Im Fall der NSU-2.0-Drohbriefe präsentieren die Ermittlungsbehörden einen Einzeltäter. Das greift zu kurz, erklärt Caro Keller von NSU-Watch im Interview.
marx21: Anfang Mai haben die Ermittlungsbehörden in Berlin einen Mann festgenommen, den sie verdächtigen, als NSU 2.0 gehandelt zu haben. Welche Aktivitäten lassen sich dem NSU 2.0 zuordnen?
Caro Keller: Dem NSU 2.0 lassen sich nach jetzigem Stand über 100 Drohschreiben zuordnen.
Was ist das besondere an diesen Drohschreiben?
Sie waren zum Teil mit persönlichen Daten der Bedrohten gespickt, die nicht öffentlich zugänglich waren, sondern nur bei der Polizei vorlagen. Drohschreiben kennt man ja, auch Drohschreiben, die persönlichen Bezug auf die Bedrohten nehmen und so tun, als ob die drohende Person etwas über die bedrohte Person wüsste. Aber im Fall des NSU 2.0 ging es um gesperrte Namen von Familienmitgliedern und Adressen.
Was kann man über die Empfängerinnen dieser Drohschreiben sagen?
Diejenigen, die das öffentlich gemacht haben, sind Frauen, die schon vorher bekannt waren. Darunter Politikerinnen wie zum Beispiel Janine Wissler und die Anwältin Seda Başay-Yıldız. Von dem Schreiben an sie hat die Öffentlichkeit Ende 2018 als erstes erfahren. Dazu kommt İdil Baydar als Comedian. Das sind alles Frauen, die sich explizit gegen Rechts einsetzen. Das heißt nicht, dass das alle Bedrohten sind, es kann auch sein, dass jemand das nicht öffentlich verhandelt haben möchte.
Von welchem Zeitraum reden wir?
Vom ersten bekannten Drohschreiben bis zum letzten bekannten reicht die Zeitleiste von Mitte 2018 bis zur Festnahme Anfang Mai 2021. Ob mit dieser Festnahme alles zu Ende ist, werden wir sehen. Zwar macht der hessische Innenminister sehr mutige Ansagen, aber im Fall der Drohschreiben der »nationalsozialistischen Offensive« kam die nächste E-Mail schon ein paar Tage nach der Festnahme. Zu Einordnung könnte wichtig sein, dass Mitte 2018 der NSU-Prozess in München endete.
Wie wahrscheinlich ist es, dass der Festgenommene alleine gehandelt hat?
Es kommt immer darauf an, was man als alleine definiert. Es kann schon sein, dass er die Mails alleine geschrieben hat. Aber er hatte ein Umfeld, zum Beispiel bei PI- News, wo er offenbar kommentiert hat. Da war er schon mal nicht alleine. Die Bedrohten sind ja keine zufälligen Ziele. Wir kennen das aus der extremen Rechten, dass Menschen zum Beispiel in Foren markiert werden, die später von anderen angegriffen werden. Und dann geht es um den Kern der Sache: die Daten der Betroffenen.
Woher kamen die Daten?
Es gibt mehrere Annahmen, für die es noch keine Beweise gibt. Entweder könnten Polizist:innen sie gezielt weitergegeben haben. Oder der Festgenommene hat bei der Polizei angerufen, sich als Polizist ausgegeben und sich diese Daten erschlichen. Je genauer man hinsieht, desto unwahrscheinlicher wird das, aber das werden wir sehen. Schließlich gibt es die Vermutung, dass solche Daten im Darknet weitergegeben worden sein könnten, wobei sie dazu auch erst von Polizeicomputern hätten abgerufen werden müssen.
Es muss also Kontakt zwischen der Polizei und dem Festgenommenen gegeben haben.
Es geht um mehr als Kontakt, es geht um die Polizei als Ermöglichungsstruktur für diese rechte Gewalt. Selbst wenn man sich vorstellt, er hätte in Frankfurt im 1. Revier angerufen, die Polizei manipuliert, und die hätten die Daten von Seda Başay-Yıldız herausgegeben, dann hieße das ja, dass dort spätestens Ende 2018 klar gewesen sein muss, dass die herausgegebenen Daten zur Bedrohung genutzt wurden. In dem Moment, wo man das nicht sagt, macht man sich zum Netzwerk. Dann macht man sich zu einer Struktur, die diese rechte Gewalt ermöglicht, weil man sie eher hätte stoppen können.
Wie ist vor diesem Hintergrund die Reaktion des hessischen Innenministers Beuth (CDU) zu bewerten, der Fall sei mit der Festnahme aufgeklärt?
Er zieht damit nicht nur den Schluss, dass es ein Einzeltäter war, was schon sehr viel ist, sondern er sagte sofort nach der Festnahme, dass die Polizei damit nichts zu tun hat. Das ist für mich das momentan Bemerkenswerteste an dieser Festnahme. Beuth versucht offensiv ein Narrativ in den Vordergrund zu stellen, das einfach eine Behauptung ist. Er hofft natürlich, seinen Job zu sichern und die Polizei aus den Ermittlungen herauszuhalten. Aber es gibt noch keinerlei Belege für seine Annahme.
