Online-Dating hat in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen. Bis zu 200 Millionen User und Userinnen weltweit nutzen sie. Doch wie sehr ändern sie die Art und Weise unserer Beziehungen zueinander? Von Sarah Bates
Erleben wir eine »Tinder-Revolution«? Wurde die Suche nach Partner:innen durch neue technologische Wege zur sexuellen Erfüllung radikal verändert? In gewisser Weise ja. Es wird geschätzt, dass 200 Millionen Menschen weltweit das Internet nutzen, um die große Liebe zu finden, zum Knüpfen von Bekanntschaften oder zur Verabredung von unverbindlichem Sex. Die Zahlen variieren, aber eine Recherche ergab, dass 39 Prozent aller heterosexuellen und 70 Prozent aller gleichgeschlechtlichen Paare in den USA sich online kennengelernt haben. In vergangenen Dekaden hatten erwartungsvolle Singles die Eckkneipe oder das Gotteshaus oder andere öffentliche Einrichtungen aufgesucht. Mittlerweile greifen immer mehr Menschen auf Dating Apps oder Webseiten zurück.
Die Suche nach Liebe ist natürlich nichts Neues. »Einsame Herzen« oder andere Varianten persönlicher Anzeigen waren schon immer Teil von Printmedien. Aber sogar zu Bestzeiten führten sie zu nicht mehr als 1 Prozent aller Eheschließungen in den USA. Heute haben 17 Prozent der Paare, die heiraten, sich im Internet kennengelernt. Auch wenn diese Zahl der Eheschließungen kein zuverlässiger Gradmesser für erfolgreiche oder sinnstiftende Beziehungen ist, so gibt diese Zunahme einen Hinweis auf die Größenordnungen und den Einfluss des Internet-Datings.
Kapitalismus bietet alles zum Kauf an
Nun, was sagt uns diese schöne neue Welt? Für Sozialist:innen ist Tinder ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die auf Kauf und Verkauf von Liebe, Sex und Beziehungen als Ware beruht. Der Kapitalismus bietet alles zum Kauf an. Dazu gehören sogar die intimsten Teile unseres Selbsts und unseres Lebens.
Tinders Entwicklung und Aufstieg basiert auf der Entfremdung von Menschen in einer von Konkurrenz, Ausbeutung und Unterdrückung geprägten Gesellschaft. Die Plattform wurde nicht aus Menschenliebe geschaffen. Sie ist eine Geldmaschine für die Muttergesellschaft Match Group, um aus dem menschlichen Bedürfnis nach sexueller Entfaltung und Geselligkeit Profit zu schlagen.
Wir leben in einer Welt, in der persönliche Beziehungen durch die ideologischen und materiellen Rollenbilder der Kleinfamilie geprägt sind. Die Familie drückt unserem aller Leben im Kapitalismus ihren Stempel auf. Plattformen wie Tinder untermauern die herrschenden Vorstellungen, wie die Interaktion zwischen Menschen sich gestalten sollte.
Der gesellschaftliche Druck, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, ist allgegenwärtig und wird von der »Dating-Industrie« gnadenlos angetrieben, um ihre »Produkte« verkaufen zu können. Das hat wohl die Schauspielerin Emma Watson anlässlich ihres 30. Geburtstags dazu bewogen, sich als »selbst-verpartnert« statt als »single« zu bezeichnen. Zweifellos wollte sie damit ihre Selbstbestimmung über ihr sexuelles und romantisches Leben ausdrücken. Ihre Aussage spiegelt aber zugleich den Druck wider, mit jemandem verpartnert zu sein, sei es auch nur mit sich selbst.
»Swipe Life«
Tinder ist nicht die erste Dating-App. Aber sie veränderte die Landschaft des Online-Datings ganz grundlegend. Die eigentliche Erneuerung besteht in der »Wischfunktion«, mit der die Nutzer:innen signalisieren können, ob sie sich für eine Person interessieren oder nicht. Bereits zwei Jahre nach der Einführung verzeichnete Tinder eine Milliarde Wischs pro Tag.
