Dass die große Koalition die gesetzliche Neuregelung des Paragrafen 219a als »Kompromiss« verkauft, ist ein Hohn. Denn damit werden Positionen radikaler Abtreibungsgegner und christlicher Fundamentalisten hoffähig gemacht. Von Silke Stöckle
Seit über einem Jahr – seit der Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel, weil sie auf ihrer Internetseite über Schwangerschaftsabbrüche informierte –, gibt es eine erhitzte gesellschaftliche Debatte über den Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch, der die Überschrift »Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft« trägt. Danach macht sich strafbar, wer »seine Dienste« dazu »anbietet, ankündigt, anpreist«. Dieser Paragraf wurde im Mai 1933 erlassen und wird deshalb in der Kampagne zur Verteidigung Hänels zu Recht als Naziparagraf gebrandmarkt. Seither besteht er mit ein paar Veränderungen fort.
Ende Januar legten nun die Ministerinnen und Minister Katarina Barley und Franziska Giffey (SPD), Jens Spahn und Helge Braun (CDU) sowie Horst Seehofer (CSU) einen Gesetzesentwurf zur »Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch« vor. Er basierte auf einem im Dezember vorgelegten Eckpunktepapier. Kristina Hänel hatte sich mit weiteren betroffenen Ärztinnen bereits entsetzt über dieses Ergebnis geäußert: »Bei genauerem Hinsehen erweist sich der als Kompromiss ausgegebene Vorschlag als Nullnummer«, schreiben sie.
Mit der Gesetzesänderung bleibt der Paragraf 219a bestehen, inklusive der Strafandrohung von zwei Jahren Gefängnis. Ärztinnen und Ärzten bleibt es weiterhin verboten, über Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Sie dürfen lediglich über die »Tatsache« informieren, dass sie Abbrüche durchführen, alle darüber hinausgehenden Informationen bleiben verboten. Es soll hierfür auf die Internetseiten staatlicher Stellen verwiesen werden. Über eine Änderung im Schwangerschaftskonfliktgesetz wird die Bundesärztekammer verpflichtet, eine Liste mit Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche durchführen, online zu stellen. In dieser Liste sind aber nur diejenigen erfasst, die sich dort melden und eintragen lassen. Hierfür hätte es diese Gesetzesänderung jedoch nicht gebraucht. Im Gegenteil hätte die Bundesregierung solche Informationen längst bereitstellen können – und auch müssen, um ungewollt Schwangeren das Auffinden von ärztlicher Versorgung in ihrer Nähe zu ermöglichen.
Neuer Paragraf 219a – Angriff auf Frauenrechte
Dass die Große Koalition aus SPD und CDU/CSU diese Einigung über den Paragrafen 219a als »Kompromiss« verkauft, ist ein Hohn. Faktisch handelt es sich um einen Angriff auf die erkämpften Rechte von Frauen und sexuelle Selbstbestimmung. Abgesehen davon, dass es keinerlei Rechtssicherheit für Fälle wie den von Kristina Hänel bietet, wurden schon in dem »Kompromisspapier« vom Dezember Positionen radikaler Abtreibungsgegner und christlicher Fundamentalisten eins zu eins wiedergegeben.
Im ersten Punkt wird behauptet, dass »die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor hoch« sei. Aktuell sind es etwa 100.000 Abbrüche pro Jahr, vor 20 Jahren waren es 16.000 mehr. Tendenziell ist die Zahl der Abbrüche gesunken. Nur die christlich-fundamentalistischen »Lebensschützer« und ähnliche rechte Ideologen skandalisieren die Anzahl der Abtreibungen und übertreiben oft noch die Zahlen. Es ist hoch besorgniserregend, dass führendes Personal bürgerlicher Parteien einschließlich der SPD dem folgt und die CSU-Landesgruppe im Bundestag, die sich von dem ständigen Druck der AfD treiben lässt – auf ihrer Klausurtagung im Januar diese Positionen für ihre parlamentarische Arbeit übernommen hat.
Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch
Die christlichen Fundamentalisten wollen die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch radikal einschränken oder ganz verbieten, sie greifen das Recht von Frauen auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und ihren Lebensentwurf mit Partner oder Partnerin massiv an. Ihre Argumentationslinien verlaufen immer entlang des »Lebensschutzes«: Sie reden davon, dass das »Kind im Mutterleib« »getötet« wird. Radikalere Vertreter bezeichnen deswegen auch Ärztinnen, die Schwangerschaftsabbruch vornehmen, als Massenmörder oder relativieren sogar mit dem Begriff vom »Babycaust« den Holocaust.
In Punkt fünf des Papiers von Dezember geht es um die Qualität der Versorgung von Frauen. Statt jedoch auf die mangelnde Anzahl an Arztpraxen und Kliniken einzugehen oder darauf, dass vielen angehenden Ärztinnen und Ärzten die Qualifikation zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs fehlt, weil die Methoden nicht gelehrt werden, wird eine wissenschaftliche Studie zu »Häufigkeit und Ausprägung seelischer Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen« angekündigt. Per Kabinettsbeschluss soll diese auf vier Jahre angelegte Studie mit 5 Millionen Euro finanziert werden. Hier wird also von vornherein unterstellt, dass Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch unter dem »Post-Abortion-Syndrom« (PAS) leiden, also einer posttraumatischen Belastungsstörung wie bei psychisch erkrankten Kriegsteilnehmern.
Mythos »Post-Abortion-Syndrom«
Die Behauptung eines PAS ist eine Erfindung radikaler Abtreibungsgegner, um sich als Schützer von Fraueninteressen auszugeben. In den USA bot die katholische Kirche bereits Anfang der 1980er Jahre seelische Beratung für die Zeit nach der Abtreibung an. Ende der 1980er Jahre beauftragte der US-Präsident Ronald Reagan den Leiter der Gesundheitsbehörde, Everett Koop, mit einer Studie, um das »Post-Abortion-Syndrom« zu beweisen. Koop, selbst Abtreibungsgegner, durchforstete 250 Studien über Abtreibung und konnte kein PAS finden, weshalb er das Ergebnis zunächst unterdrücken sollte. Seitdem gab es viele weitere Studien, die ebenfalls kein PAS nachweisen konnten.
Selbst auf der Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist zu lesen: »Die internationale Studienlage zeigt allerdings, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg für das PAS gibt. […] Wissenschaftliche Studien kommen zu dem Schluss, dass ein Abbruch allein das Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen nicht erhöht.« Und sogar: »Viele Frauen fühlen sich nach dem Schwangerschaftsabbruch erleichtert.«
Es handelt sich also um einen längst widerlegter Mythos, mit dem radikale Abtreibungsgegner Ängste vor einem Abbruch schüren und Frauen in Notsituationen psychisch unter Druck zu setzen versuchen.
Konservative Kräfte im Aufwind
In dem Papier der Regierungskoalition wurde also handfeste Ideologie der radikalen Abtreibungsgegner formuliert. Nicht verwunderlich, da Jens Spahn und die neue CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer in Fragen der Familienpolitik und sexueller Selbstbestimmung einen deutlichen Rechtskurs eingeschlagen haben. Kramp-Karrenbauer erklärte auf Twitter: »Der Schutz des Lebens, ungeborenes und geborenes, hat für CDU überragende Bedeutung.« Deshalb sei es gut, dass das Werbeverbot bleibe. Jens Spahn wandte sich gegen die rezeptfreie »Pille danach« mit dem Argument, es handele sich nicht um »Smarties«.
Konservative Kräfte und Ideologien sind seit einigen Jahren im Aufwind, das lässt sich auch an der Besetzung der Ministerinnen- und Ministerposten nach der letzten Wahl ablesen, an den Positionsverschiebungen in Union und SPD, einer Neubetonung konservativer und christlicher »Werte«. Sie versuchen damit unter anderem, wie schon in der Frage von Rassismus, auch hier der AfD das Wasser abzugraben, die mit der Forderung nach Totalkriminalisierung von Schwangerschaftsabbruch Wahlkampf gemacht hat. Die AfD ist zum parlamentarischen Arm der »Lebensschutzbewegung« geworden und inzwischen in allen Landesparlamenten und im Bundestag vertreten. Sie buchstabieren aus, wie sie sich eine durch repressive Gesetze streng regulierte Gesellschaft vorstellen. Dabei ist ihre Kampagne gegen Schwangerschaftsabbruch rassistisch und völkisch angelegt – »deutsche Frauen« sollen »deutsche Kinder« bekommen.
