Oskar Lafontaine behauptet, dass die Forderung nach offenen Grenzen eine Forderung der »oberen Zehntausend« sei – also der herrschenden Klassen und des Kapitals. Doch stimmt das wirklich? marx21 wirft einen Blick auf die Geschichte der deutschen Einwanderungspolitik
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Oskar Lafontaine argumentiert, dass nur die Kapitalisten ein Interesse an offenen Grenzen für die Lohnabhängigen hätten, weil sie auf diese Weise die Löhne der einheimischen Arbeiter senken können. Die Position der LINKEN zu offenen Grenzen sei deswegen falsch und weltfremd. In der Sächsischen Zeitung warnte Oskar Lafontaine am 20. Februar 2018 davor, dass »sich in der Linkspartei die Philosophie der multinationalen Konzerne, des No-border-nonation-Neoliberalismus, durchsetzt.« In einem Interview mit der Welt (6. Februar 2017) zitierte Lafontaine den britischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch zustimmend mit der Feststellung, »dass der Ruf nach offenen Grenzen eine zentrale Forderung des Neoliberalismus« sei, also mitnichten links. Der »freizügige Personenverkehr« liege ebenso im Unternehmer-Interessen wie der grenzenlose Kapitalverkehr und der Freihandel.
Sind Kapitalisten für offene Grenzen?
Aber stimmt das eigentlich? Gibt es einen qualitativen Unterschied der aktuellen »neoliberalen« Einwanderungspolitik im Vergleich zu anderen Epochen? Um die Frage zu beantworten lohnt ein Blick in die Geschichte. Um es vorneweg zu sagen: Seit Bestehen des deutschen Reiches 1871 gibt es keine historische Epoche, in der die Eliten für offene Grenzen eingetreten sind, noch diese Position in Gesetzen oder Verordnungen praktiziert haben. Das gilt für das Kaiserreich (1871-1918), die Weimarer Republik (1919-1933), das »Dritte Reich« (1933-1945), die BRD (1949-1989), die DDR (1949-1989) und das wiedervereinigte Deutschland (1990-2018).
Die Erklärung dieser Entwicklung ist einfach: Die bevorzugte Form der Einwanderung für das Kapital ist seit jeher eine den konjunkturellen Schwankungen der Ökonomie angepasste Migration. Dabei hat das Kapital stets ein Interesse an einem Überangebot an Arbeitskräften – einer »industriellen Reservearmee«, wie Marx es nannte –, um die Konkurrenz zu erhöhen und so die Löhne insgesamt zu drücken. Migrantinnen und Migranten sind hierfür deshalb besonders attraktiv, weil sie nach Bedarf abrufbar und rückführbar sind, sie nicht integriert sondern segregiert (ausgegrenzt) werden können und gegen sie oft zeitgleich rassistische Stimmungen zur Spaltung der Arbeiterklasse geschürt werden können.
Im Zentrum der Einwanderungspolitik der führenden kapitalistischen Staaten stand deswegen nie das Ziel von offenen Grenzen und Bleiberecht für alle. Im Gegenteil: Die herrschenden Klassen wollen die Migration kontrollieren, um sie für ihre wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Landes nutzbar zumachen. Deutschland war, mit den USA, Vorreiter in der Entwicklung solcher Grenzregime.
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Offene Grenzen im Kaiserreich?
Im deutschen Kaiserreich wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg die Grenzen dicht gemacht und ein repressives System von Einwanderungskontrollen eingeführt: Das »Modell Saisonarbeit«. In seinem Buch »Normalfall Migration« schreibt der Autor Klaus J. Bade: »Es ging darum, den nötigen Arbeitskräftezustrom aus dem östlichen Ausland nicht zur Einwanderung geraten zu lassen, sondern in den Bahnen transnationaler Saisonwanderung zu halten und dabei insbesondere die Auslandspolen scharf zu überwachen.« Ergebnis war das seit Anfang der 1890er-Jahre in Preußen entwickelte und 1907 abgeschlossene System der restriktiven Ausländerkontrolle mit dem »Legitimationszwang« und dem »Rückkehrzwang« in der winterlichen »Karenzzeit«. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutete es, dass sie als ausländische Arbeitskräfte eine »Legitimationskarte« besitzen mussten. Diese waren auf ein Jahr befristet und galten nur für einen Arbeitgeber. Wurden Beschäftigte »kontraktbrüchig«, drohte den Menschen die Ausweisung und der Eintrag in eine Fahndungsliste. Diese Politik entsprach dem saisonalen Arbeitskräftebedarf der Gutsherren und wurde auch mit Polizeigewalt durchgesetzt: 1906 blieben nur 7 Prozent der Beschäftigten ganzjährig in Preußen.