Zum ersten Mal erübrigte sich die mühsame Überprüfung von sorgfältig gebastelten Profilen mit Interessen, Wünschen, Hobbys usw. Es reicht, das auftauchende Foto mit einem Ja oder einem Nein zu quittieren, und die Geschwindigkeit, mit der man sich durch eine scheinbar endlose Folge von potenziellen Treffern hangeln kann, wurde zu einem zentralen Kaufargument.
Das Kennenlernen, die sexuelle Sehnsucht und der Kitzel einer neuen Begegnung reduzieren sich auf die Schnelligkeit einer Dienstleistung. Jemanden auszusuchen, mit all den Komplexitäten, die uns Menschen eigen sind – unseren Erfahrungen, Erinnerungen, Eigentümlichkeiten – wird auf eine Ja/Nein-Entscheidung eingedampft.
Apps wie Tinder sind gelegentlich mit »Fleischmärkten« verglichen worden, auf denen Muster schnell beäugt und für den Konsum entweder angenommen oder verworfen werden.
Sie können aber auch ein wichtiger Treffpunkt sein für Menschen, die es auf anderen Wegen schwerer haben, andere kennenzulernen. Die Online-Welt ist mittlerweile der bevorzugte Begegnungsort für LGBT+-Menschen. Es ist eine sehr begrüßenswerte Entwicklung, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich an einem Ort frei von Homophobie zu begegnen. Die gesellschaftlich weit verbreitete Unterdrückung von LGBT+ zwingt die Betroffenen, private Sphären aufzusuchen, um einen Partner oder Partnerin zu finden, weil ihnen die allgemein für heterosexuelle Menschen sichereren Orte zum Zusammenkommen fehlen.
Jede Vorliebe vermarkten
Die meisten Marktführer gehören zur gleichen Dachgesellschaft wie Tinder, nämlich zur Match Group. Das Unternehmen nannte einen Umsatz in Höhe von 1,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 sein eigen und hat weitere Mitbewerber wie LoveScout24, Partner.de, OkCupid, Plenty of Fish und weitere 40 Firmen auf diesem Feld geschluckt. Es gelingt ihm, jede nur vorstellbare romantische oder sexuelle Vorliebe zu vermarkten.
Mittlerweile bewerben die Bosse von Match Group ihre Tinder-Plattform nicht mehr als Dating-Service. Stattdessen preisen sie die Vorzüge des »Swipe Life«, das die User:innen ermutigt, single zu bleiben und sich ständig auf die Suche nach neuen »Abenteuern« im Netz zu begeben.
Das sind natürlich gute Nachrichten für Tinders Bilanzen. Je länger die User:innen in der App verweilen, desto mehr kann man sie mit In-App-Käufen locken wie beispielsweise »unbegrenzten Swipes« oder dem Versprechen, ihre Sichtbarkeit für andere User:innen zu erhöhen. Zugleich möchte das Unternehmen, dass die User:innen auf andere Produkte umsteigen.
Eines davon steht ganz oben auf der Website von Match.com. Mit dem Slogan »starte was Echtes« und passenden Bildern von lächelnden Paaren in ihren 30ern und 40ern, manche mit Hunden oder mit einem Verlobungsring am Finger, wird eine traditionelle Vorstellung von Partnervermittlung und Beziehungen gezeichnet. Hier kommt das Ideal langfristiger, monogamer Beziehungen zum Vorschein. Für jene, die solche Vorstellungen satt haben, gibt es Alternativprodukte.
Vorurteile, Bullying und Belästigung
Für viele Menschen sind diese Apps ein sicherer Ort, um zu experimentieren und neue Möglichkeiten zu entdecken. Es überrascht nicht, dass LGBT+-Menschen zu den ersten Nutzer:innen von Dating-Apps zählten.
Aber die Online-Sphäre ist nicht jederzeit und für alle ein sicherer Ort. Apps und Online-Plattformen sind nicht frei von Rassismus, Sexismus und all den anderen Formen von Unterdrückung, die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Vielmehr sind sie ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ungefragt Bilder von Männern zu bekommen, ist eine allgegenwärtige Erfahrung von Frauen, und auch vielen Männern, wenn sie online unterwegs sind.
