Damit die Klimabewegung gewinnen kann, muss sie sich auch auf die Macht der Beschäftigten stützen. Warum die bundesweite Tarifbewegung 2020 im ÖPNV die ideale Gelegenheit dazu ist, erklärt Mira Ball von ver.di
Mira Ball ist Leiterin der Fachgruppe Busse und Bahnen bei ver.di im Fachbereich Verkehr.
Ein gemeinsames Vorgehen in diesem Umfang hat es im ÖPNV seit über zwei Jahrzehnten nicht gegeben
marx21: Im Juni haben 110 Betriebs- und Personalräte aus Nahverkehrsunternehmen die »Kasseler Erklärung« zu Klimaschutz und Arbeitsbedingungen verabschiedet. Worum geht es dabei?
Mira Ball: Die Kasseler Erklärung haben wir auf unserer Betriebs- und Personalrätekonferenz verabschiedet, weil die Kolleginnen und Kollegen zunehmend das Gefühl haben, dass die politische Diskussion über den ÖPNV als Mittel zur Senkung der CO2-Emissionen eine Scheindebatte ist.
Warum das?
Einerseits häufen sich Verlautbarungen, insbesondere aus der Bundespolitik, wie die Ankündigung von Modellprojekten zum kostenlosen ÖPNV oder die Forderung, alle Busflotten zu elektrifizieren. Andererseits geht man überhaupt nicht auf die Situation in den Betrieben und die Lage der Beschäftigten ein.
Spardiktat und Arbeitsverdichtung
Was ist das Problem?
Der ÖPNV ist kommunale Aufgabe und seit der Öffnung des europäischen Marktes vor über 15 Jahren einem rigiden Spardiktat unterworfen. Da ein großer Teil der Betriebsanlagen und Gleisanlagen aus den 1970er und 80er Jahren stammt, ist ein Sanierungsstau von etwa 6 Milliarden Euro entstanden. Zugleich haben sich Bund und Länder aus der Finanzierung zurückgezogen. Die Unterfinanzierung ist ein Thema, auf das ver.di und die Betriebs- und Personalräte seit Jahren öffentlich hinweisen. Zudem ist natürlich beim Personal gespart worden. Während die Anzahl der Fahrgäste seit dem Jahr 2000 um 24 Prozent gestiegen ist, arbeiten nun 18 Prozent weniger Beschäftigte im ÖPNV.
Das klingt dramatisch. Wie wirkt sich das aus?
Die Folge ist massive Arbeitsverdichtung, hohe Belastungen und Stress. Betroffen sind alle Bereiche: Verwaltung und Service, Werkstätten, Infrastruktur und in besonderem Maße der Fahrdienst. Der Altersdurchschnitt beträgt aufgrund jahrelanger Einstellungsstopps 50 Jahre. Bis 2030 muss ein Generationenwechsel geschafft werden, die Hälfte der heute Beschäftigten wird in Rente gehen. Will man nur den Status Quo halten, müssten also 74.000 neue Beschäftigte ausgebildet, qualifiziert und eingestellt werden.
Klimaschutz und kostenloser ÖPNV
Wie hängt all das mit der Frage des Klimaschutzes zusammen?
Mit der »Kasseler Erklärung« machen die Betriebs- und Personalräte klar, dass der ÖPNV einen ganz bedeutenden Anteil an der notwendigen Reduzierung der CO2–Emissionen haben muss. Damit der ÖPNV Teil der Lösung sein kann, müssen jedoch auch die bestehenden Probleme ernsthaft angegangen werden. Wir brauchen Investitionen in die Infrastruktur und neue Fahrzeuge, einen ernst gemeinten Ausbau und vor allem eine solide Finanzierung des Betriebes sowie wieder deutlich mehr Geld für das Personal. Solange das nicht Teil der politischen Debatte ist, sind alle Anforderungen und Ankündigungen das Papier nicht wert auf dem sie stehen.
Eine Forderung, die in der Klimabewegung diskutiert wird, ist ein kostenloser ÖPNV, um den Umstieg vom Auto attraktiver zu machen. Wie seht ihr das als Gewerkschaft?
Wir glauben, dass ein Ausbau des ÖPNV viel mehr zu seiner Attraktivität beitragen könnte als Preissenkungen. Das wäre ohnehin Voraussetzung, wenn ein kostenloser ÖPNV tatsächlich zum Umstieg vom Auto führen soll. Der ÖPNV wird aber oft als unattraktiv wahrgenommen, weil er schon heute überfüllt ist oder das Angebot nicht reicht. Der Autoverkehr wird dagegen nach wie vor gefördert und in keiner Weise zu Gunsten des ÖPNVs eingeschränkt.
Also seid ihr gegen einen kostenlosen ÖPNV?
