Auch mehr als 60 Jahre nach seiner Ermordung gilt Patrice Lumumba als eine der legendärsten Führungsfiguren des antikolonialen Widerstands in Afrika. Die afrikanischen Sozialist:innen Stanley Sithole, Narh Tei-Kumadoe, Naa Adjeley Laryea, Edmore Chinondidyachii Rujato und Munya Gwisai blicken zurück auf das Leben des kongolesischen Unabhängigkeitskämpfers Patrice Lumumba.
Menschen, die unterdrückt werden, können nicht ihre eigene Befreiung planen, ohne vorher über ihre eigene Geschichte nachzudenken. Patrice Emery Lumumba, der erste Premierminister der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo, ist eine der herausragendsten Figuren der antikolonialen Kämpfe in Afrika.
Das zeigte sich exemplarisch am dramatischen Unabhängigkeitstag, dem 30. Juni 1960. Lumumba griff den belgischen König Baudouin an, als dieser die »zivilisatorische Mission« seines Vorgängers König Leopold lobte.
Der mörderische Terror belgischer Kolonialherrschaft
Unter der Herrschaft von Leopold wurden von 1885 bis 1908 neun Millionen Kongoles:innen getötet. Tausenden wurden von seinen Militärs die Hände abgehackt, weil sie die von den Kolonialist:innen geforderten harten Quoten an Kautschuk nicht geliefert hatten. Dieses Regime wurde von multinationalen Unternehmen wie UMHK, einem Konsortium aus belgischen und britischen Bergbauunternehmen und Banken, unterstützt, genau wie von der katholischen Kirche, die Leopold aufforderte, im Sinne des Kolonialismus »unsere Wilden von den Reichtümern abzuhalten, die in ihrer Erde reichlich vorhanden sind, damit sie nicht eines Tages davon träumen, euch zu stürzen.«
Feind des westlichen Imperialismus
Doch als Reaktion auf Baudouins Lob für Leopold bedankte sich der neue Präsident Joseph Kasavubu verlegen beim König. Sein Premierminister Lumumba wies die belgische Darstellung in einer außerplanmäßigen Rede jedoch empört zurück und erklärte, die Unabhängigkeit sei die Krönung des heroischen nationalen Kampfes gegen die Sklaverei. Lumumba wurde auf der ganzen Welt gefeiert. Malcolm X nannte ihn »den größten lebenden Afrikaner«. Von diesem Moment an hatte Lumumba für die Imperialist:innen die rote Linie überschritten. Es ging Schlag auf Schlag. Der Westen verschwor sich mit den kongolesischen Eliten, um Lumumba abzusetzen und zu töten.
Lumumbas bescheidene Wurzeln
Lumumba wurde 1925 in eine Bauernfamilie in der Provinz Kasai geboren. Seine Politik wurde jedoch durch seinen Aufstieg in die schwarze Mittelschicht, den damals sogenannten »Évolués« (französisch ungefähr für die »Entwickelten«), geprägt. Zu ihnen gehörten Angestellte, Krankenpfleger:innen oder Lehrer:innen. Die Évolués ahmten den europäischen Lebensstil nach und verachteten die »unzivilisierten« Massen. Als Autodidakt und später ausgebildeter Postbeamter gehörte Lumumba 1955 zu den oberen Schichten der Évolué-Gesellschaft. Seine Kinder besuchten Schulen für Weiße, und er leitete die Évolué-Vereinigung in Stanleyville und später in der Hauptstadt Leopoldville.
Als Anhänger der radikalen Intellektuellen der europäischen Aufklärung unterstützte Lumumba 1956 zusammen mit anderen die Forderung des belgischen Professors Anton Van Bilsen nach Unabhängigkeit innerhalb von 30 Jahren. In den 1950er Jahren bildeten sich nationalistische Parteien, die weitgehend ethnisch und regional ausgerichtet waren.
Die Allianz des Kongo-Volkes (Akado) unter der Führung von Kasavubu trat für den ethnischen Nationalismus der Bakongo und die sofortige Unabhängigkeit ein. In Katanga führte Moïse Tschombé die regionalistische und antikommunistische Konföderation der Vereinigungen von Katanga (Conakata) an.