Der Rassismus grassiert. Er reicht von subtilen Vorurteilen bis hin zu offenem Bullying und Belästigung. Menschen sind aber auch oft Objekte von Fetischisierung aufgrund ethnischer oder rassenbezogener, auch sexueller Stereotypen, wie sie die Pornografie verbreitet.
Eine von Elizabeth Bruch und M. E. J. Newman veröffentlichte Analyse der Daten eines großen Dating-Dienstes in den USA (der Name der App wurde nicht preisgegeben) ergab, dass Frauen im Alter ab 20 Jahren mit jedem Altersjahr immer weniger Nachrichten erhielten. Aber die Rate der Nachrichten für Männer stieg auf einen Spitzenwert um das Alter von 45 Jahren. Ein besonders ernüchternder Befund war, dass ein höherer Universitätsabschluss Männer begehrenswerter aber Frauen weniger begehrenswert machte.
Die Entscheidungen, die Menschen treffen, sind nicht unbedingt bewusst, und sie sind auch nicht fest in unseren Gehirnen verankert. Ihre Entscheidungen spiegeln die in der Gesellschaft verbreiteten Vorstellungen von Anziehungskraft wider – sei es in Gestalt einer jungen Frau oder eben eines gebildeten Mannes.
Spiegelbild der Gesellschaft
Das Verhalten von Menschen auf Dating-Apps ist eine Widerspiegelung tief sitzender Vorurteile und ist insbesondere von der Unterdrückung der Frau geprägt, vom gesellschaftlichen Rollenbild der Frau als Mutter und Partnerin.
Online-Dating bringt es aber auch mit sich, dass Menschen sich abseits von unterstützenden Netzwerken am Arbeitsplatz, in der Familie oder ihrer Gemeinschaft begegnen. Das macht es unter Umständen schwieriger, mit Ablehnungen oder unwillkommenen Annäherungsversuchen umzugehen. Doch nicht die Dating-Plattformen selbst sind das Problem, sondern die Tatsache, dass sie der Logik der kapitalistischen Gesellschaft unterliegen.
Die Dating-Apps und Websites setzen ein unendliches Arsenal an Tricks ein, um den User:innen immer mehr Geld abzuknöpfen. Sie reichen von direkten Abonnements bis hin zu regelmäßigen E-Mails, die einem versichern, wie attraktiv man ist. Die Algorithmen, die zur Anwendung kommen, »wissen« ganz genau, auf welche Tasten sie bei ihren Kund:innen drücken müssen. Und die User:innen sind nicht nur Kund:innen, sie sind zugleich das Produkt selbst.
Sie werden aufgefordert, genügend Informationen über sich zu geben, damit die Algorithmen der Plattform eine »bessere Auswahl« für sie treffen können, und sie werden bedrängt, bestimmte Schlüsselwörter und das »richtige« Bild von sich hochzuladen. User:innen werden auch oft einer Vorprüfung unterzogen. Die Dating-Site EHarmony verspricht, dass alle 14 Minuten »Liebe gefunden wird«, ganz so, als ob eine solche Behauptung quantifizierbar wäre. Der Anbieter schließt Interessierte, die beim Ausfüllen des Eingangsformulars angeben, mehrmals verheiratet gewesen zu sein, oder deren Antworten eine Neigung zu Depression verraten, von vornherein aus. Jeder User und jede Userin findet sich gefangen in der Logik dieser Plattformen. Dadurch fühlen sie sich gedrängt ein sexualisiertes und glamouröses Bild von sich zu präsentieren.
Realität vom Ideal weit entfernt
Aber wie auch immer sich Menschen begegnen und was auch immer ihre Erwartungen in Sachen Sex und Sexualität sind, sie stoßen unweigerlich auf die Grenzen des Systems, in dem wir leben. Unabhängig davon, ob sie sich in einer Disco oder im Internet kennen lernen, die Realität des Alltags formt ihre Beziehungen, durch die Erfordernisse des Geldverdienens und der unbezahlten Rechnungen, der Kindererziehung oder der Pflege von Familienangehörigen oder anderen Menschen im Haushalt.
