Rosemarie Nünning erzählt anlässlich des unrühmlichen 150. Jubiläums des Paragrafen 218 die Geschichte der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und des Widerstands dagegen
Die Einführung des Paragrafen 218 vor 150 Jahren fällt zusammen mit der Gründung des Deutschen Reichs. Im Zuge der rasanten Industrialisierung, wachsender Kolonialreiche und Imperialismen wurde es auch für Deutschland drängend, die Kleinstaaterei aufzuheben und sich als einheitliche, konkurrenzfähige Nation zu formieren.
Der erste Schritt dazu war die Gründung des Norddeutschen Bunds, der Staaten oberhalb der Mainlinie im Jahr 1870. Verbunden damit war die Vereinheitlichung der Gesetze, und im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bunds taucht erstmals die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs unter den Paragrafen 218 bis 220 auf. Davor hatte es schon in den jeweiligen Landrechten ähnliche Strafregelungen gegeben. Und schon vor rund 500 Jahren löste sich aus der kirchlichen Sanktion der Abtreibung die weltliche in der »Peinlichen Gerichtsordnung«, die als erstes deutsches Strafgesetzbuch gilt.
Strafrechtsbereich Mord- und Totschlag
Insofern kann es nicht wundern, dass im Mai 1871 das Reichsstrafgesetzbuch geräuschlos und ohne Diskussion über die Paragrafen 218 bis 220 verabschiedet wurde. Sie beinhalteten: Bei vorsätzlicher Abtreibung seitens der Frau drohten bis zu 5 Jahre Zuchthaus, was eine verschärfte Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit war. Dasselbe galt für Helfende. Nach Paragraf 219 drohten sogar 10 Jahre Zuchthaus für Lohnabtreiber. Paragraf 220 richtete sich gegen jene, die ohne Wissen der Schwangeren einen Abbruch erzeugten. Sie mussten mit bis zu 2 Jahren Zuchthaus rechnen, und mit mindesten 10 Jahren, wenn sie daran starb.
Es gab sogar eine kleine Verbesserung zu dem Vorläufergesetz des Norddeutschen Bunds – nämlich zum ersten Mal nicht näher definierte mildernde Umstände gelten zu lassen, mit einer Gefängnisstrafe aber von immer noch mindestens einem halben Jahr. Seitdem steht der Paragraf 218 – mit Ausnahme der DDR – in dem Strafrechtsbereich zu Mord- und Totschlag.
Dass es sich um einen Klassenparagrafen handelte, war für jeden erkennbar: Wohlhabende Frauen hatten ihren Hausarzt, der in ihre herrschaftlichen Wohnungen oder Villen kam und stillschweigend einen Abbruch vornehmen konnte.
Arme Frauen griffen zu Brechmitteln, Giften wie Phosphor, Salzsäure oder Zyankali, traktierten ihren Körper mit Schlägen, benutzten die »Mutterspritze« mit der Gefahr der inneren Verletzung oder suchten eben den Hinterzimmerabtreiber, den »Engelmacher« auf.
Anhand erfasster Fehlgeburten wurde geschätzt, dass im Jahr 1890 auf 1.000 Lebend- und Totgeborene 100 Abbrüche kamen, also 10 Prozent – und die Zahlen stiegen jährlich an. Nach einer Befragung, die der linke Sexualforscher Max Marcuse durchführte, gaben rund 40 Prozent der städtischen Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen wirtschaftliche Not als Grund für den Abbruch an. Auf dem ostpreußischen Land nannten 60 Prozent der proletarisierten Frauen dies als Grund.
In den Großstädten lebten 90 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum und konnten sich Verhütungsmittel nicht leisten. Über den »Unzuchtparagrafen« 184 im Strafgesetzbuch gegen die Verbreitung »unzüchtiger Schriften, Abbildungen und Darstellungen« wurde der Handel mit Verhütungsmitteln auf den überteuerten Schwarzmarkt gedrängt. Auf diese Weise wurde die »kriminelle Fruchtabtreibung«, wenn es denn »passiert« war, zum eigentlichen Verhütungsmittel des Proletariats.
Widerstand gegen Paragraf 218
Von organisiertem politischem Widerstand kann zunächst nicht die Rede sein. Es gab ein ständiges Unterlaufen des Paragrafen 218 durch die Praxis – Recht und »Rechtsempfinden« drifteten weit auseinander, was auch in den juristischen Debatten Niederschlag fand.