Das preußische Modell
Der Kern des preußischen Modells war das »Rotationsprinzip«. In dem Buch »Die ungewollte Einwanderung. Rotationsprinzip und Rückkehrerwartung in der deutschen Ausländerpolitik« beschreibt Cord Pagenstecher, das Ziel dahinter: »Es [Das Rotationsprinzip] beruht auf der Annahme, dass zwar die Anwesenheit einer ‚industriellen Reservearmee‘ zeitweise nötig ist, diese aber aus immer wieder neu rotierenden ‚Gastarbeitern‘ bestehen kann; die einzelnen Zugewanderten sind auf ihren Arbeitsplätzen ersetzbar. Je nach Konjunktur kann das Aufnahmeland ihre Zahl beliebig vergrößern oder verkleinern und verfügt damit über einen flexiblen Konjunkturpuffer. Zudem immigrieren immer nur Arbeitskräfte ohne ihre Familien; diese – und mit ihnen die direkten und indirekten Reproduktionskosten – verbleiben im Herkunftsland.«
Der Leipziger Wirtschaftshistoriker Wilhelm Stieda (1852-1933) hatte die Position der Unternehmer in Fragen der Migrationspolitik folgendermaßen zusammengefasst: »Die Ausländer sind zufrieden und gefügiger als die deutschen Arbeitskameraden. Kriegen sie einmal Lust, sich ebenfalls an Arbeitseinstellungen zu beteiligen, so werden sie als lästige Ausländer über die Grenze geschoben.« 1913 tritt das neue geschaffene Staatsbürgerschaftsrecht in Kraft. Der Historikers Ulrich Herbert beschreibt in seinem Buch »Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland« das Gesetzt als »eine Melange aus Staatsräson und Nationalismus, Rassismus und wirtschaftlichen Interessen, Antisemitismus und sozialem Dünkel.«
Offene Grenzen in der Weimarer Republik?
Auch in der Weimarer Republik schränkte die Herrschende Klasse die Mobilität von ausländischen Arbeitskräfte ein: Ihre Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis waren stets nur ein Jahr gültig. Seit 1924 kam hinzu, dass den Landesarbeitsämtern nur eine bestimmte Höchstzahl an ausländischen Arbeitskräften zur Verfügung stand, die sie auf die landwirtschaftlichen Betriebe verteilen durften. Die gesamte Migrationspolitik der Weimarer Republik war gekennzeichnet durch stark antipolnische und antisemitische Kampagnen der konservativen und nationalsozialistischen Rechten. Die wirtschaftlich herrschenden Eliten trugen diesen tendenziell rassistischen Charakter der Migrationspolitik mit, weil sie sich davon eine Spaltung der unterdrückten Klassen erhofften.
Das »Dritten Reich« und die industriellen Reservearmee
Im »Dritten Reich« blieb die herrschende Klasse dieser Politik treu. Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, dass die Zwangs- und Sklavenarbeit von Millionen Menschen aus allen von der Wehrmacht besetzten Gebieten Europas in der deutschen Wirtschaft während des Kriegs der These der Mobilisierung einer völlig rechtlosen industriellen Reservearmee außerhalb der eigenen Staatsgrenzen nicht widerspricht, sondern diese nur auf die Spitze treibt. Die gewöhnliche Rechtlosigkeit dieser ausländischen Reservearmee des Kapitals ist in eine außergewöhnliche Form der Sklavenarbeit umgeschlagen. Die 10 Millionen im Krieg eingesetzten deutschen Männer wurden durch etwa ebenso viele ausländische Zwangsarbeiter ersetzt. Zu Beginn des Kriegs gab es in »Dritten Reich« etwa 350.000 ausländische Arbeiter. Sie unterstanden der »Ausländerpolizeiverordnung« aus dem Jahr 1938, die im ersten Paragraphen von den in Deutschland lebenden Ausländern verlangte, sich des ihnen gewährten Gastrechts würdig zu erweisen und die jederzeitige und sofortige Ausweisung als Fallbeil vorsah. Der Begriff der Fremdarbeiter ist zwar älter als das Millionenheer von Arbeitssklaven im »Dritten Reich«, aber im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch wird diese Epoche der Ausländerbeschäftigung in Deutschland damit identifiziert.
