»Nie wieder ist jetzt«, ist eine der häufigsten Parolen, mit der Regierung und Medien ihre Unterstützung des israelischen Krieges in Gaza begründen. Doch die damit behauptete Gefahr eines zweiten Holocausts ist eine Lüge, meint Hans Krause
Selbst vor dem Gedenken zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome schreckte sie nicht zurück. »Nie wieder ist jetzt«, rief SPD-Innenministerin Nancy Faeser am 9. November im Bundestag und kurz darauf: »Wir stehen fest an der Seite Israels.« Gleichzeitig war der 9. November ein weiterer Tag, an dem israelische Flugzeuge ihre Bomben über Gaza abwarfen und hunderte Palästinenser:innen ermordeten.
Laut Hamas-Regierung hat die israelische Armee im Gazastreifen bis 28. November mindestens 15.000 Menschen ermordet. Darunter sind mindestens 6100 Kinder, 670 alte Menschen und 4000 Frauen. Hamas hat niemals Frauen als Kämpfer eingesetzt.
Weitere 7000 Palästinenser:innen sind vermisst. Höchstwahrscheinlich liegen viele von ihnen tot unter den Schuttbergen der zerstörten Häuser.
Damit hat die israelische Armee schon mehr als zehnmal so viele Menschen ermordet wie die Hamas bei ihrem Angriff in Israel am 7. Oktober und der Krieg wird laut Ministerpräsident Benjamin Netanjahu noch Monate dauern. Trotzdem verurteilen die Regierungen fast aller NATO-Staaten und vor allem die deutsche fast ausschließlich den Angriff von Hamas und unterstützen die israelische Regierung bei ihrem Krieg.
Begründet wird diese einseitige Parteinahme vor allem in Deutschland fast immer mit dem Holocaust, der »nie wieder« geschehen dürfe. Doch der Vergleich von Nazi-Deutschland mit dem Nahen Osten ist falsch und trägt nichts zum Kampf gegen Antisemitismus bei, sondern verharmlost ihn.
Jüdinnen und Juden sind in Israel keine rassistisch unterdrückte Minderheit, sondern bilden die Mehrheitsgesellschaft. Der Staat Israel wiederum ist seinen Gegnern militärisch so haushoch überlegen, dass die Ermordung oder Vertreibung der jüdischen Bevölkerung auch langfristig unmöglich ist. So verfügt zum Beispiel die deutsche Armee über etwa 140 Kriegsflugzeuge. Die israelische jedoch über 320 und das, obwohl Israel nur 9,8 Millionen Einwohner hat. Selbst wenn die iranische Armee, Hamas, Hisbollah und sämtliche andere Milizen des Nahen Ostens gleichzeitig angriffen, würde Israel auch diesen Krieg schnell gewinnen.
Der israelische UNO-Botschafter Gilad Erdan heftet sich am 31. Oktober im UNO-Sicherheitsrat demonstrativ einen gelben Stern an, der dem sogenannten Judenstern nachempfunden ist, den Jüdinnen und Juden in Nazi-Deutschland tragen mussten. Eine der vielen Beleidigungen der Opfer des Holocaust durch die israelische Regierung.
Der Hamas-Angriff am 7. Oktober war ein grauenhaftes Verbrechen und keines der 1300 Opfer hat einen solchen Tod verdient. Doch ähnlich wie der al-Quaida-Anschlag auf New York am 11. September 2001 war auch der 7. Oktober Hamas‘ mit Abstand größter Angriff aller Zeiten.
Nach dem 11. September 2001 folgte keine weitere Bedrohung der US-Amerikaner:innen. Dennoch missbrauchte die Regierung den Anschlag, um ihre Kriege in Afghanistan und Irak mit hunderttausenden Toten zu rechtfertigen. Ebenso wird Hamas zu keinem vergleichbaren Angriff mehr fähig sein und ebenso missbraucht die israelische Regierung ihn, um ihren noch viel grauenhafteren Krieg führen zu können.
