische Landschaft komplett beherrscht.
Die Rechte wird sich auf jeden Hinweis auf ein schlechtes Abschneiden Labours in den Kommunalwahlen stürzen. Und die Angriffe der Tories und der Labour-Rechten auf Corbyn werden sich verschärfen, je näher die Parlamentswahl rückt. All das kann dazu führen, dass das Selbstbewusstsein Hunderttausender, die sich in den vergangenen beiden Jahren Labour angeschlossen haben, um Corbyn zu unterstützen, und der Millionen, die sich eine Alternative zu den Konservativen wünschen, geschwächt wird.
Deshalb geht es auch darum, dass diese Wahl nicht einfach nur gewonnen wird, indem die Aktiven der Labour Party von Tür zu Tür gehen und mit den Leuten individuell sprechen. Corbyn bezieht seine Unterstützung aus einer viel breiteren und tiefsitzenden Ablehnung neoliberaler Wirtschaftspolitik – es ist dieselbe Stimmung, die Jean-Luc Mélenchon in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen 7 Millionen Stimmen bescherte oder die Zehntausende in den USA für den Wahlkampf Bernie Sanders bei den Vorwahlen der Demokraten zur Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten inspirierte.
Straßenwahlkampf statt Klinkenputzen
In den kommenden Wochen müssen Sozialisten und Aktivisten, die einen Sieg Corbyns sehen wollen – egal ob sie Mitglieder der Labour Party sind oder nicht –, eine Stimmung auf den Straßen, in den Betrieben und den Universitäten schaffen, die zeigt, dass wir kämpfen und gewinnen können. Wir können unsere europäischen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben verteidigen, deren Status nach dem Brexit unsicher ist; wir können eine Bewegung aufbauen, um das NHS vor Ort und im Land zu verteidigen; wir können überall, wo Rassismus sein Haupt erhebt, dagegen ankämpfen. Die kommenden Wochen bieten die Gelegenheit, hinauszugehen und der Bewegung gegen die Sparpolitik der Tories Schwung zu verleihen. Auf diese Weise können wir Corbyns Kampagne stärken.
Deshalb ist es mehr als unglücklich, wenn Gewerkschaften in Demonstrationen oder Protesten gegen weitere Kürzungen eine Ablenkung vom Wahlkampf sehen. Sie fordern ihre Mitglieder auf, stattdessen für Labour Klinken zu putzen.
Corbyn kann gewinnen, weil wir in einer Welt leben, in der acht Personen über mehr Reichtum verfügen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, und er repräsentiert eine Alternative zu diesem Zustand. Das ist die Welt, die die Tories aufgebaut haben – und diese Welt wird von Millionen abgelehnt.
Die Wochen bis zum 8. Juni bieten die Gelegenheit, sozialistische Ideen an jeder Straßenecke zu verkünden und in jedem Betrieb politische Diskussionen zu führen. Wir haben die Gelegenheit, die Tories aus der Regierung zu werfen – oder ihnen zumindest einen deutlichen Stoß zu versetzen.
Parlament und Bewegung
Für diese Wahl gibt es nicht einfach nur zwei mögliche Ergebnisse – Corbyn gewinnt oder verliert. Möglicherweise kann Theresa May zwar ihre Mehrheit ausbauen, aber nur geringfügig, weil die Wahlbeteiligung niedrig sein wird. Das könnte heißen, dass eine Reihe neuer Tory-Abgeordneter, die ihren Sitz eher Wählern von Ukip oder den Liberalen Demokraten verdanken, sich bei dem Abstimmungsprozedere über den Brexit nicht loyal verhalten werden.
Wird die Labour-Rechte versuchen, Corbyn auch dann loszuwerden, wenn er nur knapp verliert? Selbst wenn ihnen das gelingen sollte, wird es die langfristige Erosion der Labour Party nicht aufhalten. Polly Toynbee hat in einem Artikel im Guardian schwermütig zugegeben, dass es schon vor Corbyn eine »starke Ablehnung Labours« gab.
Und wenn Corbyn gewinnt, werden seine Probleme erst richtig anfangen. Ein Blick auf die Erfahrung des linken Flügels der Regierung Syrizas in Griechenland in den Jahren 2014/2015 zeigt drastisch, dass nicht entscheidend ist, was im Parlament geschieht. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass der Kampf auf der Straße, in den Betrieben und an den Universitäten in diesem Wahlkampf von größter Bedeutung sein wird, denn Corbyn wird ohne eine selbstbewusste Bewegung kaum gewinnen können; aber selbst wenn er Erfolg hat, wird es von der Stärke der Bewegung außerhalb des Parlaments abhängen, ob es echte Veränderung geben wird.
Ein Sieg Corbyns würde der Idee deutlich Auftrieb geben, dass es eine Alternative zu Sparpolitik und Rassismus gibt. Mit dem Aufstieg Marine Le Pens in Frankreich, Donald Trumps Sieg in den USA und der Interpretation der Abstimmung für den Austritt aus der EU als insbesondere rassistisch motiviert, gibt es jetzt die Neigung, nur einen Rechtsschwenk in der Gesellschaft zu erkennen. Tatsächlich aber gibt es eine Polarisierung in der Gesellschaft. Auf jeden Trump kommt ein Sanders; auf jede Le Pen ein Mélenchon. In Großbritannien ist die Galionsfigur der linken Stimmung gegen das Establishment Jeremy Corbyn.
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, einen aktiven Wahlkampf führen, der an die Anti-Tory-Stimmung anknüpft. Lasst uns dafür sorgen, dass der Juni das Ende von May wird.
Foto: duncan c
Schlagwörter: Bewegungsfreiheit, Brexit, EU, Großbritannien, Labour, May, Neuwahl, NHS, Rassismus, Tories, Wahlkampf