Organizing erobert auch hierzulande die gewerkschaftlichen Strategieabteilungen. Doch um erfolgreich zu sein, bedarf es weit mehr als ein wenig Basisbeteiligung. Jane McAlevey zeigt in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch, wie der Aufbruch gelingen kann. Von Katharina Stierl, Kerem Billor und Anton Dormann
Seit einigen Jahren ist in der Debatte um gewerkschaftliche Strategien auch in Deutschland ein Begriff in aller Munde: Mithilfe von »Organizing« soll eine mitgliederorientierte Politik eingeleitet und neue Gegenmacht aufgebaut werden. Viele versprechen sich davon nicht weniger als eine grundlegende Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit sowie ein Zurückdrängen der anhaltenden Offensive der Kapitalseite.
War es hierzulande anfangs insbesondere die IG Metall, die mit Organizing-Ansätzen experimentierte, gibt es mittlerweile in zahlreichen Bereichen Versuche, mittels Organizing Betriebe zu erschließen und kampffähig zu machen. Insbesondere im Pflegebereich erleben wir in den letzten Jahren eine starke Zunahme von Organizing-gestützten Arbeitskämpfen, also betrieblichen Auseinandersetzungen, in denen die aktive Beteiligung der Belegschaft bei der Aktionsplanung, Strategieabstimmung und Mitgliederansprache zum zentralen Hebel für den Erfolg der Auseinandersetzung gemacht wurde.
Jane McAlevey: »Keine halben Sachen«
Was aber ist Organizing eigentlich? Und wie kann es erfolgreich eingesetzt werden? Diesen Fragen widmet sich die US-amerikanische Wissenschaftlerin, Autorin und Gewerkschafterin Jane McAlevey in ihrem Buch »Keine halben Sachen«, das im Februar 2019 auf Deutsch erschienen ist. Darin liefert sie zunächst theoretische und geschichtliche Hintergründe, um dann vier ausgewählte Arbeitskämpfe genauer unter die Lupe zu nehmen. Um es vorneweg zu sagen: Das Buch ist eine absolute Pflichtlektüre – nicht nur für gewerkschaftliche Aktive.
Am Anfang des Buches steht eine Übersicht über die Geschichte der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, in der McAlevey sowohl inhaltliche und strategische Konfliktlinien aufzeigt als auch entscheidende Wendepunkte herausarbeitet. In der Blütezeit der US-Gewerkschaften in den 1920er und 1930er Jahren war ein großer Teil der Arbeitenden gewerkschaftlich organisiert. Dies beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Mitgliedschaft und die Organisierung am Arbeitsplatz, sondern erfasste zahlreiche Lebensbereiche – von gemeinsamen Freizeitangeboten über Solidaritätsnetzwerke und Wohlfahrtsorganisationen bis zu anderen politischen Betätigungen. Die Stärke der Gewerkschaften beruhte darauf, so McAlevey, dass sie Menschen nicht nur im Betrieb, sondern im gesamten Leben organisierten und sich die Mitglieder dadurch auch viel Stärker mit ihnen identifizierten.
Die Zeit der Kommunistenverfolgung unter McCarthy in den 1950er Jahren isolierte und verdrängte die Sozialistinnen und Sozialisten aus den Gewerkschaften und führte auch zu einer Abkehr vom »Whole Worker Organizing« des Gewerkschaftsverbands CIO. Als in den 1970er Jahren der neoliberale Umbau von Staat und Wirtschaft begann, waren die Gewerkschaften zu schwach, um dem etwas entgegenzusetzen. Statt umfassender Mitgliederbindung und politischen Zielsetzungen hatte sich eine allein auf den Betrieb beschränkte Stellvertreterpolitik durchgesetzt. Dies sieht McAlevey auch als Ursache der andauernden Krise der Gewerkschaftsbewegung in den USA, welche sich heute in einem Organisationsgrad von unter zehn Prozent, kaum Tarifbindung und katastrophalen Arbeitsbedingungen ausdrückt. Die Rückbesinnung auf das gewerkschaftliche Organizing der 1930er Jahre biete jedoch die Möglichkeit, diese Krise zu überwinden.
Kampf gegen die Sozialpartnerschaft
McAleveys sehr strukturierter, analytischer Blick auf Arbeitskämpfe und Organisierung ist nicht nur nützlich, sondern auch sehr erfrischend. Sie unterscheidet drei verschiedene Typen von Mobilisierung – von reiner Stellvertreterpolitik (»Advocacy«) über Stellvertreterpoltik kombiniert mit Basismobilisierung (»Mobilizing«) bis hin zu tatsächlicher Mitgliederbeteiligung (Organizing). Zentral bei Letzterem ist, dass die tatsächliche Macht zum Gewinnen des Konflikts in den Beschäftigten selbst und nicht in der Vermittlung oder in besonders geschickter PR-Arbeit gesucht wird – wenn auch im besten Fall davon begleitet.
