Die Spitze der spanischen Linkspartei Podemos orientiert sich an den Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Doch deren Postmarxismus ist kein guter Ratgeber für die politische Praxis, sagen Miguel Sanz Alcántara, Rabea Hoffmann und Kira Rockel
Spanien nach den Parlamentswahlen: Am 20. Dezember wurde die junge Partei Podemos mit knapp über zwanzig Prozent dritt-stärkste Kraft. Die Konservativen kommen nicht mehr auf die absolute Mehrheit, selbst wenn sie mit den konservativ-liberalen Ciudadanos (knapp 14 Prozent) koalieren würden. So ist heute von einer Krise des bisher herrschenden Zweiparteiensystems in Spanien die Rede, aber dennoch nur verhalten von einem neuen Aufbruch mit Podemos, die zwischenzeitlich in Umfragen bei rund 28 Prozent stand. (Wahlauswertung) Seit der Europawahl 2014, bei der Podemos aus dem Stand 1,2 Millionen Stimmen (rund acht Prozent) und damit fünf Sitze gewann, hat sich ihr Charakter jedoch deutlich verändert.
Der Ursprung von Podemos liegt in der Bewegung 15M. Diese ist nach dem 15. Mai 2011 benannt, an dem Aktivistinnen und Aktivisten landesweit zentrale Plätze besetzten und Protestcamps errichteten. Sie kritisierten das Parteiensystem Spaniens und forderten »echte Demokratie«. Als die regierungs- und eigentlich auch parteienkritische Bewegung zunehmend abflaute, diskutierten verschiedene politische Gruppen über die Gründung einer Partei. Es war der Startschuss für Podemos ausgehend von einer Initiative von Izquierda Anticapitalista (Antikapitalistische Linke) und einem Kreis von Akademikern um den Politikwissenschaftler Pablo Iglesias hervor.
Das Besondere war dabei nicht der mögliche Wahlerfolg, sondern die Mobilisierung Tausender, die in ganz Spanien über 900 Basiszirkel gründeten. Zur ersten landesweiten Versammlung kamen über 8000 Menschen. Es entstand etwas, wovon viele Linke lange geträumt hatten: eine Partei mit einer breiten und aktiven Basis.
Mittlerweile spiegelt sich diese Mobilisierung aber nicht mehr in der Politik der Parteiführung wider. Besonders deutlich wird das an deren aktuellen Forderungen. So spricht der Generalsekretär Iglesias nicht mehr von Schuldenschnitt und finanzieller Mindestsicherung für alle. Außerdem behauptet er, Podemos sei weder rechts noch links. Vielmehr gehe es darum, als »anständige Menschen« die Politik zu verändern und die Bedürfnisse der Bevölkerung gegen die korrupte »Kaste« der spanischen Elite durchzusetzen.
Die Parteibasis von Podemos hat dramatisch an Einfluss verloren. Carolina Bescansa aus der Parteiführung erklärte kürzlich in einem Interview, es gäbe »ein Podemos, um zu protestieren, und ein anderes, um zu gewinnen«. Das war ein deutlicher Seitenhieb gegen die Bemühungen des aktivistischen Kerns von Podemos, den basisdemokratischen und radikalen Charakter der Partei zu erhalten. Die Parteispitze hat zurzeit nur ein Ziel: Wahlen zu gewinnen. Ihr Hauptreferenzpunkt für diese Strategie ist die postmarxistische Theorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe.
Podemos und die Theorie von Laclau und Mouffe
Ernesto Laclau, geboren 1935 in Buenos Aires, politisierte sich in der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei Argentiniens und in der Studierendenbewegung. Von 1969 bis zu seinem Tod im Jahr 2014 lebte er in Europa, überwiegend in Großbritannien. Nach der Errichtung der argentinischen Militärdiktatur im Jahr 1976 rückte er zunehmend von seiner marxistischen Überzeugung ab und begründete zusammen mit der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe den sogenannten Postmarxismus. Ihr gemeinsames Werk »Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus« aus dem Jahr 1985 ist eine der bekanntesten Schriften dieser theoretischen Richtung.
Laclaus und Mouffes Theorie gründet auf einer Kritik an jener Auslegung des Marxismus, wonach die Ökonomie stets die Gesellschaft determiniert. Doch sie gehen noch weiter und stellen grundsätzlich die Existenz von Klassen infrage: Jede Art von Identität sei nur temporär und könne nie vollständig fixiert werden. Nach dieser Logik sind der Kampf gegen ökonomische Ausbeutung und jener gegen politische Unterdrückung nicht miteinander verbunden. Die Linke müsse sich also von der »alten« Klassenpolitik verabschieden und stattdessen klassenübergreifende Bündnisse eingehen. Denn die Arbeiterklasse spiele keine zentrale Rolle mehr und Klassenkampf sei nur einer von vielen gesellschaftlichen Widersprüchen. »Es gibt sicherlich kein Proletariat mehr«, sagte Chantal Mouffe einst in einem Interview mit der »taz«, »aber es gibt ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht vom Modernisierungskurs der Sozialdemokratie angesprochen fühlen. Diese Menschen fühlen sich bedroht von der neoliberalen Globalisierung.«
Mit solchen Ansichten schwammen Laclau und Mouffe im linken Mainstream. Seit den 1980er Jahren erlebte die Linke den Rückgang der Arbeiterbewegung und das Aufkommen von neuen sozialen Bewegungen.