Es bildeten sich verschiedenste Strömungen heraus, die sich mit Fragen der Sexualität befassten, sodass das Thema in der Öffentlichkeit breit vertreten war. Dazu gehörten die Naturheilbewegung. Abolitionistinnen zur Beendigung der Prostitution, die jedoch im Gegensatz zu den heutigen die Aufhebung jeder Strafbarkeit und Polizeikontrolle forderten. Es gab die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gegen die weite Verbreitung der Syphilis. Dazu kam die beginnende Kampagne des homosexuellen Arztes Magnus Hirschfeld gegen die Kriminalisierung männlicher Homosexualität über den ebenfalls aus dem Jahr 1871 stammenden Paragrafen 175.
Auch eine bürgerliche Frauenbewegung mit dem Hauptakteur Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) war entstanden. In diesem hatte sich ein kleiner, radikalliberaler und sozialreformerischer Flügel formiert, der mit dem Verein Frauenwohl verbunden war. Er bezeichnete sich als »linker Flügel« der Frauenbewegung und befasste sich auch mit Fragen wie der Stellung von Dienstboten. Daneben gedieh der Bund für Mutterschutz und Sexualreform unter anderem unter Helene Stöcker, der für selbstbestimmte Mutterschaft eintrat.
Aus diesem Spektrum kam schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts die Forderung nach Streichung von Paragraf 218 auf – also etwa 35 Jahre nach seiner Verabschiedung. Angestoßen wurde dies durch eine einsetzende Debatte über die Modernisierung des Strafrechts. In diese Debatte wollten sich auch organisierte Frauen mit ihren Forderungen einbringen.
Niederlage des radikalen Feminismus
Was dann geschah, wirft ein bezeichnendes Licht auf die bürgerliche Frauenbewegung. Die Rechtskommission des BDF – überwiegend besetzt mit radikaleren Frauen wie Camilla Jellinek – stellte im Jahr 1908 die Forderung nach Streichung des Paragrafen 218 auf. Die Begründung dafür lautete unter anderem, dass Frauen dann Zugang zu einer sachgemäßen Behandlung durch einen Arzt bekämen, sie beispielsweise nicht mehr gezwungen wären, geschwängert von einem »Trunkenbold« als Ehemann, ein weiteres, »dem Siechtum geweihtes« Kind auf die Welt zu setzen, und weil insgesamt der Paragraf 218 einseitig Frauen der Arbeiterklasse benachteiligte.
Die Verhandlung über diese Forderung fand im Oktober 1908 auf der Generalversammlung des BDF im gut gefüllten Konzerthaus von Breslau mit etwa 400 Teilnehmerinnen statt und es kam nach einer siebenstündigen Debatte, zum ersten Mal unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zu einer krachenden Niederlage.
Seinerzeit hatte der BDF über 100 Mitgliedsvereine mit insgesamt 150.000 Mitgliedern, war also organisatorisch ein Schwergewicht. Kurz vor der Versammlung in Breslau (heute Wrocław) hatte der Vorstand, um einen Abstimmungserfolg zu verhindern, den Deutsch-evangelischen Frauenbund mit 40 Untervereinen zugelassen – der rückwirkend Beiträge zahlen durfte, also in Breslau bereits stimmberechtigt war. Gegen die Entkriminalisierung stimmten der Jüdische und der Deutsch-evangelische Frauenbund und die Mehrzahl der Gemäßigten (katholische Frauenverbände gehörten dem BDF nicht an). Sie sahen in Paragraf 218 eine »Schranke gegen Verrohung und Sittenlosigkeit« und die »Entartung des mütterlichen Gefühls«. Sie fürchteten den »hemmungslosen Sexualverkehr« auch in der Ehe.
Reaktion in der bürgerlichen Frauenbewegung
Im Jahr 1909 gab es schließlich eine Eingabe an den Reichstag, die faktisch Ergebnis eines entscheidenden Misserfolgs der radikalen Frauenbewegung war – irrtümlicherweise hier und da als erster kämpferischer Schritt gegen den Paragrafen 218 dargestellt. Es wurde nur die Forderung nach einer sehr engen Reform im Rahmen des Strafrechts aufgestellt: Straffreiheit bei Gefahr für die Frau, bei schwerer Schädigung des Fötus, bei Vergewaltigung. Zu einer Verhandlung im Reichstag kam es nicht. Als vier Jahre später der engere Vorstand des BDF auch die soziale Indikation – also materielle Notlage – hinzufügen wollte, wurde das mit Rücksicht auf die sehr konservativen Hausfrauenverbände schnell fallengelassen.
