In Spanien entstand aus der Indignados-Bewegung eine neue radikaldemokratische Partei. Jetzt stellt sich die Frage, wie sich Podemos in den anstehenden Wahlen aufstellt, ohne gleichzeitig die Verankerungen in den sozialen Bewegungen und Kämpfen zu verlieren. Wir sprachen mit den Podemos-Kandidaten Jesús Castillo und Ana Villaverde.
marx21: In welchem Verhältnis steht Podemos zum 15M? Kann Podemos als politische Weiterentwicklung der Bewegung gesehen werden?
Jesús Castillo: Es ist unmöglich, Podemos ohne die Bewegung der Indignados zu verstehen. Podemos lebt zu einem großen Teil durch diese Bewegung. Als wir die Plätze besetzt haben wurde uns gesagt, wir wären „Taugenichtse“, „Hippies“ und könnten nichts. Wenn wir Politik machen wollen, sollen wir zu den Wahlen antreten. Jetzt wo wir angetreten sind, werden wir als „Terroristen“ und „Antidemokraten“ beschimpft. Sie haben Angst. Die politische „Kaste“, bestehend aus Berufspolitikern, die für große Unternehmen arbeiten, haben große Angst, denn sie merken, dass es so nicht mehr lange weitergehen wird.
Ana Villaverde: Ein Großteil der politischen Forderungen von Podemos wie die Verurteilung der Spekulation der Banken, der Steuerhinterziehung und der Korruption oder die Verteidigung der öffentlichen Daseinsvorsorge überschneiden sich mit denen des 15M.
Der 15M war ein Wendepunkt. Er hat vielen Menschen die Hoffnung zurückgegeben, dass sich die Dinge verändern lassen und hat direkte und radikaldemokratische Formen der politischen Partizipation geschaffen. Podemos ist die Organisation, die am besten die Beiträge des 15M aufgenommen hat, um sie in einem politischen Projekt einzubringen.
Wie erklärt ihr euch, dass Podemos in Umfragen mittlerweile als drittstärkste Partei in den nächsten Wahlen gilt?
Jesús Castillo: Zuallerst sei gesagt, dass ich den Umfragen der Medien der „Kaste” nicht vertraue. Sie sind manipuliert. Aber egal, ob Podemos stärkste oder drittstärkste Partei ist, zweifellos findet ein rapider Aufstieg statt. Ich glaube, dies erklären mehrere Faktoren.
Einerseits wächst Podemos durch die Krise der Sozialdemokratie, die in den 70ern, als sie den Neoliberalismus akzeptiert haben, entstanden ist. Millionen von Menschen wurden in den letzten Jahrzehnten von der PSOE enttäuscht.
Andererseits gibt es mehr als 5 Millionen Arbeitslose, die Hälfte der Jugendlichen ist arbeitslos, mehr als eine Million Menschen ist aufgrund der Suche nach Arbeit emigriert, um die 100 Familien werden jeden Tag aus ihren Häusern vertrieben, es herrschen brutalst prekäre Arbeitsbedingungen…
Ana Villaverde: Podemos hat es geschafft, diese Unzufriedenheit der einfachen Leute zu kanalisieren. Die neoliberalen Politiken der Troika in Zusammenarbeit mit den beiden großen Parteien PP und PSOE mit ihren verheerenden Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerungsmehrheit kombiniert mit unzähligen Korruptionsfällen hat eine tiefgreifende Krise der politischen Institutionen und der traditionellen Parteien verursacht. In diesem Kontext erscheint Podemos als eine Option der Erneuerung.
Podemos benutzt Konzepte wie Demokratie, über die ein breiter gesellschaftlicher Konsens herrscht und gibt ihnen eine neue Bedeutung, indem neue organisatorische und partizipative Formen angewandt werden. Zum Beispiel frei zugängliche Kandidatenlisten, ein kollektiv geschriebenes Wahlprogramm. Der Erfolg lässt sich zudem nicht ohne die Anerkennung der Anstrengungen von Tausenden von Personen erklären, die dieses Projekt von der Basis aus in mehr als 700 „Zirkeln“ [Orts- und Stadtteilgruppen] aufbauen.
Ist Podemos eine Organisation, die sich auf das Parlament fokussiert oder eine Basisorganisation, die in Kampagnen und sozialen Bewegungen verankert ist?
Jesús Castillo: Die Antwort auf diese Fragen werden wir erst mit der Zeit kennen. Es ist unvermeidbar, dass Podemos sich im Moment stark auf den Wahlkampf konzentriert. Denn wir haben erst im Mai fünf Europaparlamentsabgeordnete bekommen und im Mai 2015 stehen die Landtags- und Kommunalwahlen und Ende 2015 die nationalen Wahlen an.
Ana Villaverde: Im Moment ist Podemos eine Organisation, die versucht, Wahlen mit der Selbstermächtigung der Leute durch das Aufbauen der “Zirkel” und der Partizipation in sozialen Bewegungen zu kombinieren. Zurzeit gibt es eine offene Debatte darüber, auf welchen Bereich der Schwerpunkt gelegt werden sollte.