Mouffe und Laclau kritisieren mit ihren Ansichten eine Auslegung des Marxismus, wie sie vor allem die »realsozialistischen« Staaten vertraten. Dort wurde die Rolle der Wirtschaft überbetont und nahezu alle gesellschaftlichen Phänomene »ökonomistisch« erklärt. Dementsprechend basiert die postmarxistische Theorie darauf, lediglich eine Karikatur des klassischen Marxismus zu kritisieren.
Solchen Vorstellungen widersprach jedoch schon Friedrich Engels: »Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate (…) Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form.«
Bei der Entwicklung ihrer Theorien beziehen sich Laclau und Mouffe unter anderem auf den italienischen Marxisten und Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei Antonio Gramsci und dessen Hegemoniebegriff. Gramscis Konzept der sozialistischen Hegemonie sieht vor, dem kapitalistischen Staat nicht nur im direkten Angriff auf die Staatsmacht, sondern auch auf ideologischer Ebene entgegenzutreten. Das begründete er unter anderem mit dem widersprüchlichen Bewusstsein der Unterdrückten.
Laclau und Mouffe reduzieren seine Theorie jedoch auf den ideologischen Kampf gegen die herrschende Klasse. Dabei klammern sie dieses widersprüchliche Bewusstsein ebenso aus wie die revolutionäre Prämisse, die Gramscis Werk prägte. Das Resultat ist folgendes: Sah der klassische Marxismus seine Aufgabe im Kampf gegen den bürgerlichen Staat, so wollen Mouffe und Laclau den Kampf um den Staat führen. »Es reicht nicht aus, zu sagen, dass wir das Ende des Kapitalismus wollen«, erklärte Mouffe. »Ich denke, dass es entscheidend ist, sich mit den bestehenden Institutionen auseinanderzusetzen und dies bedarf eines langen Prozesses. Einige in der Linken behaupten heute noch, dass wir eine Revolution wie die Sowjetrevolution brauchen. Aber wenn wir etwas von dieser Erfahrung lernen, der tragischen Erfahrung des real existierenden Sozialismus, dann ist es doch genau das, dass diese Strategie, einen kompletten Neustart zu wagen, nicht funktioniert.«
Gramsci war es wichtig, eine Gegenhegemonie zum bestehenden kapitalistischen System zu entwickeln. Laclau und Mouffe hingegen geht es darum, »einen Diskurs zu konstruieren«, der verschiedene Gesellschaftsschichten einschließt, weit über die Arbeiterklasse hinaus. Unter Diskurs verstehen sie eine reine Artikulationspraxis, also hauptsächlich Sprache und Auftreten. Ihrer Meinung nach gestalten Diskurse gesellschaftliche Verhältnisse. Somit findet politische Betätigung innerhalb sogenannter diskursiver Felder statt. Hegemonie besteht für sie darin, einen Diskurs herzustellen, der Ziele enthält, denen sich verschiedene soziale Gruppen anschließen. Es geht also mehr um Identitäts- und sprachliche Zuschreibungen als um ein Erkennen des Klassenkonflikts.
Konstruierte Diskurse und leere Signifikanten
In seinem Buch »On Populist Reason« (etwa: Populistisch Argumentieren) aus dem Jahr 2005 beschreibt Laclau, wie aus den unterschiedlichen Forderungen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche ein politisches Subjekt, »das Volk«, geformt werden soll. Dafür müssen diese Forderungen in ein gemeinsames, begrenztes Feld zusammengeführt werden. Ebenso muss ein »Außen«, ein Feind jenseits der Grenze dieses Feldes, definiert werden. Dabei zeichnet sich das »Innen«, also das Volk, nicht durch konkrete Inhalte aus, sondern vor allem durch die Abgrenzung zum »Außen«. Die Podemos-Führung beispielsweise bedient sich dafür des Begriffs »Kaste«, der die kleine herrschende Elite Spaniens beschreiben soll.