Zudem analysiert McAlevey weitere Felder der Auseinandersetzungen, die allesamt für den erfolgreichen Ausgang der Kämpfe eine wichtige Rolle spielen, etwa welche Widerstände vom Arbeitgeber zu erwarten sind und welche Anliegen in den Communities der Beschäftigten noch vorliegen könnten. Eine besondere Stärke ihres Buchs ist auch, dass sie – im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern von Organizing-Ansätzen – nicht verschweigt, dass es dabei keineswegs nur um eine innovative Methode geht, sondern ihr Gelingen auch einen politischen Kurswechsel der Gewerkschaften erfordert und es dementsprechend auf den Kampf gegen die weitverbreitete sozialpartnerschaftliche Ausrichtung ankommt.
Praktische Leitlinien für Organizing-Neulinge
In den anschließenden Kapiteln stellt McAlevey verschiedene jüngere gewerkschaftliche Kämpfe vor, die auf Organizing-Ansätzen fußen und geht detailliert auf die Gründe für Erfolge und Scheitern ein.
Welchen Unterschied eine wirkliche Basismobilisierung der Mitgliedschaft im Gegensatz zur reinen Stellvertreterpolitik ausmacht, wird gleich am ersten Beispiel deutlich, in dem es um die Organisierung von privaten und öffentlichen Pflegeheimen geht. Dieser bis heute zumeist schwer zu organisierende Bereich wurde von den Gewerkschaften in den USA Anfang der 1970er Jahre erstmals systematisch bearbeitet – mit verschiedenen Strategien und unterschiedlichem Erfolg. McAlevey vergleicht das Vorgehen zweier lokaler Gewerkschaftsgliederungen: Während im Bundesstaat Washington die Gewerkschaft auf einen sozialpartnerschaftlichen »Advocacy«-Ansatz setzte und lediglich kleine Verbesserungen durchsetzen konnte, gelang es der kämpferischen Gliederung in New England mit einem auf Basisbeteiligung setzenden Modell weit darüber hinauszugehen und langfristige Stärke und Kampfbereitschaft aufzubauen.
Besondere spannend sind in diesem Abschnitt die aus den Erfahrungen abgeleiteten »Hinweise für Organizing-Neulinge«: In 20 Punkten werden allen angehenden Organizerinnen und Organizern praktische Leitlinien an die Hand gegeben, die bis heute Gültigkeit haben.
»Deep Organizing«: Kämpfe transformieren
Wie es gelingen kann, mithilfe von »Deep Organizing« Solidarität aufzubauen, die auch nach dem Ende von Arbeitskämpfen fortbesteht, zeigt McAlevey am eindrucksvollen Beispiel der Revitalisierung der US-Lehrergewerkschaften. Die drohende Schließung von 20 Schulen in Chicago im Jahr 2004 war der Beginn für eine Welle der Solidarität und Organisierung. An jeder Schule formierten sich zunächst lokale Proteste. Das erfolgreiche Zusammenbringen des Widerstands führte dazu, dass einige der Schließungen verhindert werden konnten.
Jedoch war dieser Kampf nur ein Anstoß, um umfassend gegen die Kürzungen im Bildungssektor vorzugehen. So wurden die Strategie des Mobilizing überführt in strategisches Organizing. Auf dem Höhepunkt der Proteste im Jahr 2012 legte die Gewerkschaft Forderungen vor, die unter anderem bessere Rundumversorgung und Inklusion aller Schülerinnen und Schüler vorsahen. Hinter diesen Forderungen schafften sie es, einen gewaltigen Unterstützerkreis hinter sich zu scharen und für ihren großen Streik zu mobilisieren. Durch das Bündnis aus Lehrerinnen, Schülern und Eltern konnten die Versuche der Regierung, sie gegeneinander auszuspielen, im Keim erstickt werden. Die Arbeitskämpfe an den Schulen wurden transformiert in gesellschaftliche Kämpfe der gesamten Stadt und ihrer Bevölkerung.
