Letztes Jahr gingen weltweit so viele Menschen wie lange nicht auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Menschen in Palästina auszudrücken. Auch in Deutschland kam es zu Protesten. Jedoch ist die deutsche Linke im internationalen Vergleich äußerst zögerlich. Wir sprachen mit Ramsis Kilani darüber, wie sich das ändern lässt
Palästinasolidarität des vergangenen Jahres
Ramsis, letztes Jahr gingen im Mai Hunderttausende von Menschen weltweit zum Tag der Nakba, der Massenvertreibung der Palästinenser im Jahr 1948, auf die Straße. Wie kam es dazu?
In Palästina begann die Eskalation im Mai 2021 mit der anstehenden Umsetzung von Zwangsräumungen in Scheikh Jarrah, einem Stadtteil von Jerusalem. Die Vertreibung der palästinensischen Familien durch die israelische Besatzungsmacht muss im Kontext der von der israelischen Regierung stadtplanerisch verfolgten Änderung der ethnischen Zusammensetzung im illegal annektierten Ostjerusalem gesehen werden.
Die Palästinenser:innen werden systematisch durch Siedler:innen ersetzt.
Schon davor kochte die Stimmung aufgrund von Schikanen rund um das Damaskustor und den Tempelberg. Die Proteste wurden von den israelischen Besatzungstruppen in Sheikh Jarrah, auf dem Tempelberg und in der Al-Aqsa-Moschee brutal niedergeschlagen. Palästinensische Gruppen im Gazastreifen reagierten mit Raketenbeschuss. Das elftägige Massaker der israelischen Armee in Gaza, bei dem 248 Palästinenser:innen getötet wurden, veranlasste Palästinenser:innen im Westjordanland und selbst in israelischen Städten wie Haifa aufzubegehren.
Seinen Höhepunkt erreichte der palästinensische Widerstand mit einem Generalstreik von Millionen Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, durch den die israelische Wirtschaft alleine in der Bauindustrie an einem Tag 40 Millionen US-Dollar verlor.
Mit diesem übergreifenden Lauffeuer verschiedenster Formen des Widerstands durchbrach die palästinensische Bevölkerung kurzzeitig die koloniale Fragmentierung des ihnen auferlegten Apartheidregimes zwischen Jordan und Mittelmeer. Es war die Rede von einer »Intifada der Einheit«.
Wie sah es international aus?
International lösten die Vorfälle vor Ort die größte Palästina-Bewegung der letzten Jahrzehnte aus. Unter der Oberfläche schlummert aber noch mehr. Tatsächlich hat die Bewegung Black Lives Matter den Boden bereitet für eine spürbare Veränderung der Kräfteverhältnisse und eine überraschende Diskursverschiebung, allen voran in den USA. Zum einen entstand durch die weltweite antirassistische Bewegung eine neue Sprech- und Handlungsfähigkeit sowie ein neu erwachtes Selbstbewusstsein unter von Rassismus betroffenen Personen und Gruppen. Zum anderen wurde die Doppelmoral bezüglich Polizeigewalt und institutionalisiertem Rassismus in Bezug auf Palästina aufgrund der Vorerfahrungen offensichtlicher.
Von Black Lives Matter zur Freiheit für Palästina
Die Führung der Black-Lives-Matter-Bewegung sprach sich für die Unterstützung der Palästinenser:innen und der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) aus. Die scheinbar plötzliche Entwicklung hat viel von der Metapher, die Marx in Rückbezug auf Hegels Dialektik nutzt, in der ein Maulwurf »umsichtig unter der Erde das Terrain vorbereitet, um eines Tages ans Licht zu kommen«. Die antirassistische Bewegung grub unbemerkt unter der Erdoberfläche, eine gestärkte Palästinasolidarität brach im entscheidenden Moment mit ihr hervor: Zufällig begann die Eskalation kurz vor dem Tag der Nakba. Das führte zu den Massenprotesten am 15. Mai.