Die von Lumumba angeführte Kongolesische Nationalbewegung (MNC, Mouvement National Congolais) forderte einen Einheitsstaat und die Unabhängigkeit »innerhalb einer angemessenen Frist«. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in das er 1957 wegen Unterschlagung am Arbeitsplatz gekommen war, wurde Lumumba auch von Kwame Nkrumah, dem späteren Präsidenten Ghanas beeinflusst. Die Évolués strebten einen neuen Staat an, in dem sie mit dem Westen als Juniorpartner im zweitgrößten Industrieland Afrikas zusammenarbeiten würden. Der Kongo war ein weltweit führender Produzent von Diamanten, Kupfer, Gold, Kobalt, Coltan und Uran. Letzteres wurde in den Atombomben der USA verwendet.
Die Macht der Arbeiterklasse
Aber es gab eine noch mächtigere Quelle des Widerstands. Mit der Industrialisierung des Kongo wuchs eine Arbeiterklasse heran, die Ende der 1950er Jahre auf eine halbe Million Menschen angewachsen war. Viele von ihnen strömten in die nationalistischen Parteien.
Ihr militanter Ansatz und ihre radikalen Forderungen – wie die nach sofortiger Unabhängigkeit – führten zu Spannungen mit den meisten Évolués. Sie radikalisierten jedoch einen kleinen Teil davon, so auch Lumumba.
Die Évolués fühlten sich von einer nationalistischen Bewegung angezogen, die ihnen den Weg an die Spitze eines von den Fesseln des Imperialismus befreiten Landes öffnen konnte. Aber sie fürchteten auch, dass die Kämpfe der Arbeiter:innen zu einer sozialistischen Revolution eskalieren könnten.
Nach der Russischen Revolution von 1905 vertrat der junge Sozialist Leo Trotzki die Theorie, dass die Kapitalist:innen und Eliten der spät wirtschaftlich entwickelten Staaten aufgrund dieser Ängste und ihrer Unterordnung unter den Imperialismus nicht in der Lage wären, die Kämpfe für Demokratie, nationale Unabhängigkeit und Entwicklung wirksam anzuführen, anders als in Europa und in den USA. In kritischen Phasen würden solche Eliten aus Angst vor einer Revolution Kompromisse mit der alten Ordnung eingehen. Nur Arbeiter:innen, die mit den Bäuerinnen und Bauern verbündet sind, könnten die Führung übernehmen. Aber ihre Kämpfe müssten sich zu einer sozialistischen Revolution ausweiten. Er nannte dies »permanente Revolution«. Die Ereignisse nach 1959 gaben Trotzki Recht.
Der Wendepunkt waren die antieuropäischen Aufstände von 35.000 Arbeiter:innen und Arbeitslosen am 4. Januar 1959 in Leopoldville. Er wurde von der »Force Publique« des belgischen Generals Janssens niedergeschlagen, wobei bis zu 500 Menschen getötet wurden.
»Tag der Märtyrer«
Der »Tag der Märtyrer« war ein Massaker. Aber er markierte den Eintritt der Arbeiterklasse als entscheidende Kraft in die antikolonialen Kämpfe und gab ihnen eine revolutionäre Richtung. Unruhen und Demonstrationen breiteten sich landesweit aus.
Um der aufkommenden Revolte zuvorzukommen, kündigten der in Panik geratene belgische Staat an, dass die Unabhängigkeit auf den 30. Juni 1960 vorgezogen würde.
Lumumbas MNC gewann bei den Wahlen vor der Unabhängigkeit die meisten Sitze, jedoch keine Mehrheit. Das Ergebnis war eine Koalitionsregierung mit Kasavubu als Präsident und Lumumba als Premierminister. Der belgische Staat setzte darauf, dass die Unabhängigkeit zur Herrschaft einer neokolonialen schwarzen Elite führen würde, welche seine Interessen schützen würde. Doch die Eliten waren schwach, gespalten und unerfahren – und sie sahen sich einer militanten Arbeiterklasse gegenüber. Schon wenige Tage nach der Unabhängigkeit brach der Konflikt aus. Die Massen erwarteten ernsthafte Verbesserungen in ihrem Leben.
Doch am 5. Juli erklärte Janssens seinen Soldaten in der Nähe von Leopoldville, dass es keine wirklichen Veränderungen geben würde: »Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit«, schrieb er auf eine Tafel. Dies löste eine Meuterei aus, die sich landesweit zu Volksaufständen ausweitete, bei denen Weiße, Geschäfte und Kirchenbesitz angegriffen wurden. Janssens forderte die Entsendung belgischer Truppen.
Lumumba machte Zugeständnisse, um die Massen zu beruhigen, und löste Janssens ab. Er beförderte schwarze Soldaten und ersetzte weiße Kommandeure. Nun taktierte Belgien mit seinen lokalen Verbündeten, um Lumumba zu zerstören. Zunächst teilten sie das Land auf.