In Breslau scheiterte auch der Vorstoß zur Demokratisierung des Bunds, zur arbeitsrechtlichen Besserstellung des Dienstpersonals (schließlich beuteten die bürgerlichen Frauen selbst Dienstboten aus) und für ein allgemeines Wahlrecht für Frauen und Männer. Else Lüders, Teilnehmerin der Versammlung und Vertreterin der »Fortschrittlichen«, schrieb am 15. Oktober mit großer Enttäuschung in der Zeitschrift Die Frauenbewegung, die Majorität des Bundes stünde dem Frauenstimmrecht »sehr lau, ja direkt ablehnend« gegenüber, »eine Reaktion in der Frauenbewegung ist außerordentlich stark«.
In der heutigen feministischen Bewegung hat es sich eingebürgert, von einer ersten, zweiten, dritten Welle der Frauenbewegung, des Feminismus, im Sinne der Kontinuität eines fortschrittlichen Aufbruchs für Frauenrechte zu sprechen. Die damalige Frauenbewegung war jedoch in ihrer großen Mehrheit durch und durch antiproletarisch und elitär – und sie rückte im Lauf der Zeit immer weiter nach rechts. Sie war »vaterländisch« gesinnt und stellte sich auf die Seite der Kriegstreiber. Im Jahr 1918, in der Deutschen Revolution, sahen sie das Bürgertum am Abgrund und ihre »nationale Kultur und Gesittung in Verfall«.
Sozialdemokratie und Neomalthusianismus
Die Sozialdemokratie war inzwischen zu einer Massenorganisation herangewachsen und hatte erfolgreich eine proletarische Frauenbewegung aufgebaut. Zu der damaligen Zeit gab es von ihr keine unmittelbare Positionierung zu Paragraf 218 – sie sah sich vordringlich an einer anderen Front, nämlich für bessere Lebensbedingungen der proletarischen Familie zu kämpfen, damit Kinder in gesunden Verhältnissen aufwachsen konnten.
Zudem sah sich die Sozialdemokratie mit einer Strömung konfrontiert, die sich Neomalthusianismus nannte, abgeleitet von dem englischen Geistlichen und Ökonomen Thomas Malthus, der 100 Jahre zuvor vor Überbevölkerung warnte, wobei er vor allem mit Schrecken das Anwachsen der armen, zerlumpten Arbeiterklasse sah. Er predigte deshalb Unehelichkeit bei »sittlicher Beschränkung«, sexuelle Enthaltsamkeit und forderte die Streichung der Armenunterstützung.
Der sich Ende des 19. Jahrhunderts formierende Neomalthusianismus, der insbesondere von linken Ärzten und (einigen) Ärztinnen in den Arbeitervierteln getragen wurde, trat ebenfalls für eine Beschränkung der Kinderzahl von Arbeiterfamilien ein – aber durch Aufklärung und Empfängnisverhütung, und für Sexualität auf Augenhöhe.
Diese Strömung trat insbesondere im Jahr 1913 hervor, als sozialdemokratisch-anarchistische Ärzte in Anlehnung an eine französische Kampagne Frauen der Arbeiterklasse aufforderten, in den »Gebärstreik« zu treten.
Arbeiterfeindlichkeit und »Rassenhygiene«
Die Frauen der SPD-Führung, wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und – weniger strikt – Luise Zietz, sahen dahinter das Gespenst des alten antiproletarischen Malthusianismus lauern, und das nicht ganz zu Unrecht, denn die Geburtendebatte ist nicht auf eine einfache Formel zu bringen, wie: Frauen sollen Kinder als Kanonenfutter oder Arbeitskräfte gebären. Diese plakativen Argumente gab es von verschiedenen Seiten, aber die bevölkerungspolitische Debatte war immer auch durchsetzt mit »rassenhygienischen«, eugenischen, völkischen, oder wie wir heute sagen könnten: sarrazinistischen Argumenten, denn nicht jedes Kind war erwünscht – nicht einmal, wenn es darum gehen sollte, mit deutschen Kindern die deutsche Nation vor der »slawischen Flut« oder den »Ostjuden« zu schützen, wie die rassistische Propaganda seinerzeit ging. So kommt es, dass die Frauenrechtlerin und Ärztin Agnes Bluhm, die eine Klinik »für weibliche Ärzte« gründete, ebenfalls auf der Generalversammlung in Breslau gegen die Streichung des Paragrafen 218 auftrat, aber für einen Abort, wenn durch »stark minderwertige Nachkommenschaft eine Schädigung der Rasse« zu befürchten wäre – und auf der anderen Seite hoffte sie auf höhere Geburtenziffern bei den bürgerlichen Schichten, um das gesellschaftliche Niveau zu heben.