Nein, unsere Mitglieder haben auf dem Bundeskongress im September einen Antrag für einen kostenlosen ÖPNV verabschiedet, jedoch unter den notwendigen Voraussetzungen: Die Gegenfinanzierung der Ticketeinnahmen von jährlich 13 Milliarden muss gewährleistet sein, diese Maßnahmen dürfen nicht zulasten der Beschäftigten gehen und ein Ausbau ist notwendig.
ÖPNV: Konzerne sollen zahlen
Wo soll das Geld für den Ausbau des ÖPNV herkommen, wenn gleichzeitig die Fahrpreise sinken sollen oder sogar der Nulltarif das Ziel ist?
Die Frage der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs stellt sich schon heute, denn die Fahrgeldeinnahmen decken die Kosten nur zu etwa 50 Prozent. In den vergangenen Jahren sind die Preise kontinuierlich gestiegen, die öffentliche Hand hat sich dagegen aus der Finanzierung immer mehr zurückgezogen. Dabei muss man sich klarmachen, dass die Hauptlast bei den Kommunen liegt, die auch für die Infrastruktur zuständig sind. Viele Kommunen sind schon heute nicht in der Lage, diese finanzielle Belastung zu stemmen.
Was fordert ver.di?
Der öffentliche Nahverkehr braucht eine solide und verlässliche Finanzierung. ver.di tritt für eine solidarische Finanzierung ein. Auch die Nutznießer müssen beteiligt werden.
Also sollen doch die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen?
Nein, die Nutznießer, das sind in unseren Augen in erster Linie Unternehmen, Handel und Veranstalter, die von der öffentlichen Verkehrsanbindung profitieren. Ein gutes Beispiel ist da Frankreich: Eine Unternehmensabgabe und durch Arbeitgeber geförderte Jobtickets haben es den Kommunen in den vergangenen zwanzig Jahren ermöglicht, den ÖPNV deutlich auszubauen und auch die Fahrpreise zu senken, teilweise sogar den Nulltarif einzuführen.
Bundesweite Tarifbewegung im Nahverkehr
Im Juni 2020 werden nun bundesweit alle Tarifverträge im Nahverkehr gekündigt und neu verhandelt. Damit ist es ver.di gelungen, aus einem Flickenteppich mit unterschiedlichen Laufzeiten eine Vereinheitlichung zu erreichen, um bundesweit koordiniert in Tarifverhandlungen zu treten. Welche Beschäftigten sind alles betroffen?
Die Tarifbewegung umfasst alle 87.900 Beschäftigten der öffentlichen Verkehrsunternehmen in allen 16 Bundesländern. Die Fahrerinnen und Fahrer stehen zwar besonders im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, aber in den Unternehmen arbeiten auch Zehntausende in Werkstätten, Verwaltung und Service. Sie alle zusammen befördern täglich über 13 Millionen Fahrgäste. Ein gemeinsames Vorgehen in diesem Umfang hat es im ÖPNV seit über zwei Jahrzehnten nicht gegeben.
Es soll nicht nur um mehr Geld, sondern auch um wesentliche Entlastungen für die Beschäftigten im ÖPNV gehen. Was sind eure Forderungen?
Die Forderungen von ver.di sind die Forderungen unserer Mitglieder. Im November starten dazu die betrieblichen Diskussionen. Daher kann ich noch nicht so konkret werden. Aber wir bereiten uns ja schon länger auf diese gemeinsame Auseinandersetzung vor und da gab es schon viele Diskussionen über die Inhalte, die zu bewegen sind.
Paradigmenwechsel im ÖPNV
Kannst du uns einen Einblick geben, was die Hauptprobleme sind?
Die Probleme sind überall die gleichen: Die Belastung ist zu hoch und insbesondere die Vergütung dieser besonderen Belastungen ist nicht ausreichend. Unter dem Privatisierungsdruck der 2000er Jahre mussten die Kolleginnen und Kollegen für die Beschäftigungssicherung außerdem Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und in einigen Bundesländern auch der Vergütung für Neueingestellte hinnehmen.
Das soll sich jetzt ändern?
Das wird nicht mehr akzeptiert. Außerdem haben sich die Tarifverträge stark auseinanderentwickelt, selbst in der Länge der wöchentlichen Arbeitszeit oder der Anzahl der Urlaubstage gibt es Unterschiede. Die Beschäftigten wollen ein Ende der Ungleichbehandlung und bundesweit gleiche Bedingungen – natürlich auf dem höchsten Niveau.
Das klingt entschlossen.
Wir gehen in diese Tarifauseinandersetzung mit dem Anspruch eines Paradigmenwechsels. Das Sparen muss ein Ende haben, wir brauchen Investitionen für das Personal. Die Belastung muss begrenzt, die Leistung angemessen honoriert und Ungerechtigkeiten beseitigt werden.