Für ein besseres Leben
Gleichzeitig interessieren sich diese Parteien nicht im Geringsten für die Lebenden, wie ihre neoliberale, für Eliten maßgeschneiderte Politik überdeutlich zeigt. Alleinerziehende leben in größter Armut, Kinder sind bereits Hartz-IV-Empfänger, bei der Pflege eines behinderten Kindes muss um jede Leistung, um jeden Cent Unterstützung gekämpft werden, und Kinder stellen allzu oft ein Armutsrisiko dar und beschränken die Möglichkeit, in die Arbeitswelt einzutreten. Insofern stimmt es, dass diese Verhältnisse keine wirklich freie Entscheidung für oder gegen ein Kind ermöglichen.
Auch deshalb müssen wir den Kampf für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verbinden mit dem Kampf für die Verbesserung der Lebens- und Einkommenssituation von Frauen, von Familien, der Arbeiterklasse insgesamt. Hier ist ein echter Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen von zentraler Bedeutung und es ist notwendig, dass sich Gewerkschaften verstärkt in die Debatte über die Streichung der Strafparagraphen 218/219 einmischen. Denn Schwangerschaftsabbruch ist eine Klassenfrage.
SPD fällt eigenen Frauen in den Rücken
Wir erleben starken Wind von rechts, Politik wird verstärkt wieder auf dem Feld von Frauenrechten ausgetragen. Bisher standen wir vor einer Bewegung »von rechts unten«, die die erkämpften Rechte auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung angegriffen hat.
Mit der verabschiedeten Gesetzesänderung von CDU und SPD ist dieser Druck von der Regierungspolitik aufgenommen worden. Die SPD hat abermals bewiesen, dass auf sie kein Verlass ist. Ihre Regierungsführung setzt sich über die Parteiposition nach Streichung des Paragrafen 219a hinweg und fällt den Jungsozialisten, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen sowie dem Landesverband NRW in den Rücken, die seit Monaten von ihrer Führung fordern, der Abschaffung zuzustimmen. Der heiligen Regierungsbeteiligung werden rücksichtslos Rechte von Frauen geopfert.
Deshalb ist es umso wichtiger, breite Strukturen wie die Bündnisse für sexuelle Selbstbestimmung bundesweit zu etablieren und zu festigen, um diesen ideologischen und politischen Angriffen entgegentreten zu können.
Paragraf 218 und 219a streichen
Wir müssen für die Streichung der Paragraphen 218/219 und für gleiche Rechte wieder Tausende und Abertausende auf die Straße bringen, wie es mit den Demonstrationen gegen die Märsche der radikalen Abtreibungsgegner in vielen Städten bundesweit gelungen ist, ebenso wie mit den Massendemonstrationen zum Internationalen Frauentag am 8. März 2019 oder internationalen Frauenstreiks. Der Kampf für die Abschaffung des Paragrafen 218 ist fast so alt wie seine bald einhundertfünfzigjährige Existenz und zeigt auch, dass erkämpfte Rechte in der kapitalistischen Gesellschaft immer bedroht sind. Deshalb sollten wir auch einen Blick auf eine andere Geschichte werfen: die proletarische Frauenbewegung und die Russische Revolution, die zum ersten Mal die Perspektive der Aufhebung von Frauenunterdrückung und echter Gleichheit geboten hat.
Die Autorin:
Silke Stöckle ist im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung aktiv und Mitglied von DIE LINKE in Berlin-Neukölln. Sie ist Mitherausgeberin von »Dein Bauch gehört dir« (Edition Aurora 2018).
Foto: linksfraktion
Schlagwörter: Abtreibung, Feminismus, Frauen, Inland, Schwangerschaftsabbruch, §218, §219a