Neben dem Verbot der Abtreibung gab (und gibt) es also immer auch eine Politik der Geburtenverhinderung zum Beispiel durch Zwangssterilisation. Bei den Nazis galt das für Juden, »Zigeuner«, »Erbkranke«, »Minderwertige« oder auch »asoziale Großfamilien«. Wenn wir über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch reden, heißt das darum immer auch, für das Recht auf Austragung einer Schwangerschaft einzutreten.
Angst vor Emanzipation
Ein weiterer sehr starker Strang der Argumentation gegen die Entkriminalisierung war die Furcht vor der Freizügigkeit im Proletariat, der Frauenemanzipation, der sexuellen Aufklärung, der »materialistischen Weltanschauung«, und all dies wurde in Verbindung gebracht mit der politischen Gefahr einer wachsenden Sozialdemokratie. Dafür stand unter anderem Medizinalrat Jean Bornträger mit seiner einflussreichen Schrift von 1912 über den »Geburtenrückgang«, der schrieb: »Der Geburtenrückgang scheint sich besonders in politisch freisinnigen und sozialdemokratischen Gegenden zu zeigen. So wählte 1912 das kinderarme Berlin fast nur noch sozialdemokratisch.«
Die Strafbarkeit der Abtreibung ist somit Teil eines komplexen Geflechts, das von der Klassenfrage nicht zu trennen ist: Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Frauenunterdrückung, gleichzeitig ist sie ein Instrument der Disziplinierung der arbeitenden Klasse und der sozialen Kontrolle über ihr Leben. An ihr macht sich Rassismus und Elitedenken fest, die Aufrechterhaltung konservativer gesellschaftlicher Verhältnisse – oder die Rückkehr dahin – mit der Besonderheit, dass diese Schlacht über den Körper der Frau ausgetragen wird.
Zur Ehrenrettung Zetkins, Zietz’ und Luxemburgs sei noch gesagt, dass sie sich bei der Zuspitzung der damaligen Debatte letztendlich klar gegen »staatlichen Gebärzwang« und »Büttelschnüffelei« stellten.
Paragraf 218: Revolution und Sexualreform
Großer Widerstand gegen Paragraf 218 kommt in der Weimarer Republik nach den Umwälzungen auf, die die am Ende gescheiterte Revolution von 1918 mit sich gebracht hatte. Jetzt war links der SPD eine KPD entstanden, die Ende der 1920er Jahre über 300.000 Mitglieder hatte.
Das Thema Sexualität und Paragraf 218 war in der Weimarer Republik fast immer präsent: Es gab spektakuläre Strafprozesse gegen gewerbliche Abtreiber. Im Zuge einer neuerlichen Gesetzesreformdebatte Mitte der 20er Jahre wurde schließlich die Zuchthausstrafe in Gefängnis umgewandelt und ein Abbruch aus medizinischen Gründen straffrei gestellt. In Kinofilmen wie dem Ende 1918 aufgeführten Film »Sündige Mütter – Betrifft § 218 des Strafgesetzes!« wurde ungewollte Schwangerschaft verhandelt. Romane wie »Maria und der Paragraph« von Franz Krey von 1931, Aufklärungsfilme und Ausstellungen zu Geschlechtskrankheiten wurden breit rezipiert, ebenso wie die Vielfalt an Magazinen zu Sexualität und Geburtenkontrolle.
Zudem hatte die durch die Russische Revolution geschaffene Sowjetunion im Jahr 1920 den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert, im folgenden Jahr Homosexualität, und war ein wichtiger Bezugspunkt für die Sexualreformbewegung geworden.
Die im Krieg von der SPD nach links abgespaltene kurzlebige Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) stellte 1920 erstmalig im Reichstag den Antrag auf Streichung von Paragraf 218; er gelangte nicht einmal auf die Tagesordnung. Später war es die KPD, die immer wieder entsprechende Vorstöße unternahm, die allesamt scheiterten. Die Sozialdemokratie der Weimarer Republik hielt an Paragraf 218 fest und forderte höchstens Straflosigkeit innerhalb einer Frist oder unter bestimmten Bedingungen wie einer medizinischen Indikation – und das ist bis heute so.