Prekäre Arbeitsbedingungen
Wie sieht der Arbeitsalltag der Bus-, U- und Straßenbahn-Fahrerinnen und -Fahrer aus und wie hat er sich in den letzten Jahren verändert?
Die Fahrerinnen und Fahrer sehen sich aufgrund des Schichtdienstes und der Abhängigkeit von den Fahrplänen besonderen Belastungen gegenüber. Ihre Arbeitszeiten richten sich nach den Zeiten, zu denen öffentlicher Nahverkehr angeboten wird, sie sind je nach Verkehrsgebiet an 24 Stunden an allen Wochentagen im Einsatz. Entsprechend häufig arbeiten sie am Wochenende und nachts, höchstens 15 freie Sonntage im Jahr sind die Regel. Da ein Dienst zu jeder Tages-und Nachtzeit beginnen kann, stellen ein regelmäßiger Schlafrhythmus und die Organisation des Familienlebens eine besondere Herausforderung dar. Für den Fahrdienst sind außerdem kürzere tägliche Mindestruhezeiten erlaubt als für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in anderen Tätigkeiten. Durch fahrplanbedingte Fahrtunterbrechungen ergeben sich Dienste bis zu zwölf Stunden.
Zwölf Stunden hinter dem Steuer?
Zwölf Stunden Dienst, denn in der Schicht liegen fahrplanbedingte Unterbrechungen, die nicht bezahlt werden. Auch Wegezeiten zur Übernahme eines Fahrzeugs auf der Strecke werden in vielen Unternehmen nicht bezahlt.
Wie sieht es mit gesetzlichen Pausen aus?
Pausen können auf Kurzpausen von mindestens 8 Minuten aufgeteilt werden. Durch Verspätungen und zu enge Taktung im Fahrplan fallen diese jedoch oft aus. Es fehlt die Zeit zur notwendigen Erholung und auch der Gang zur Toilette ist nicht möglich.
Personalmangel und Überstunden
Das klingt furchtbar.
Die dünne Personaldecke führt zudem regelmäßig zum Aufbau von Überstunden. Da die Vermeidung von Fahrtausfällen höchste Priorität hat, werden Fahrerinnen und Fahrer nicht selten an einem freien Tag zur Arbeit gerufen. Damit wird die Planbarkeit des privaten Lebens zusätzlich erschwert. Der in der Vergangenheit übliche Einsatz von bezahlten Reservediensten wird aus Kostengründen nur noch selten praktiziert.
Betreffen die Kürzungen vor allem den Fahrdienst?
Der Personalabbau führte auch in Werkstätten, Infrastruktur, Verwaltung und Service zu erhöhten Belastungen. 2014 haben wir eine Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit für den ÖPNV gemacht. Schon damals gaben 40 Prozent der Beschäftigten in Werkstätten und Instandhaltung an, regelmäßig wöchentlich bis zu 4 Stunden über ihre vereinbarte Arbeitszeit hinaus zu arbeiten, fünf bis neun Stunden mehr arbeiten 16 Prozent. In den Verwaltungen arbeiten 45 Prozent der Beschäftigten regelmäßig bis zu 4 Stunden mehr und 15 Prozent zwischen fünf und neun Stunden mehr. Damit fallen bei 60 Prozent der Beschäftigten regelmäßig Überstunden an.
Um diese Zustände abzustellen, benötigt die Branche deutlich mehr Personal. Werden die Arbeitsbedingungen nicht deutlich verbessert, wird es kaum möglich sein, neue Beschäftigte zu gewinnen und zu halten.
Streiken für das Klima
Sollen klimapolitische Forderungen auch direkt in der Tarifkampagne aufgegriffen werden?
Der öffentliche Nahverkehr ist ein wesentlicher Teil der Lösung für eine lebenswerte Zukunft, sowohl klimapolitisch als auch sozial und gesellschaftspolitisch. Unsere Mitglieder sind absolut überzeugt davon, dass sie eine gesellschaftlich bedeutende Tätigkeit ausüben. Die Identifikation mit ihrem Beruf ist hoch und sie wünschen sich natürlich auch die entsprechende Wertschätzung.
Was heißt das bezogen auf eure klimapolitischen Ziele?
Wir nehmen die öffentlichen Verlautbarungen der Politik zur Bedeutung des ÖPNV beim Wort und werden das auch einfordern. Wir suchen natürlich auch den Kontakt zu den klimapolitisch aktiven Menschen. Kolleginnen und Kollegen aus dem ÖPNV haben sich auch am Klimastreik am 20. September beteiligt, zum Beispiel in Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Essen.