Offene Grenzen im Nachkriegsdeutschland?
In der Nachkriegszeit bildeten 13,7 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten eine noch größere Reservearmee an durchschnittlich gut ausgebildeten Menschen. Aus diesem Reservoir wurden nicht nur die 5 Millionen männliche deutschen Kriegstote im berufsfähigen Alter ersetzt, sondern die vier Millionen zusätzlichen Erwerbstätigen, um die im ersten Jahrzehnt der BRD die Zahl der Erwerbstätigen anstieg. Bis Mitte der 1950er Jahre war diese Reserve durch den Nachkriegsboom der deutschen Wirtschaft mehr oder weniger vollständig aufgesogen. Als dann auch der Strom der gut ausgebildeten Fachkräfte aus der DDR durch den Bau der Berliner Mauer 1961 gestoppt wurde, griffen die deutschen Unternehmer auf »Gastarbeiter« zurück.
Auch hier waren nicht »Offene Grenzen« das Credo. Im Gegenteil: Die rechtliche Grundlage war bis 1965 die weiter gültige »Ausländerpolizeiverordnung« des Jahres 1938 und die »Verordnung über ausländische Arbeitnehmer« von 1933. Die zur Arbeitsaufnahme erforderliche Aufenthaltsgenehmigung war danach grundsätzlich an eine zuvor erteilte Arbeitsgenehmigung geknüpft. Die Arbeitsgenehmigung wurde in der Regel für ein Jahr ausgesprochen und auf einen Unternehmer begrenzt. Eine ständige Niederlassung in Deutschland wurde von den Gerichten als Verstoß gegen die geltenden Bestimmungen gewertet. Den betriebswirtschaftlichen Vorteil der ausländischen Arbeitskräfte formuliert offenherzig ein Papier der Arbeitgeber aus dieser Zeit: »Der bei uns arbeitende Ausländer stellt in der Regel die Arbeitskraft seiner besten Jahre zur Verfügung: Für die Betriebe ergibt sich daraus der Vorteil, dass nur in seltenen Fällen ein älterer oder nicht mehr voll arbeitsfähiger ausländischer Mitarbeiter aus sozialen Gründen mit durchgezogen werden muss«. Auch die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sieht den wesentlichen Vorteil der »Ausländerbeschäftigung« darin, dass »bei eventueller Arbeitslosigkeit in Deutschland die ausländischen Arbeiter wieder zurückgeschickt werden können.«
In den 1950er und 1960er Jahren reisten insgesamt 14 Millionen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Westdeutschland ein und 11 Millionen im Sinne des ursprünglich angestrebten Rotationsmodells wieder aus. 1965 trat dann ein neues Ausländergesetz in Westdeutschland Kraft, das durch ein rigides Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisrecht für Ausländer aus Nicht-EWG-Staaten gekennzeichnet war. Ziel dieser strikten Einwanderungsbeschränkungen war es, die »Befestigung« des Aufenthaltsstatus in ein Dauerrecht zu verhindern. Offene Grenzen und Bleiberecht für alle sehen anders aus.