Die proletarisch geprägte Sexualreformbewegung war in dieser Zeit auf gut 150.000 Mitglieder angewachsen. Zu ihr gehörten Ärztinnen und Ärzte und eine Vielzahl Laienaktivisten aus der arbeitenden Klasse, die regelmäßige Veranstaltungen anboten und sich ausdrücklich an Arbeiter und Arbeiterinnen wandten. Dazu gab es eine wachsende Zahl von Sexual- und Eheberatungsstellen und sogar »fliegende« Beratungsstellen, die in ländliche Gebiete fuhren. Weiterhin hatte Magnus Hirschfeld schon im Jahr 1919 das Institut für Sexualreform gegründet, später die Weltliga für Sexualreform, die internationale Kongresse ausrichtete.
Massenbewegung gegen Paragraf 218
All das kam Ende der Weimarer Republik in der Kampagne »Dein Bauch gehört dir« zusammen – organisatorisch getragen von dem kleinen radikalen Flügel der Frauenbewegung, dem Verein Sozialistischer Ärzte (VSÄ) mit etwa 400 Mitgliedern, den Sexualreformern und der KPD. Die Theaterstücke »§ 218. Gequälte Menschen« von Carl Credé und »Cyankali« von Friedrich Wolf (kurz darauf auch verfilmt) wurden landauf, landab aufgeführt. Am Ende der Aufführung erscholl nicht selten der Ruf: »Nieder mit dem Paragrafen 218!«. Konservative versuchten, die Aufführungen zu verbieten, Nazis kamen mit Störtrupps.
Aktionskomitees gegen Paragraf 218 wurden gegründet, von dem VSÄ gab es die Selbstbezichtigungskampagne »Ich habe abgetrieben« – »Ich habe einer Frau geholfen«. Als dann noch im Februar 1931 die Ärztin Else Kienle und der Arzt Friedrich Wolf wegen illegaler Abtreibung verhaftet wurden, gründete die KPD »Kampfausschüsse gegen den § 218«. Selbst die Sozialdemokratie veranstaltete zum Internationalen Frauentag über 1.000 Protestkundgebungen, nach wie vor aber nur für eine Reform des Strafrechts. Nach der Freilassung von Kienle und Wolf sprachen diese im April im Berliner Sportpalast vor weit über 10.000 Leuten.
Danach ebbte die Kampagne ab, zwei Jahre später kamen die Nazis an die Macht. Sie verabschiedeten im Mai 1933 den inzwischen berühmten Paragrafen 219a (damals 220) gegen »Werbung« für Abtreibung und räumten nicht nur sofort mit der KPD und den Gewerkschaften, kurz darauf ebenso mit der SPD auf, sondern auch mit der Sexualreformbewegung und den Beratungsstellen als Ausdruck »kulturbolschewistischer Bestrebungen«. In einem Gestapo-Bericht von 1933 wurde eine Linie hergestellt zwischen »jüdisch-marxistischem Geist«, »Zeichen des Niedergangs« auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft, insbesondere Hirschfelds Institut, der Kampagne gegen Paragraf 218, kommunistischen Arbeiterzeitschriften zu Sexualfragen und moderner Kunst und Pädagogik.
Paragraf 218 nach 1945
Unmittelbar nach 1945 versuchte die KPD an die Weimarer Kampagne wieder anzuknüpfen, und die SPD-Frauenorganisation engagierte sich für die Reform des Abtreibungsparagrafen. Angesichts der großen Verwerfungen nach dem Zweiten Weltkrieg, der Notwendigkeit des Aufbaus der zerstörten Städte und auch einer einsetzenden konservativen »Restauration des Kapitalismus« ging dieses Thema schnell wieder unter.
Der nächste große Schub gegen Paragraf 218 kam im Gefolge der 1968er Studierendenbewegung, deren Debatten auch über eine »sexuelle Revolution« weit in die Bevölkerung drangen. Aus dieser Bewegung schälte sich eine neue Frauenbewegung heraus, die sehr schnell das Recht auf Selbstbestimmung auch bezüglich Schwangerschaftsabbruch für sich reklamierte – jetzt unter der Parole: »Mein Bauch gehört mir!«
Die Koalition aus SPD und FDP unter Führung Willy Brandts ließ große Hoffnungen bezüglich gesellschaftlicher Veränderungen aufkommen. Erneut brach eine Diskussion über die Reform des Strafrechts, auch des Paragrafen 218, aus.