Gleichzeitig verengt die Familie, verwurzelt in einer durch Klassen geteilten Gesellschaft, die Erwartungen der Menschen an die mögliche Welt und an sich selbst sowie an Sex und Sexualität. So bleibt das Ideal der Familie und der langfristigen, monogamen Beziehung weitgehend unhinterfragt.
Die Realität ist oft weit vom Ideal entfernt. Aber die Idee der Familie behält einen mächtigen Einfluss und schränkt die Fähigkeiten und Wünsche der Menschen ein. Verschiedene sexuelle und romantische Lebensmodelle können sie daher nicht praktizieren. So viel unbezahlte Arbeit wird innerhalb der Familie geleistet, und wie viele haben die Zeit oder die Muße, inmitten eines Lebens voller bezahlter Arbeit und Hausarbeit verschiedene sexuelle Beziehungen einzugehen? Es ist auch kein Leichtes, Beziehungen, die für ein reibungsloses Familienleben nötig sind oder als solche erachtet werden, von jenen auseinanderzuhalten, die auf genuinem sexuellem Interesse basieren.
Wenn junge Menschen, die ja die größte Mitgliedschaft der Dating-Apps bilden, auf Online-Angebote zugreifen, heißt das nicht, dass sie dem Hype von ungeahnter sexueller Befreiung glauben. Ihnen fehlen oft Zeit und Ressourcen, um auf anderen Wegen Partner:innen zu begegnen.
»Dating verdient Besseres«
So müsste es nicht sein. Sexuelle Befreiung ist möglich. Sex und Sexualität müssten keinesfalls durch die Abhängigkeit des Staats von der Familie oder durch das Profitstreben der Bosse der Dating-Apps bestimmt sein. Im Kapitalismus, einem System, das unsere Sexualität verfälscht und reduziert, ist wahre Befreiung unmöglich. In einer sozialistischen Gesellschaft hätten Menschen die Zeit und die Ressourcen, alle Aspekte ihres Lebens nach ihren Wünschen zu erforschen. Sie hätten die Möglichkeit ihre Lebensweise von den beschränkten Erwartungen an sexuelle Verhaltensweisen zu befreien. In einer sozialistischen Gesellschaft wären die Menschen von der Mühsal eintöniger Arbeit, in der sie nichts zu melden haben und die Bosse ihr Leben kontrollieren, befreit. Auch die Hausarbeit würde transformiert und in eine soziale, kollektive Aufgabe verwandelt. Alle hätten adäquaten Zugang zu Kinderbetreuung, Wohnungen und anderen Ressourcen, so dass sie frei Beziehungen eingehen und gestalten könnten. Das Reich des Möglichen und der Erwartungen wäre enorm erweitert.
Die Welt, in der wir jetzt leben, ist eine, in der die Bosse von Tinder uns nichts Besseres zu bieten haben als das Angebot, einen sexuellen Partner oder Partnerin zu finden. Unser Ziel sollte eine Welt sein, in der die Bedürfnisse und Sehnsüchte der überwältigenden Mehrheit und nicht nur einer kleinen herrschenden Minderheit erfüllt werden. Der Sozialismus würde einer Welt ein Ende bereiten, in der komplexe und lebenswichtige Aspekte unserer Menschlichkeit für Profite verdreht werden.
OkCupid verkauft sich mit dem Slogan »Dating verdient Besseres«. Ja, allerdings. Wir alle verdienen was Besseres als das, was OkCupid und all die anderen Dating-Apps anzubieten haben. Die Antwort liegt im Kampf für ein System, das für uns alle funktioniert.
Aus dem Englischen übersetzt von David Paenson.
Der Text erschien zuerst unter dem Titel: »Love me Tinder, love me true…?« in der britischen Zeitschrift Socialist Review.
Foto: Thomas8047
Schlagwörter: Beziehungen, Kultur, Liebe, Online-Dating, Online-Plattformen, Sex, Tinder