Rechnet ihr damit, dass es im Rahmen eurer Tarifrunde zu Streiks kommen wird?
Im ÖPNV sind wir streikerprobt und haben in den vergangenen Jahren auch in fast jeder Tarifauseinandersetzung streiken müssen. Nächstes Jahr haben wir großes vor und sollte ein Streik notwendig sein, sind wir in jedem Fall bereit dafür.
Solidarität der Fahrgäste
Das klingt zuversichtlich.
Ob es zu Streiks kommt, ist vor allem auch eine Frage, die die Politik beantworten muss. Es ist derzeit nicht erkennbar, dass das enge finanzielle Korsett für die öffentlichen Unternehmen gelockert wird. Auch die Kommunen können die Herausforderungen, die vor uns liegen, nicht alle selbst bewältigen. Hier müssen in den Ländern und im Bund neue politische Lösungen zur Finanzierung gefunden werden. Wir hoffen, dass den Verantwortlichen bewusst wird, welche Dimension eine Tarifrunde hat, in der weit über die Hälfte der Beschäftigten im ÖPNV zur gleichen Zeit in den Streik gehen würde.
Die Interessen von Nutzern und Beschäftigten im ÖPNV sind in vielerlei Hinsicht identisch. Das bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte. Wie wollt ihr die Bevölkerung in eure Tarifbewegung einbinden?
Die Fahrgäste sind direkt davon betroffen, ob der Mensch hinterm Steuer ausgeschlafen und ohne finanzielle Sorgen unterwegs ist oder ob er sich übernächtigt Gedanken um die Bezahlung der kaputten Waschmaschine macht. Vielen ist das bewusst und wir haben in den vergangenen Jahren auch gemerkt, dass das Verständnis bei Streiks generell gestiegen ist. Das ist aber kein Selbstläufer. Wir müssen auch transparent machen, worum es geht, wo wir stehen und die Öffentlichkeit mitnehmen. Das gilt für die ganze Zeit der Auseinandersetzung.
Gibt es positive Erfahrungen in dieser Hinsicht?
Ja, wir haben im Kampf um einen Tarifvertrag bei den privaten Busunternehmen im Saarland sehr gute Erfahrungen mit einem engen Kontakt mit Schülervertretungen und Elternbeiräten gemacht. Wir planen auch für die Kampagne TV-N 2020 frühzeitig Kontakte zu allen zu knüpfen, denen der ÖPNV am Herzen liegt.
Klimaschutz und Klassenkampf
Die Tarifrunde wird versuchen, Klima- und Klassenpolitik sowie die öffentliche Daseinsvorsorge miteinander zu verbinden. Wie können Klimaaktivistinnen und -aktivisten eure Tarifbewegung unterstützen?
Mit Fridays for Future haben wir uns schon vor einiger Zeit getroffen und derzeit bauen wir die Kontakte auch in den Städten und Regionen aus. Denn da geht es ja ganz konkret um die Frage, wie wir uns Mobilität der Zukunft vorstellen, wie lebenswerte Städte und Dörfer aussehen.
Was sind eure bisherigen Erfahrungen?
Wir merken dabei, wie wichtig es ist, sich erst einmal auszutauschen und sich nicht nur von außen zu beäugen. So haben die Kolleginnen und Kollegen im ÖPNV aus ihren vergangenen Erfahrungen große Angst, dass die Forderung nach kostenlosem ÖPNV dazu führt, dass man weiter beim Personal spart. Daraus entstehen Vorbehalte. Dabei sind die ganz einfach aufzulösen, wie die Students for Future es zum Beispiel am 20. September in Leipzig gezeigt haben.
Was haben sie gemacht?
Sie haben unter dem Motto »Klima schützen heißt ÖPNV unterstützen« auch das Thema gute Arbeitsbedingungen aufgenommen und die Voraussetzungen für kostenlosen ÖPNV klar benannt. Am Tag des Klimastreiks sind sie in die Busse und Straßenbahnen gegangen und haben den Fahrerinnen und Fahrern für ihren Beitrag zum Klimaschutz gedankt. Das kam irre gut an. Genauso wie die Rede von Fridays for Future auf dem ver.di-Bundeskongress im September. Und gerade angesichts der Enttäuschungen des Klimapakets, das weder Anreize zum Umstieg in den ÖPNV noch ernsthafte Lösungen für die aktuellen Probleme im Nahverkehr beinhaltet, werden wir gemeinsam an diesem Thema weiterarbeiten. Es geht um unsere gemeinsame Zukunft, wie wir leben und arbeiten wollen. Das ist nicht zu trennen.
Das Interview führte Martin Haller.
Schlagwörter: Gewerkschaft, Klima, Streik, Verkehr, Verkehrswende