»Ich habe abgetrieben«
Fast mit einem medialen Knall geriet das Thema in die Öffentlichkeit, als im Februar 1971 eine »Expertentagung« zu Paragraf 218 an der Evangelischen Akademie Bad Boll gesprengt wurde. Keine Frau war als Referentin oder auf dem Podium vorgesehen. Mehrere Dutzend SPD-Frauen reisten an und setzten durch, dass Frauen mit auf das Podium genommen wurden. Einige »ältere Damen« stellten sich mit Plakaten wie »§ 218 – Ich hasse dich« auf. Vor allem aber Frauen der Frankfurter Frauenaktion 70 und Mitglieder der Humanistischen Union kaperten die Veranstaltung und setzten eine Reformresolution durch.
Dann ging es Schlag auf Schlag, und eine breite öffentliche Abtreibungsdebatte setzte ein: Mitte Mai wurde eine Dreizehnjährige von mehreren vergewaltigt, die Ärztekammer lehnte eine Abtreibung ab, weil die Jugendliche »kräftig genug« sei. Das erzeugte große Empörung.
Ende Mai begann in Frankreich die Selbstbezichtigungskampagne »Ich habe abgetrieben«, woran sich unter anderem Simone de Beauvoir beteiligte. Im Juni importierte die heute im feministischen Spektrum rechts stehende Alice Schwarzer diese Kampagne für die Zeitschrift Stern nach Deutschland. Auf der Titelseite bekannten Frauen wie Schauspielerin Senta Berger ebenfalls, abgetrieben zu haben. Der Beihilfe bezichtigten sich Leute wie Günter Wallraff, Ernst Bloch oder der Historiker Sebastian Haffner.
»Nur die Armen werden schuldig«
Die Solidarisierung Haffners war allerdings eine zweifelhafte. Er meinte, verantwortungsbewusste Eltern trieben ab, während »die Asozialen und halb oder ganz Schwachsinnigen« das Abtreibungsverbot verfolgten und die Gesellschaft mit »dem Nachwuchs des Lumpenproletariats fertig werden« müsse. Auch jetzt war das elitäre Argument einer sozialverträglichen Bevölkerungspolitik nicht verschwunden, wenn auch nach der Erfahrung mit der Nazipolitik in den Hintergrund gerückt.
Wie sehr sich die Stimmung geändert hatte, zeigte sich an Boulevardblättern wie Praline und Jasmin, die für Reform eintraten. Die Neue Revue titelte: »Nur die Armen werden schuldig! Verzweifelte Frauen fordern: Deutschland braucht Abtreibung ohne Angst.«
Wie sehr das stimmte zeigte sich daran, dass Informierte einen Weg nach Großbritannien oder in die Niederlande zu einem sicheren Abbruch in einer Klinik fanden. Bei Strafverfahren waren die betroffenen Frauen überwiegend alleinstehend, kamen vor allem aus Arbeiterfamilien, hatten einen Sonder- oder Hauptschulabschluss und ein durchschnittliches Einkommen von nur 600 Mark.
Drei Jahre später folgte die Selbstbezichtigung von über 300 Ärztinnen und Ärzten: »Wir haben Frauen geholfen«, und es ist offensichtlich, dass sich die gesamte Kampagne an das Vorbild der Weimarer Republik anlehnte. Insgesamt aber war die Ärzteschaft wie in der Weimarer Republik konservativ und sträubte sich insbesondere gegen einen Abbruch aufgrund einer sozialen Notlage.
Die »Reform« des Paragrafen 218
Vor allem die autonome Frauenbewegung forderte: »Weg mit Paragraf 218!« All die bürgerlichen Parteien einschließlich der SPD, die Kommissionen und Experten mit ihren Entwürfen und Alternativentwürfen gingen über eine Reform im Rahmen des Strafrechts nicht hinaus. Aber der Druck war groß genug, um im Jahr 1974 im Bundestag mit knapper Mehrheit eine Novelle des Paragrafen 218 zu verabschieden, die Fristenlösung genannt wurde, weil ein Abort innerhalb der ersten 12 Wochen nicht bestraft werden sollte, aber auch nicht legalisiert.
Der CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg und einstige Nazimarinerichter Hans Georg Filbinger und andere Konservative eilten sofort zum Bundesverfassungsgericht, das in seinem Urteil der Schwangeren für die gesamte Schwangerschaftszeit das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und ihr Leben absprach und der »Leibesfrucht« rechtlichen Vorrang über die Frau einräumte.