Tschombé, unterstützt von Belgien und der UMHK, spaltete die Provinz Katanga ab. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) Dag Hammarskjold, von dem Lumumba glaubte, dass er die Entkolonialisierung unterstützen würde, weigerte sich einzugreifen.
Stattdessen schützten UN-Truppen das abtrünnige Katanga-Regime. Lumumba sah sich nach neuen Verbündeten um und wandte sich Russland zu. Das bedeutete, dass die westlichen Imperialisten ihre Bemühungen, ihn zu beseitigen, verdoppelten.
Lumumba unterstützte zeitweise eine umfassende Mobilisierung für die Volksaufstände. Zu anderen Zeiten bevorzugte er einen vorsichtigen Ansatz, der auf persönlichem Charisma und Appellen an afrikanische Staaten, die UNO, die USA und später an Russland beruhte. Die Massen, die den Belgiern so viel Angst eingejagt hatten und den Kongo hätten umgestalten können, wurden mehr und mehr zu Zuschauer:innen eines Prozesses an der Spitze der Gesellschaft.
Ein Tragisches Ende
Kasavubu setzte Lumumba am 5. September ab. Bald darauf folgte ein von den USA unterstützter Putsch unter der Führung von Oberst Joseph Mobutu. Lumumba entkam im Dezember dem Hausarrest, wurde aber von Mobutus Truppen mit Unterstützung der USA und der UNO gefangen genommen. Er wurde nach Katanga gebracht, wo Tschombés Soldaten unter belgischer und amerikanischer Führung ihn und zwei seiner Kameraden am 17. Januar 1961 hinrichteten. Seine Leiche wurde in Stücke geschnitten, in Säure aufgelöst und ein paar Zähne als Trophäen zurückgelassen.
Der Mord an Lumumba löste in Jugoslawien, London und New York Empörung und Demonstrationen aus. Es folgten die Kongo-Krise, ein Stellvertreterkonflikt des Kalten Krieges und Bürgerkriege mit 100.000 Toten. Bei den Simba-Aufständen von 1964 riefen pro-lumumbistische Kräfte und Bauern eine »kommunistische« Volksrepublik Kongo aus. Sie wurden von einigen afrikanischen Staaten und Kuba unterstützt, das kurzzeitig Che Guevara zu Hilfe schickte. Doch die Volksrepublik wurde nach einer Intervention der USA, Belgiens und der UNO zerschlagen.
Mobutu kam 1965 durch einen weiteren, von den USA unterstützten Staatsstreich an die Macht. Mit US-amerikanischer und westlicher Unterstützung errichtete er bis 1997 eines der grausamsten und korruptesten diktatorischen Regime in der Geschichte Afrikas.
Die Geschichte Lumumbas ist auch heute noch aktuell. Wie der radikale belgische Historiker Ludo De Witte schrieb:
»Dieses Drama ist viel mehr als eine alte tote und vergangene Geschichte. Es ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wozu die westlichen herrschenden Klassen fähig sind, wenn ihre vitalen Interessen bedroht sind. Ein Attentat wird dann zu einem nützlichen Mittel.
Die Morde an Lumumba, Rosa Luxemburg, Félix Moumié und Malcolm X, sowie die Massaker in Guernica, Buchenwald, Dresden, Hiroshima und My Lai sind Ausdruck eines Systems, das Menschen zu Bestien macht.«
Antikoloniale Geschichte schreiben
Lumumba hat zwar Fehler gemacht und sein antikolonialer Widerstand konnte letztlich nicht erfolgreich sein. Aber seine kühne Erklärung im Angesicht des Todes ist heute noch so wahr wie damals:
»Der Tag wird kommen, an dem die Geschichte sprechen wird. Aber es wird nicht die Geschichte sein, die in Brüssel, Paris, Washington oder bei den Vereinten Nationen gelehrt wird. Es wird die Geschichte sein, die in unseren Ländern gelehrt wird, die die Freiheit vom Kolonialismus und seinen Marionetten gewonnen haben. Afrika wird seine eigene Geschichte schreiben, und es wird eine Geschichte von Ruhm und Würde sein.«
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Socialist Worker.
Autor:innnen: Stanley Sithole, Narh Tei-Kumadoe, Naa Adjeley Laryea, Edmore Chinondidyachii Rujato und Munya Gwisai
Übersetzung von Helena Zohdi
Foto: Gary Stevens
Schlagwörter: Antiimperialismus, Antikolonialismus, Kongo, Unabhängigkeitsbewegung