Für ein solches Vorhaben werden »leere Signifikanten« benötigt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, bestimmte Forderungen auszuwählen und diese für ein Ziel, zum Beispiel Parlamentswahlen, zu nutzen. Ein Beispiel für einen solchen »leeren Signifikanten« sei die Forderung »Land, Brot und Frieden« aus der Russischen Revolution von 1917. Jenseits seiner konkreten Bedeutung transportierte dieser Slogan verschiedene Kritikpunkte am Zarismus. Die »leeren Signifikanten« formuliert in Laclaus Theorie jedoch nicht die Bevölkerung, sondern sie werden von Intellektuellen und der Parteiführung nach einer Analyse der gesellschaftlichen Stimmungen entwickelt. Intellektuelle und eine starke Führung spielen also eine Schlüsselrolle für das jeweilige politische Projekt, da sie die Diskurse und die ideologische Ausrichtung bestimmen und planen. Damit das politische Subjekt (»das Volk«) sich nicht auflöst, brauche es eine charismatische Führung, die die Sehnsüchte und Leidenschaften der Massen mobilisieren und symbolisch repräsentieren kann.
Laclau und Mouffe blenden die Möglichkeit einer demokratischen Bewegung »von unten« aus, womit sie sich ebenfalls gegen den klassischen Marxismus positionieren. »Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein«, schrieben hingegen Marx und Engels. »Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, dass die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien und erst von oben herab befreit werden müssen durch philanthropische Groß- und Kleinbürger.«
Laclau und Mouffe landen schlussendlich bei genau solch einem Sozialismus »von oben«, den sie beim »orthodoxen Marxismus« und Stalinismus noch kritisiert hatten.
Die Theorie von Laclau und Mouffe in der Praxis von Podemos
Die Führungsspitze von Podemos folgt explizit der Theorie Laclaus und Mouffes. In der Praxis drückt sich das darin aus, dass die Partei ihr linkes Programm zunehmend aufgeweicht hat, um die Anschlussfähigkeit an weitere Bevölkerungsschichten zu erhöhen, selbst wenn diese zum Teil gegensätzliche Interessen haben. Es ist schwierig, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus der 15M-Bewegung stammen (und auf der Straße Slogans wie »Unsere Lösung ist, Banker ins Gefängnis zu stecken« riefen), mit »ehrlichen Geschäftsleuten« zusammenzubringen. Doch genau das ist das Ziel der Podemos-Führung.
Diese Herangehensweise ist wenig geeignet, eine Bewegung mit klaren Zielen aufzubauen, die in der Lage ist, massenhaft Menschen zu mobilisieren und soziale Rechte zu erkämpfen. Sie soll lediglich dazu dienen, mehr Stimmen bei Wahlen zu bekommen. Die fortschreitende Entmachtung der Basiszirkel (als Orte sozialer Selbstorganisierung und Debatten) ist Teil dieser Strategie. Das Ganze mündet in Unbestimmtheit, mehrdeutigen Diskursen und der Verschleierung von Klassenwidersprüchen.
Doch selbst das erklärte Ziel, Stimmgewinne zu erzielen, stößt an seine Grenzen. Denn die konservativ-liberale Partei Ciudadanos (Bürger) wendet erfolgreich ähnliche Strategien wie Podemos an und fischt dabei in denselben Gewässern: Teilen der verarmten Mittelschichten. Forderungen nach Wiederherstellung der Demokratie oder dem Kampf gegen die Korruption können auch von einer Partei wie Ciudadanos genutzt werden. Das zeigt eine theoretische Schwachstelle der Theorie von Laclau und Mouffe auf: Der bewusst mehrdeutig konstruierte Diskurs lässt Anschlussmöglichkeiten nach rechts offen.
Es bleibt die Frage, was nun nach den Wahlen passiert. Momentan sind Neuwahlen nicht unwahrscheinlich. Die Erfahrungen von Syriza und anderen linken Partei lassen allerdings daran zweifeln, dass sich durch Regierungsübernahme antineoliberale Politik durchsetzen lässt. Die Lähmung der Basis veranlasste bereits viele linke Aktivistinnen und Aktivisten, sich von Podemos abzuwenden. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Metroscopia entspricht das Wählerprofil von Podemos auch nicht dem oft vermittelten Bild junger, systemkritischer Menschen: 66 Prozent der Wähler sind älter als 35 Jahre. Im Sommer sind die Umfragewerte der Partei auf unter 18 Prozent gesunken.
Laclaus und Mouffes Strategie führt nicht zu einer Veränderung des kollektiven Bewusstseins. Die marxistische Tradition sieht hingegen den Kampf in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen als Mittel an, um mit der herrschenden Ideologie zu brechen und somit Klassenbewusstsein zu schaffen. Diskurse allein, ohne konkrete Kämpfe und ein gemeinsames revolutionäres Projekt, reichen nicht aus.
Foto: laveupv.com
Schlagwörter: Chantal Mouffe, Linkspopulismus, marx21, Pablo Iglesias, Podemos, Populismus, Postmarxismus, Ronda Kipka, Spanien