Kein Staat und keine Miliz des Nahen Ostens kann das israelische Volk auch nur annährend so bedrohen, wie die israelische Armee das Leben der Palästinenser:innen bedroht. Zudem sollten gerade Deutsche niemals vergessen: Die Palästinenser:innen sind nicht die Nazis und auch keine Antisemit:innen. Es ist falsch, den palästinensischen Widerstand gegen 70 Jahre israelische Besatzung in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken.
Diese früher banale Erkenntnis ist heute wichtig. Da die großen Parteien und Medien auf jede noch so zaghafte Forderung nach einem kurzen Waffenstillstand in Gaza zu Unrecht mit harten Antisemitismus-Vorwürfen reagieren.
Palästinenser:innen haben keine NSDAP und keine AfD gegründet, die die Macht übernehmen könnte, weder in Palästina noch in Deutschland. Ebenso wenig eine SA oder SS, die sämtliche demokratische Institutionen zerschlägt.
Wenn in Deutschland jemand Davidsterne auf Häuser malt, in denen Jüdinnen und Juden leben, soll das an die Nazi-Diktatur erinnern. Aber selbst, wenn man annimmt, dass die Täter keine deutschen Nazis waren, sondern Palästinenser:innen, ist das kein Anfang einer neuen Judenverfolgung wie vor 90 Jahren. Denn erstens sind die allermeisten Palästinenser:innen keine Antisemit:innen; und die es sind, werden keine faschistische Massenorganisation aufbauen und keine Diktatur errichten, wie es der NSDAP gelungen war; weder in Deutschland noch in Palästina.
Natürlich gibt es auch palästinensische Menschen mit antisemitischen Vorurteilen, die zu Unrecht allen Jüdinnen und Juden negative Eigenschaften zuschreiben. Solche Vorurteile gibt es leider auf der ganzen Welt.
Doch ist der Hass vieler Palästinenser:innen, Araber:innen oder Muslime auf den Staat Israel eben keine antisemitische Verschwörungstheorie wonach Juden die Welt beherrschen, sondern Folge einer sehr realen jahrzehntelangen brutalen Unterdrückung der Palästinenser:innen durch eben diesen israelischen Staat.
From the River to the Sea
Die Fahne mit blauem Davidstern und blauen Streifen auf weißem Grund ist keine jüdische Fahne, sondern die Nationalflagge des Staates Israel. Diese Flagge öffentlich zu verbrennen, ist nicht antisemitisch, sondern berechtigter Protest gegen einen kriegführenden Staat.
Die palästinensische Bewegung forderte immer die Gleichberechtigung mit Israelis auf dem gesamten Gebiet Israels und Palästinas, insbesondere das Recht, in Israel zu leben. Gleichzeitig wissen nahezu alle Palästinenser:innen, dass auch die 7 Millionen Jüdinnen und Juden in Israel und den besetzten Gebieten bleiben werden.
Der Slogan »From the River to the Sea, Palestine will be free«, fordert seit Jahrzehnten, dass Palästinenser:innen »vom Fluss (Jordan) bis zum (Mittel)meer«, also in ganz Israel, leben dürfen. Er bedeutet nicht, dass Jüdinnen und Juden vertrieben oder ermordet werden. Ebenso wie der Slogan »Freiheit für Kurdistan« das Ende der Unterdrückung der Kurd:innen in der Türkei fordert, nicht aber, dass Türk:innen, Syrer:innen oder andere Menschen von dort verjagt werden.
Es könnte kaum lächerlicher und zugleich trauriger sein, wenn heute ausgerechnet deutsche Politiker:innen den Palästinenser:innen unterstellen, einen zweiten Holocaust zu planen. Und von ihnen deswegen auch noch verlangen, den israelischen Krieg gegen ihr Volk achselzuckend hinzunehmen.
Gäbe es etwas wie »historische Schuld«, läge diese bei den Deutschen und nicht bei Palästinenser:innen. Deutsche haben NSDAP gewählt, Deutschen ist es nicht gelungen, Hitlers Machtergreifung zu verhindern und Deutsche haben den Massenmord des Holocaust begangen.