Was wir hingegen sicher wissen, ist, dass es im 1. Revier in Frankfurt, aber auch in anderen Revieren in Hessen, rechte Chat-Gruppen und eine Vernetzung mit Neonazis gab. Soll das einfach zufällig neben dem NSU 2.0 stehen? Wir haben es hier mit einer Kommunikationsstrategie des Innenministers zu tun, der behauptet, dass die Behörden alles richtig gemacht hätten. Das kennen wir schon aus Hessen. So wurde auch nach der Festnahme von Stephan Ernst nach dem Mord an Walter Lübcke und nach dem rassistischen Anschlag von Hanau argumentiert. Aus der Sicht des hessischen Innenministers ist das sehr schlau, denn er bestimmt die öffentliche Wahrnehmung, an der man sich jetzt abarbeiten muss.
Wie ist der Bezug auf den ursprünglichen NSU zu bewerten?
Allein durch den Namen schließt man an dessen Mordserie an. Dazu kommt, dass sich viele der Betroffenen explizit mit dem NSU auseinandergesetzt haben. Angefangen bei Seda Başay-Yıldız als Vertreterin der Nebenklage im NSU-Prozess. Dazu Martina Renner als Abgeordnete im NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen und Janine Wissler im NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen. Das heißt, dass jemand den NSU gut fand und mit seinen Mitteln fortsetzen wollte.
Man könnte sich fragen, ob es direkte Verbindungen gibt, weil der NSU auch in Hessen aktiv gewesen ist.
Der Verdächtige kommt zwar aus in Berlin, aber auch in Berlin hatte der NSU Verbindungen, die bis heute total unterbeleuchtet sind. Zudem stammt er aus einer ähnlichen Generation. Insofern ist das ein interessanter Punkt, an dem man dran bleiben muss. Aber mit dem offenen Bezug auf den NSU ist eigentlich schon alles gesagt.
In Prozess gegen den ursprünglichen NSU spielte die Aufklärung des weiteren Netzwerkes keine Rolle. Die Aufklärung des NSU 2.0 droht ebenso im Sande zu verlaufen. Wie ist dieses Desinteresse des Staates an der Aufklärung rechter Netzwerke zu erklären?
Das könnte unterschiedliche Gründe haben. Zum einen geht es wohl darum, Ruhe im eigenen Laden zu haben. Wenn man Beamte bei Gericht aussagen hört, dann merkt man schnell, dass sie an den eigenen Schreibtisch denken und Verfahren möglichst klein halten möchten. Zum anderen macht sich wohl der Selbsterhaltungstrieb der Behörden bemerkbar. Wenn man alle rechten Terrorkomplexe komplett aufklärte, bliebe kaum ein Stein auf dem anderen. Was würde es denn bedeuten, Nordkreuz komplett aufzuklären? Was würde es bedeuten, in das Netzwerk von Franco A. reinzugehen? In das Netzwerk des NSU, das Netzwerk der Lübcke-Mörder? Das würde sehr viel in Bewegung setzen. Im Ergebnis müsste mindestens der Verfassungsschutz abgeschafft werden. Das gleiche gilt ja auch für die gesellschaftliche Aufarbeitung.
Was meinst Du damit?
Den Komplex des rechten Terrors aufzuarbeiten, hieße als Gesellschaft Rassismus und rechte Ideologie herauszufordern und völlig zurückzudrängen. Das ist ja auch kaum passiert. Nehmen wir nur die mediale Berichterstattung. Da gibt es ein massives Rassismusproblem und ein massives Problem mit rechter Ideologie. Wie wird in Deutschland über rechte Gewalt gesprochen? Wer wird als zugehörig erkannt und wer nicht? Mit wem wird Solidarität geübt und mit wem nicht? Eine richtige gesellschaftliche Einigung darauf, dass wir da ein Problem haben, gibt es nicht. Wir hoffen natürlich, dass sich das langsam verschiebt und dass man zukünftigen rechten Terror verhindern kann. Dazu ist Aufklärung der Netzwerke und der politischen Hintergründe der Schlüssel.
Wird NSU-Watch also auch den Prozess zum NSU 2.0 beobachten?
Ja. Es hat sich schon während des NSU-Prozesses gezeigt, dass es eine weitere Konjunktur an völkischer Mobilisierung in Deutschland gibt. Deswegen hat sich unsere Arbeit ausgeweitet. Wir haben auch schon den Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. und den Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle begleitet. Wir haben auch zum NSU 2.0 schon Statements veröffentlicht und wir werden sicher auch den Prozess beobachten.
Danke für das Gespräch.
Zur Person:
Caro Keller ist Redakteurin im antifaschistischen Bündnis NSU-Watch. NSU-Watch hat ein Buch über den NSU-Prozess in München herausgegeben.
Die Fragen stellte Jan Maas.
Foto: Demonstration in Hamburg anlässlich des Endes des NSU-Prozesses in München 2018 (Rasande Tyskar CC BY-NC 2.0)
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