Was bedeutet »Nakba«?
Das arabische Wort Nakba bedeutet auf Deutsch so viel wie Katastrophe. Die Palästinenser:innen halten jährlich am 15. Mai mit dem Tag der Nakba das Gedenken an die Entwurzelung und Vernichtung ihrer Gesellschaft aufrecht. Vor, während und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 wurden etwa 750.000 Palästinenser:innen vertrieben und in die Flucht gezwungen. Zehntausende Palästinenser:innen verloren ihr Leben. Zionistische Milizen verübten Massaker, es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Im Sinne einer ethnischen Säuberung wurden palästinensische Besitztümer enteignet, über 500 Städte, Dörfer und Stadtteile zwangsgeräumt und zum großen Teil zerstört. Hinterlassen wurde eine entwurzelte, traumatisierte und in ihren Grundfesten erschütterte palästinensische Gesellschaft.
Die andauernde Nakba
Welchen Bezug haben die Menschen in Palästina heute nach 74 Jahren dazu?
Mit der Nakba fand die ethnische Säuberung Palästinas ihren Höhepunkt. Aber weder war dies der Anfang der zionistischen Politik ethnischer Säuberung noch das Ende. Es existieren Dokumente von Hilfsgesuchen, in denen palästinensische Beduin:innen bereits im Jahr 1890 unter dem Osmanischen Reich klagen, dass zionistische Siedler:innen sie enteigneten und ethnische Säuberung betrieben. Eine bekanntere Vertreibungswelle vor der Nakba war die ethnische Säuberung der 8.000 Fellach:innen des Jesreeltals im Jahr 1921.
Angesichts des andauernden Siedlungsbaus und Landraubs kann man sagen, dass die Nakba nie zu einem Ende kam. Sie ist fortlaufend. Das ist gemeint, wenn Palästinenser:innen heute davon sprechen, dass jede israelische Stadt einmal Sheikh Jarrah war. Sie wollen die Geschehnisse in Sheikh Jarrah in ihren historischen Kontext fortlaufender Siedlungskolonisierung und ethnischer Säuberung einordnen.
Auch in Deutschland demonstrierten 2021 tausende Menschen in verschiedenen Städten, um ihre Palästinasolidarität auszudrücken. Erleben wir auch hierzulande eine Veränderung des Diskurses und des Kräfteverhältnisses zugunsten des palästinensischen Widerstands?
Schaut man sich das Agieren der Parteien im Bundestag an, kann man kaum von einer Verbesserung des Diskurses sprechen. Gleiches gilt leider auch für DIE LINKE. In einigen Städten nahmen LINKE-Aktivist:innen an Protestaktionen teil, vereinzelt war die Partei auch an deren Organisation beteiligt. Insgesamt lässt sich aber selbst für DIE LINKE eher ein Rückgang offener Palästinasolidarität feststellen. Auf der Bewegungsebene sieht das allerdings anders aus. So wurden zuletzt viele Demonstrationen von Gruppen aus der migrantischen Selbstorganisierung angemeldet, etwa Migrantifa, Black Lives Matter und Palästina Spricht.
Gruppen wie Palästina Spricht und Samidoun Palästinensisches Gefangengensolidaritätsnetzwerk haben sich schon vor Längerem in Deutschland gegründet, um auch hier Palästinasolidarität praktisch umzusetzen. Wie schätzt du ihr Potenzial ein?