Im Jahr 1976 wurde dann die Indikationslösung geschaffen, die Beibehaltung der Kriminalisierung mit straffreien Ausnahmen: bei gesundheitlicher Gefährdung der Frau, schwerer Schädigung des Fötus, Vergewaltigung oder einer Notlage, der »sozialen Indikation«.
Der Fortschritt dieser erbärmlichen Reform lag lediglich darin, dass bedingt durch den gesellschaftlichen Aufbruch dieser Zeit Einrichtungen wie Pro Familia Frauen den »Schein« aufgrund einer sozialen Notlage ohne große Demütigung ausstellten und es einfacher wurde, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Vor allem SPD-Länder erlaubten die Einrichtung von ambulanten Einrichtungen.
Auf der anderen Seite setzte der Kampf der christlichen Rechten und Konservativen selbst gegen diese Lockerung unmittelbar ein. Konfessionell betriebene Kliniken wurden angewiesen, keine Abtreibung vorzunehmen. Viele Ärztinnen und Ärzte weigerten sich aus »Gewissensgründen«. Als im Jahr 1979 ein Familienberatungszentrum in Essen eröffnet werden sollte, mobilisierte der Essener Bischof 20.000 Katholiken zu einer Protestdemonstration.
Ende der 1980er Jahre kam es zu einem skandalösen Prozess gegen Horst Theissen, einen Frauenarzt aus Memmingen, der Abbrüche vorgenommen hatte. Seine Kartei wurde beschlagnahmt, weit über 100 Frauen wurden an die Öffentlichkeit gezerrt und mussten »Bußgelder« bis zu 3.200 Mark zahlen. Zu diesem Verfahren war es gekommen, weil Bayern wie Baden-Württemberg und Niedersachsen den ambulanten Schwangerschaftsabbruch verboten hatte. Gleichzeitig gab es bayerische Ärzte, die »gebärunwillige Frauen« und »zügellose Abtreibung« verurteilten, aber einen Abort suchende Frauen zu einer Ärztin nach Österreich schickten, die ihnen im Gegenzug eine großzügige Provision zahlte.
Die DDR – Abschaffung der Kriminalisierung
In der DDR flammte nach 1945 die Diskussion über den Paragrafen 218 wieder auf, wobei Vertreter der KPD und auch SPD mit Blick auf die Weimarer Tradition für seine Abschaffung eintraten. Allerdings hatte die Sowjetunion im Jahr 1920 Abtreibung legalisiert, unter Stalin aber im Jahr 1936 im Rahmen der Konsolidierung der Macht seines Apparats und Rückkehr zu einer konservativen Sexual- und Familienmoral wieder weitestgehend verboten. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) folgte dem repressiven Kurs. Auch wenn es den Paragrafen 218 in der DDR nie gab, wurde nach Paragraf 11 im Mutter- und Kinderschutzgesetz ab 1950 Schwangerschaftsabbruch bestraft, außer im Fall der gesundheitlichen Gefährdung der Frau oder bei Belastung durch eine schwere Erbkrankheit. Diese wenigen Indikationen, die nicht einmal Vergewaltigung vorsahen, wurden später erweitert, auch weil es für den Ersten Frauenkongress von 1964 schon mehr als 13.000 Anträge für eine Lockerung der Bestimmungen gegeben hatte.
Im Jahr 1972 wurde Schwangerschaftsabbruch ganz aus dem Strafrecht genommen mit der Freigabe des Abbruchs bis zum dritten Monat, und anschließend nach Beurteilung seitens einer ärztlichen Kommission. Es war die einzige nicht einstimmige Verabschiedung eines Gesetzes. Das war in jedem Fall eine erhebliche Verbesserung im Gegensatz zur BRD, aber auch zurückzuführen auf die laute Bewegung im Westen.
Andererseits kam diese Liberalisierung deutlich später als in der Sowjetunion und bald darauf in mehreren Ostblockländern, die diesen Schritt schon nach der bedingten Entstalinisierung im Jahr 1955 gegangen waren. Nicht zuletzt hatten DDR-Frauen in den »sozialistischen« Nachbarländern Hilfe gesucht. Zudem begegneten Frauen auch nach der Entkriminalisierung in der DDR Vorurteilen und Diskriminierung, wenn sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollten.
Die Frau als »embryonales Umfeld«
Mit dem Zusammenschluss der deutschen Staaten nach 1989 wurde auch den Frauen der DDR wieder der Paragraf 218 aufgezwungen – seitdem gilt Straflosigkeit der Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate nach einer Zwangsberatung und danach einer Wartezeit von drei Tagen.