Der Aufstieg des Neoliberalismus und offene Grenzen
Auch mit dem Aufstieg des Neoliberalismus Mitte der 1970er Jahre hat sich diese Politik nicht grundlegend verändert. Obwohl sich der Neoliberalismus als Ideologie gegen Staatseingriffe stellt, hing die praktische Durchführung dieser Politik immer vom Staat ab – so auch in der Migrationspolitik. Oskar Lafontaine wähnt sich mit seiner Ablehnung der Forderung nach offenen Grenzen in Opposition zum Kapital und den neoliberalen Parteien. Doch das Gegenteil ist der Fall: Denn auch er will, genauso wie die Unternehmer, eine Begrenzung der Zuwanderung erreichen. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland RND sagte er: »Da eine Gesellschaft ebenso wie jeder einzelne Mensch nur in begrenztem Umfang helfen kann, kommt auch die Linke an einer Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung nicht vorbei.«
Genau diese Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung hat die Bundesregierung im Interesse des Kapitals in den letzten Jahrzehnten umgesetzt. Die Grenzkontrollen, Einwanderungsbestimmungen und Asylgesetzgebung formen die Migrationsregime der einzelnen kapitalistischen Staaten. Diese sind jedoch im neoliberalen Zeitalter ein Mechanismus, um die Migration im Interesse der Wirtschaft besser steuern zu können und die Ausbeutung von einheimischen und ausländischen Lohnabhängigen zu erleichtern. Ausgangspunkt heute sind hierfür die niedrigen Arbeitslosenzahlen und der Mangel an Fachkräften in der Bundesrepublik – und nicht das Elend der Flüchtlinge. Wirtschaftsverbände und Bundesregierung möchten ein System etablieren, das ihren Interessen nach Arbeitskräften entspricht. In diesem Zusammenhang sind auch die Forderungen von Präsident Hans-Werner Sinn nach Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge zu verstehen. Hier zeigt das Bürgertum sein Menschenbild: Kommen kann, wer nützlich ist. Nützlich für die Kapitalakkumulation, versteht sich. Zudem sind billige Arbeitskräfte ein brauchbares Instrument, um Belegschaften zu spalten und zu erpressen. Genau deshalb stellt sich das Kapital vehement gegen die Forderung nach offenen Grenzen und einem Bleiberecht für alle.
Die Position der LINKEN
Linke sollten entschieden gegen das Bild von »guten« und »schlechten«, von »echten« und »falschen« Flüchtlingen auftreten. Um Geflüchtete vor Lohndumping zu schützen, brauchen sie die gleichen Rechte wie die Einheimischen. Die Forderungen der LINKEN den Mindestlohn zu verteidigt, eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.050 Euro statt Hartz IV für alle einzuführen ist der richtige Weg. Die derzeitige Debatte über die angeblichen Grenzen der Aufnahmekapazitäten in Deutschland, soll von der tatsächlich seit Jahren stattfinden Ausplünderung der öffentlichen Haushalte durch die Eliten ablenken. Die Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge ist tatsächlich bedroht – allerdings nicht durch Geflüchtete, sondern durch Reiche, Konzerne und ihre Regierungen. DIE LINKE fordert zu recht, jetzt massiv in Sozialwohnungen, Schulen, Kitas und Krankenhäuser sowie in Studien- und Arbeitsplätze zu investieren. Das ist die richtige Antwort auf die rechte Hetze und die heuchlerische Politik der Bundesregierung.
Die Linke und die Einwanderung
Die Diskussion darüber, wie Linke sich zur Frage von offenen Grenzen und Einwanderung positionieren sollten, ist übrigens nicht neu. Schon 1907 stritten auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart Sozialistinnen und Sozialisten über ihre Haltung zur Einwanderung. Die Debatten von damals sind auch heute noch von Bedeutung: Auf dem Kongress versammelten sich 884 Delegierte aus 25 Ländern Europas, Asiens, Amerikas, Australiens und Afrikas. Unter den Delegierten befanden sich bekannte Sozialistinnen und Sozialisten wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, August Bebel, Jean Jaurès und Wladimir Iljitsch Lenin. Zur Eröffnung des Kongresses fand eine Massenkundgebung mit 50.000 Teilnehmern statt. Am Ende sprach sich der Kongress für die Abschaffung aller Beschränkungen aus, welche bestimmte Nationalitäten vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen.
Clara Zetkin, Karl Liebknecht und Karl Kautsky über offene Grenzen
Die deutsche Marxistin Clara Zetkin schrieb über die Beschlüsse von Stuttgart: »Der Kongress hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten…«.