Die gegebenen Umstände machen eigenständige palästinensische Organisationen nötig. Bevor ich näher erkläre, was ich damit meine, will ich hinsichtlich der Art der Gruppen eine Unterscheidung treffen: Samidoun Deutschland steht linker Organisierung in Palästina selbst nahe und setzt sich explizit für palästinensische politische Gefangene ein. Das entspricht eher traditioneller Exilpolitik. Palästina Spricht ist hingegen ein anderes Phänomen, ein spezifischer Ausdruck einer Dynamik in der palästinensischen Diaspora in Deutschland, vorwiegend innerhalb der zweiten Generation. Auch viele dieser palästinensischen Aktivist:innen ordnen sich politisch links ein. Sie sind in Deutschland aufgewachsen und ihre Verwurzelung in der Mehrheitsgesellschaft ist oft stark ausgeprägt. Im Gegensatz zur organisierten Linken in anderen Ländern bietet die deutsche Linke ihnen aber kaum einen verlässlichen, solidarischen Bezugsrahmen.
Palästinensische Selbstorganisierung
Während ein Großteil der exilpolitischen Betätigung von der ersten Generation ausgeht, ist die palästinensische Selbstorganisierung in Form von Palästina Spricht unter der zweiten Generation ein eigenständiges Symptom des Mangels an Palästinasolidarität in der deutschen Linken. Mir wäre lieber, wenn gar nichts davon nötig wäre und palästinensische Linke sich gemeinsam mit deutschen Linken organisieren könnten. Ich kann aber nachvollziehen, warum das gegenwärtig für viele nicht realisierbar ist. Die schätzungsweise 200.000 Palästinenser:innen mit deutscher Staatsbürgerschaft, in Kettenduldung oder mit Flüchtlingsstatus alleine haben aufgrund ihrer geringen Anzahl und ihres unsicheren Status keine Aussicht, die deutsche Politik grundlegend zu ändern. Eine Organisierung auf Grundlage der palästinensischen Identität hat deutliche Grenzen.
Die deutsche Linke im internationalen Vergleich
Die deutsche Linke ist im Vergleich zur Linken weltweit oft sehr zögerlich, was Solidarität mit den Palästinenser:innen angeht. Siehst du eine Chance, dass linke palästinensische und linke antizionistische jüdische Gruppen, wie die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, stärker in den Vordergrund rücken und so auch die Zurückhaltung der deutschen Linken aufbrechen könnten?
Ja, denn die wichtigste Rolle, die solche Gruppen spielen, besteht darin, dass sie in der Palästinafrage zu Sichtbarkeit, Tabubruch und einer schrittweisen Diskursverschiebung beitragen. Im Rahmen antirassistischer Bewegung wurde mehr Wert darauf gelegt, dass auch von Rassismus Betroffene sich äußern können. Diese linken Gruppen bilden eine leichtere Bezugsmöglichkeit für die deutsche Linke, auf die sie verweisen und mit denen sie zusammenarbeiten kann. Oft sind es diese Gruppen, die am militantesten für palästinensische Menschenrechte eintreten, die Organisierungsarbeit leisten und sich der deutschen Staatsräson vehement widersetzen. Es gab schon lange eine Kluft zwischen dem propalästinensischen Bauchgefühl großer Teile der arbeitenden Klasse in Deutschland und dem, was medial und selbst linkspolitisch vertreten wird. Im Mai 2021 war das Ansehen des israelischen Staates laut Umfragen in verschiedenen europäischen Ländern weiter gesunken.
Die negative Wahrnehmung Israels in Deutschland liegt statistisch nicht gleichauf mit anderen europäischen Ländern, aber auch hier fiel das Ansehen Israels um weitere 14 Punkte. Die deutsche Palästinabewegung ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr schwach. Aber das Einwanderungsland Deutschland ist keine Insel, die sich ewig von Fortschritten im Rest der Welt abschotten könnte. Staatstragenden deutschen Linksliberalen bereiten diese Entwicklungen daher nicht grundlos Sorge. Zum Beispiel Sascha Lobo beklagte sich Anfang dieses Jahres über “woken Antisemitismus”. Damit sind vor allem neue globale Jugendbewegungen mit linkem Potenzial wie Black Lives Matter oder Fridays for Future und linke migrantische Selbstorganisierung gemeint. Lobo und andere Kommentator:innen haben spät erkannt, was wir längst verstanden hatten. Sie haben recht: nicht mit ihren an den Haaren herbeigezogenen Antisemitismusvorwürfen, aber mit der Sorge vor erstarkender linker Palästinasolidarität infolge internationaler Jugendbewegungen und migrantischer Organisierung. Diese globale Entwicklung setzt Deutschtümelei etwas entgegen.