Palästinenser:innen haben mit all diesen Verbrechen nichts zu tun. Warum sollten sie also einen Krieg gegen ihr eigenes Volk gutheißen, nur weil dieser Krieg von jüdischen Soldat:innen geführt wird?
Im Nahen Osten droht kein zweiter Holocaust
Die Nazis haben Jüdinnen und Juden zu angeblich minderwertigen Menschen erklärt und im Holocaust vernichtet. Doch wer daraus folgert, dass jüdisches Leben heute höherwertiger sein müsse als anderes, hat aus der Geschichte nichts gelernt.
Denn genau diese Idee führt automatisch zur Vorstellung, dass die Ermordung von Israelis verwerflich sei, die von Palästinenser:innen aber weit weniger. Auf dieser Grundlage erklärt die israelische Regierung jedes Krankenhaus zur militärischen Kommandozentrale und jede:n Palästinenser:in zum Kämpfer der Hamas. Die Menschen werden aus dem Norden des sowieso schon winzigen Gazastreifens vertrieben und niemand weiß, ob sie jemals zurückkehren können.
Im Nahen Osten droht kein zweiter Holocaust. Stattdessen aber die endgültige Vertreibung der Palästinenser:innen aus ihrer Heimat. Netanjahu persönlich hat vor der UNO-Generalversammlung bereits im September eine Karte gezeigt, auf der sowohl Gazastreifen als auch Westjordanland als Teile Israels dargestellt waren:
Man könnte meinen, dies geschehe für die Sicherheit der Israelis. Doch haben die letzten Jahrzehnte wie auch der 7. Oktober gezeigt, dass auch sie nicht in Frieden leben können, solange ihre Regierung einen unendlichen Krieg gegen das palästinensische Volk führt.
Der Gazastreifen ist nur 365 Quadratkilometer groß. Das sind 41 Prozent der Fläche Berlins. Es ist unsinnig, in diesem Großraumgefängnis 2 Millionen Menschen einzusperren, alle Grenzen für immer zu schließen und zu erwarten, dass nichts passiert.
Die einzige Chance für alle Israelis ist, ihr Land mit den Palästinenser:inen zu teilen. Wer das für illusorisch hält, sollte zurückblicken ins Jahr 1945. Selbst nachdem Deutschland zwei Weltkriege geführt und den Holocaust verbrochen hatte, sind Franzosen, Polen und Niederländer nicht nach Deutschland eingefallen, um Menschen abzuschlachten. Gerade nach dem Weltkrieg sehnten sich die Menschen umso mehr nach Frieden und so ist es auch bei Israelis und Palästinenser:innen. Kriege und Massenmord gehen niemals von Völkern aus, sondern immer von Regierungen und Armeen.
Gegen jeden Völkermord
Ebenso wie Europäer:innen wünschen sich auch fast alle Palästinenser:innen ein Leben in Frieden und Freiheit, in Palästina und Israel. Wer behauptet, die Palästinenser:innen seien von Natur aus antisemitisch und wollten die Juden ermorden, ist kein Vorkämpfer gegen Antisemitismus, sondern verbreitet rassistische Lügen über Araber:innen und Muslime.
Verwerflich ist nicht der Wunsch nach Frieden und Freiheit für alle Menschen im Nahen Osten, sondern den Gegner:innen des israelischen Krieges Antisemitismus zu unterstellen. Damit beleidigt man nicht nur die Antikriegsbewegung, sondern verharmlost auch den tatsächlichen Antisemitismus der Rechtsradikalen in Deutschland und der ganzen Welt.
»Nie wieder« ist tatsächlich jetzt. Aber »Nie wieder« bedeutet keine Unterstützung Israels, sondern den politischen Kampf gegen jeden Völkermord; zurzeit vor allem auch gegen den israelischen Völkermord an den Palästinenser:innen.
Hans Krause ist aktiv in der LINKEN in Berlin-Neukölln
Schlagwörter: Antisemitismus, Palästina