In seinem Bericht auf dem Essener Parteitag der SPD 1907 fasste Karl Liebknecht die Beschlüsse zusammen: »Ich habe viel Gelegenheit, die Misere der Einwanderer in Deutschland und insbesondere ihre Abhängigkeit von der Polizei zu beobachten, und ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Leute zu kämpfen haben. Ihre Vogelfreiheit sollte gerade uns deutsche Sozialdemokraten besonders veranlassen, uns mit der Regelung des Fremdenrechtes, besonders der Beseitigung der Ausweisungsschmach schleunigst und energisch zu beschäftigen. Es ist ja bekannt, daß die gewerkschaftlich organisierten Ausländer mit Vorliebe ausgewiesen werden (…) Die Kongressresolution fordert also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein.«
In der theoretischen Zeitschrift der SPD »Die Neue Zeit« hieß es in einem Grundsatzartikel von Karl Kautsky zur Frage von Zuwanderung: »Durch Solidarität, durch Unterstützung der Zurückgebliebenen, nicht durch Exklusivität, durch Abschließung und Niederhaltung dieser kann ein vorgeschrittenes Proletariat sich behaupten. Wo es unter dem Einfluss kurzsichtiger Zünftlerei der letzteren Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichsten Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes.«
Eine globale Reserve-Armee der Arbeit
Diese Positionen sind auch heute noch richtig. Linke sollten sich darauf beziehen. Denn aus Menschen die fliehen, werden irgendwann Menschen die arbeiten. Historisch haben die imperialistischen Kernländern »ihre« Kolonien im Nahen Osten, Afrika aber auch in Südamerika, Osteuropa und Asien, als Quellen für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe ausgebeutet. Der Imperialismus hat in diesen Ländern eine »gigantische globale Reserve-Armee der Arbeit« geschaffen. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wirkt bis heute – 232 Millionen Menschen leben als Migrantinnen oder Migranten nicht in ihrem Geburtsland. In den 35 entwickelten Industrieländer (OECD-Staaten) hat die im Ausland geborene Bevölkerung dementsprechend stark zugenommen und machen im Durchschnitt 12,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Migrationsbewegungen im Kapitalismus verändern die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Einheimische und zugewanderte Beschäftigte sind zwar in ihrer gemeinsamen Erfahrung der Ausbeutung vereint, aber auch durch die unterschiedlichen Nationalitäten und rassistische Ausländergesetzgebung gespalten.
Klassensolidarität gegen Rassismus
Dies schafft Potential für Konflikte aber auch für Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse. Die lohnabhängig Beschäftigten haben objektiv kein Interesse an der Aufrechterhaltung von Grenzregimen und Einwanderungskontrollen, sowie der damit verbundenen repressiven Gesetzgebung und polizeilichen Schikanen. Sie behindern den gemeinsam Kampf. Migrantinnen und Migranten haben jedoch auch eine lange Tradition sich in den Klassenkampf im Betrieb einzumischen. Historisch ist die Thematik des Rassismus eng verknüpft mit den Kämpfen gegen Ausbeutung. So haben Migrantinnen und Migranten antirassistische Forderungen im Kontext »ökonomischer« Kämpfe erhoben und damit Verbindungslinien zwischen diesen Auseinandersetzungen gezogen. Bereits 1912 streikten Zehntausende junge Arbeitsmigrantinnen in Lawrence im US-Bundesstaat Massachusetts nicht nur für höhere Löhne, sondern für ein menschenwürdiges Leben. Ihre Streikparole »Brot und Rosen« formulierte den Wunsch nach Teilhabe für alle.
Auch die Geschichte der Migrantinnen und Migranten im Nachkriegsdeutschland zeigt, dass Klassensolidarität und der Kampf um gleiche Rechte für alle eine Waffe ist, die auch die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter vor billiger Schmutzkonkurrenz im Interesse der Kapitalisten schützen kann. Die Welle der »wilden Streiks« 1973 von angelernten und ungelernten Arbeitern, in denen Migrantinnen und Migranten eine führende Rolle spielten sind dafür ein Beispiel oder auch die Streiks der Beschäftigten des Einzelhandels zur Verteidigung ihres Manteltarifvertrages im Jahr 2013. Daran können wir heute anknüpfen, indem wir als Linke uns für eine vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse einsetzen und gleichzeitig für gleiche soziale, politische und ökonomische Teilhabe kämpfen.
Foto: Rasande Tyskar
Schlagwörter: Abschiebung, Bleiberecht, Clara Zetkin, DIE LINKE, Einwanderung, Einwanderungsbeschränkungen, Einwanderungsdebatte, Flüchtlinge, Geflüchtete, Karl Kautsky, Karl Liebknecht, Offene Grenzen, Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht, Sozialdemokraten, SPD