Community und »Whole Worker Organizing«
Dass Organizing über den Betrieb hinaus nicht nur bei Auseinandersetzungen im öffentlichen Sektor einen wichtigen Beitrag zum Erfolg leisten kann, zeigt das Beispiel des Kampfs der Beschäftigten um einen Tarifvertrag beim Schweinefleischproduzenten Smithfield in North Carolina. Über 5.000 Beschäftigte verarbeiten täglich über 32.000 Schweine allein an diesem Standort. Neben den ohnehin schon zermürbenden Arbeitsbedingungen im industriellen Schlachtbetrieb, spielte sich der Arbeitskampf vor schwierigsten Organisierungsbedingungen ab: ein in höchstem Maße gewerkschaftsfeindliches Unternehmen und eine ethnisch und sprachlich gespaltene Belegschaft. Die Auseinandersetzung dauerte mehr als 15 Jahre, bis sich die Gewerkschaft nach zahllosen Rechtsstreitigkeiten, Massenentlassungen, und Schikanen des Arbeitgebers letztlich doch durchsetzen konnte.
Sehr anschaulich stellt McAlevey dar, wie erst durch eine strukturierte und strategische Organisierung das Unternehmen in die Tarifbindung gezwungen werden konnte. Auch hier war die Einbindung der Community, etwa der Priester aus den örtlichen Gemeinden oder der DJs des lokalen Radiosenders, zentral für den Erfolg. Viele Beschäftigte von Smithfield lebten ohne gültige Papiere in den USA und ihre willkürliche Entlassung war ein starkes Druckmittel des Unternehmens, weshalb sich die Gewerkschaft auch den Kampf für die Rechte von Migranten auf die Fahnen schrieb. Sehr eindrücklich wird gezeigt, wie in diesem Konflikt die Arbeitenden »als ganze Personen« und mit ihrem gesamten Umfeld in die Auseinandersetzung zogen und diese damit letztlich für sich entschieden – den krassen Widerständen zum Trotz.
Nicht nur für Gewerkschaften
Doch Deep Organizing ist keineswegs nur auf Gewerkschaften beschränkt, wie McAlevey am Beispiel des Verbands Make The Road New York (MRNY) darstellt. MRNY ist mit 15.000 Mitgliedern und 150 Hauptamtlichen die größte nichtgewerkschaftliche politische Mitgliederorganisation der Stadt. Sie lässt sich am ehesten als radikaldemokratischer Wohlfahrtsverband zu umschreiben. Im Laufe der Zeit hat MRNY jedoch auch begonnen, Arbeitskämpfe zu führen – von Protestkundgebungen an Arbeitsplätzen von Mitgliedern, die um ihren Lohn geprellt wurden, bis hin zur Durchsetzung von Tarifverträgen für Autowäscherinnen und -wäscher.
MRNY zeichnet sich aber weniger durch einen hohen Organisationsgrad in den Betrieben aus als durch eine starke Verankerung in der Community, eine sehr große und aktive Basis und ein breites Spektrum an Beteiligungsmöglichkeiten und Themen, die alle an Alltagsproblemen der Mitglieder ansetzen – von der Durchsetzung von Arbeitsrechten bis zur Verhinderung von Abschiebehaft.
Kämpfen statt »Klassenkuscheln«
Jane McAlevey macht in »Keine halben Sachen« unmissverständlich klar, dass die Zeiten des »Klassenkuschelns« endgültig vorbei sind und die Gewerkschaften sich grundlegend erneuern müssen, wenn sie für die kommenden Kämpfe gewappnet sein wollen. Um wieder lebendige Klassenorganisationen der arbeitenden Menschen zu sein, müssen sie demokratischer gestaltet werden und ihren Fokus weg von Stellvertretertum und Sozialpartnerschaft legen. Funktionärinnen und Funktionäre sollten vor allem zum Aufbau und zur Begleitung der organischen Führungspersonen im Betrieb beitragen. Die Basis, die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst, müssen aber das zentrale handelnde Organ der Gewerkschaft sein. Gerade in Zeiten der neoliberalen Zerstückelung der Gesellschaft ist es für den gewerkschaftlichen Widerstand zudem unabdingbar, nicht nur die einzelne Beschäftigte in den Blick zu nehmen, sondern ihr komplettes Umfeld.
Auch wenn alle diese Schritte uns viel abverlangen werden und ein hohes Maß an Arbeit bedeuten, so führt doch kein Weg an ihnen vorbei. Es gibt keine Abkürzungen, keine halben Sachen.
Das Buch:
Jane McAlevey
Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing
VSA Verlag
Herausgegeben von Florian Wilde
Aus dem Amerikanischen von Jan-Peter Herrmann
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
2019
248 Seiten
16,80 Euro
Katharina Stierl ist ehemalige Krankenschwester und arbeitet als Organizerin. Sie ist in ver.di organisiert und aktiv bei Die Linke. SDS in Leipzig.
Kerem Billor ist aktiv bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der LINKEN in Augsburg.
Anton Dormann ist bei der DGB-Jugend in Halle aktiv und Mitglied der LINKEN.
Schlagwörter: Gewerkschaften, Organizing