Es gab im vergangenen Jahr mehrere Hetzkampagnen gegen Menschen palästinensischer Herkunft sowie gegen Aktive aus der Palästinasolidarität. Dazu gab und gibt es in einigen Städten Versuche Palästinakundgebung zu verbieten. Wie kann gegen antipalästinensischen Rassismus vorgegangen werden und wie sollten (potenziell) Betroffene damit umgehen?
Es ist wichtig, Solidarität zu organisieren. Da, wo es ggf. berechtigte Kritik von links gibt, kann es auch kritische Solidarität sein. Äquidistanz kann bei der Konfrontation von Bundesregierung oder Springer-Medien mit denen, die deren antipalästinensische Hegemonie angreifen, aber keine Option sein. Rückhalt und Vernetzung sind in solchen Momenten zentral, damit die Angegriffenen durchhalten. Ihr Einknicken löst nicht nur eine Demoralisierung in der Solidaritätsbewegung aus, es bringt ihnen auch individuell nichts.
Verleumdung der Palästinasolidarität
Die deutsche Presse und die Rechten wittern bei Konzessionen sofort Schwäche und setzen erbarmungslos nach. Der rassistische Umgang mit der Journalistin Nemi El-Hassan bietet ein tragisches Beispiel. Sie entschuldigte und distanzierte sich, wo sie nur konnte. Gebracht hat es ihr nichts. An ihr wurde zur Einschüchterung ein Exempel statuiert: Sie verlor trotz allem ihren Ruf und ihren Job. Der AfD-Bundestagskandidat Marcel Goldhammer triumphierte: “Geschafft! Unser Protest hat sich ausgezahlt. AfD wirkt! Nach der Wahl misten wir den Rest aus!” Deshalb müssen wir die Achillesferse der deutschen Linken in der Palästinafrage im Auge behalten. Sie ist eines der gefährlichsten Einfallstore von rechts.
Was erwartet uns dieses Jahr zum Nakbatag am 15. Mai?
Die Linke in Deutschland steht aktuell weit über die Palästinafrage hinaus nicht gut da. Ich erwarte trotzdem, dass der erste Bodengewinn in der Palästinafrage dort, wo Organisierungsgrad und Bewusstseinsstand sowohl palästinensischer als auch linker Organisationen schon fortgeschrittener sind, sich in größerer Vernetzung bis hin zu gemeinsam koordinierten Aktionen äußert. Angriffe darauf wird es auch geben. Sie könnten sogar noch schriller werden. Das Verbot von Palästinademos in Berlin Ende April hat einen Vorgeschmack davon gegeben, was das bedeuten kann. Zunehmende Repression ist aber nicht unbedingt ein Zeichen der Stärke, sondern kann der Angst vor wachsendem Hegemonieverlust entspringen.
Bewusstsein und Organisierung fördern
Dieses Jahr wird der Tag der Nakba eine wichtige Vorbereitung. Diese Erfahrung kann für uns nächstes Jahr, zum 75. Jahrestag der Nakba, hilfreich sein. Im Bundestag dürften vor dem Tag der Nakba 75 Jahre staatlich organisierter Apartheid und Siedlungskolonialismus gefeiert werden. Die Konflikte werden sich verschärfen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Ramsis Kilani ist seit Jahren in der Palästinabewegung aktiv.
Das Interview führte Omnia Ismail
Foto: Hossam el-Hamalawy
Schlagwörter: Antiimperialismus, Antirassismus, Nakba, Palästina