Unmittelbar nach der »Wende« gab es Protestaufrufe ost- und westdeutscher Frauenorganisationen dagegen, Frauen zum »embryonalen Umfeld herabzuwürdigen«, wie die damalige PDS-Politikerin Petra Bläss schrieb. Die PDS/Linke Liste knüpfte an die Forderung der Kampagne der Weimarer Republik nach ersatzloser Streichung von Paragraf 218 an und brachte ein Gesetz ein, mit dem festgeschrieben werden sollte, dass Frauen über das Austragen der Schwangerschaft ohne Zwangsberatung selbst entscheiden sollten.
Christliche Fundamentalisten, die sich Lebensschützer nennen, verschickten Plastikembryos und Videokassetten an die Abgeordneten. Am Ende stand ein Kompromiss, bei dem vor allem die CDU umgarnt werden sollte. Bläss war die Einzige, auch in ihrer Partei, die dagegen stimmte und daran festhielt, dass der Kampf für die »grundsätzliche Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, also für die ersatzlose Streichung des Schandparagrafen 218« gehen muss, »denn alle Erfahrungen haben gezeigt, dass Kompromisse nichts bringen«.
Wo stehen wir heute?
»Weg mit Paragraf 218!« bleibt auch nach 150 Jahren eine notwendige Forderung. Dieser Paragraf ist ein Kernstück der Frauenunterdrückung und -bevormundung und er bleibt ein Klassenparagraf. Bei Teenagerschwangerschaften kamen nach einer Studie von Pro Familia und Diakonie aus dem Jahr 2006 über 50 Prozent von der Hauptschule und 10 Prozent vom Gymnasium. Bei Mehrfachschwangerschaften waren es 70 Prozent respektive 4 Prozent.
Die Diskussion über Paragraf 219 a hat eine breite Kampagne hervorgerufen. Angesichts der Möglichkeit eines erneuten Regierungseintritts ließ die SPD ihre vollmundig vorgetragene Forderung nach einer Abschaffung dieses Naziparagrafen gleich wieder fallen. Die soeben zurückgetretene, eher rechts stehende Familienministerin Franziska Giffey unterzeichnete einen schäbigen Deal, Reform genannt, mit Jens Spahn von der CDU, der in der Praxis keinen Deut ändert.
Seit Jahren wachsen Aufmärsche mit der AfD verbundener christlicher Fundamentalisten an. Die Möglichkeiten für einen Schwangerschaftsbbruch verringern sich. Es gibt Städte, in denen Frauen weder in einer Klinik noch in einer Arztpraxis Zugang dazu kommen. In der Medizin gehört die Vornahme eines Abbruchs wegen seiner Kriminalisierung immer noch nicht zur Ausbildung.
International betrachtet ist in Polen der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch inzwischen fast ausgeschlossen, trotz einer riesigen Protestbewegung. Das geht Hand in Hand mit der Herausbildung eines autokratischen Regimes und im Bündnis mit der katholischen Kirche.
In Irland und Argentinien wurde endlich das Rechte auf Schwangerschaftsabbruch erkämpft. Dieser Kampf erstreckte sich teils über Jahrzehnte und erforderte den Aufbau großer, nicht nachlassender Kampagnen.
Wir haben also ein gemischtes Bild. Für Linke bleibt die Aufgabe, für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben zu kämpfen – und auch das der Partnerin oder des Partners, denn Schwangerschaftsabbruch ist nicht nur »Frauensache«. Jede erkämpfte Reform ist eine Erleichterung, und wir haben gute Vorbilder für Kampagnen wie die der Weimarer Republik und der 1970er Jahre. Gleichzeitig wird Frauenunterdrückung und der Druck, ein Kind auszutragen, oder die Beschneidung des Rechts auf ein Kind, innerhalb des Kapitalismus mit seinem System der Ausbeutung und Unterdrückung nicht verschwinden. Wir werden also nicht nur für Reformen in diesem System, sondern auch für seine Abschaffung kämpfen müssen. Was erreicht werden kann, das zeigte für eine kurze Zeit die Russische Revolution.
Weiterlesen:
Rosemarie Nünning, Silke Stöckle (Hrsg.)
Dein Bauch gehört Dir: Der Kampf für das Recht auf Abtreibung
Edition Aurora
Berlin 2018
84 Seiten
4,50 Euro
Foto: Inge Werth / commons.wikimedia.org
Schlagwörter: Abtreibung, Frauenbewegung, Paragraf 218, Schwangerschaftsabbruch, §219a