Jesús Castillo: Podemos selbst ist das Resultat von massiven Mobilisierungen und ihre Zukunft hängt von ihnen ab. Deswegen gibt es viele von uns, besonders die antikapitalistischen Aktiven in Podemos, die vorantreiben, dass die „Zirkel“ aktiv soziale Bewegungen, Kämpfe auf der Straße und in den Betrieben unterstützt. Podemos sollte ein Sprachrohr dieser Auseinandersetzungen sein und ihre Aktiven sollten in ihnen mitmischen.
Zu denken, dass wir große soziale Verbesserungen durch die Institutionen ohne gleichzeitige Kämpfe von unten erreichen, ist absurd. Das zeigt die Geschichte.
Diesen Oktober findet das Gründungstreffen, wo die interne Organisation von Podemos beschlossen wird, statt. Lässt sich schon eine Tendenz abzeichnen, wie diese sein wird?
Jesús Castillo: Ab Mitte September bis Mitte November sind wir mit der Versammlung “Sí se puede“ [Ja, man kann] beschäftigt. Aus diesem Prozess werden die politische Orientierung von Podemos, wie sich organisiert wird und die Zusammensetzung der landesweiten, regionalen und lokalen Leitung herauskommen.
Jenseits der internen Differenzen teilen alle die generelle Idee, dass Podemos radikal demokratisch sein sollte. Die „Zirkel“ sollten die entscheidende Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Die Online-Wahlen werden auch dazu beitragen, dass die Leute ihren Standpunkt beitragen können. Gewählte Personen, sei es intern oder in einer Institution, sollten jederzeit durch die Mitgliedschaft widerrufbar sein, ihren Posten nur eine limitierte Zeit lang besitzen, keine Ämter anhäufen, Durchschnittseinkommen haben und in offenen Vorwahlen gewählt worden sein. Außerdem wird das Wahlprogramm von unten auf eine partizipative Art und Weise bestimmt. Diese Dinge haben wir schon in den Europawahlen angewandt.
Wie steht ihr zu Koalitionen mit anderen Parteien?
Jesús Castillo: Wir sollten uns an die rote Linie halten, logischerweise nie mit Konservativen, noch mit der Sozialdemokratie eine Koalition einzugehen. Sie hat uns immer wieder gezeigt, dass sie für die Banken und die großen Unternehmen regiert. Die Basis der Sozialdemokratie ist in Podemos herzlich willkommen. In der Tat partizipiert sie bereits massiv in Podemos. Wir sollten allerdings nichts von ihren Parteiführern erwarten, sie sind Klassenverräter und stehen im Dienst des Kapitals. Mit der Sozialdemokratie zu regieren, würde bedeuteten, die Scheiße dieses korrupten Systems zu verwalten. Podemos würde seine DNA verlieren.
Allerdings glaube ich, dass wir offen dafür sein sollten, in der Regierung oder der Opposition, in den Kämpfen auf der Straße und in den Betrieben mit den anderen progressiven politischen Organisationen wie Izquierda Unida [Vereinte Linke] oder Equo [Grüne] zusammenzuarbeiten.
Ana Villaverde: Meiner Meinung nach sollte die Repräsentation in den Institutionen nie ein Ziel an sich sein, sondern ein Werkzeug mehr, um die soziale und politische Transformation zu erreichen, die wir wollen. In diesem Sinne müssen bei Wahlallianzen rote Linien festgelegt werden, die in zwei Richtungen gehen sollten: Keine Koalition mit Parteien, die an der Regierung sind und Kürzungen ausführen und niemals die direkte Basisdemokratie, auf der wir Podemos aufbauen, aufgeben.
Kann das Programm von Podemos durch die Institutionen verwirklicht werden? Und: Seht ihr die neue Initiative „Ganemos“ [Wir gewinnen], die von Barcelona ausgehend in immer mehr Orten Spaniens entsteht als ein neues Mittel, um die Institutionen zu übernehmen?
Jesús Castillo: Podemos Programm der demokratischen Transformation und sozialen Gerechtigkeit kann nicht im Rahmen der Institutionen ohne soziale Kämpfe verwirklicht werden. Hohe Staatsbeamte, die Richter des Systems, würden uns boykottieren, es gäbe Mobiliserungen von Seiten der Rechten auf der Straße und so weiter. Um das zu erreichen, was Podemos möchte, brauchen wir eine starke Verankerung auf den Straßen und den Betrieben. Die institutionellen Aktionen von Podemos sollten von unten unterstützt werden, gleichzeitig sollten die sozialen Kämpfe die institutionelle Arbeit prägen. Wenn die Leute ein leeres Gebäude, das einer Bank gehört, besetzen, sollte die Regierung von Podemos dies unterstützen. Wenn die Belegschaft eines Unternehmens einen Streik gegen Entlassungen organisiert, sollte Podemos dies von der institutionellen Ebene aus unterstützen.
Ana Villaverde: Bei „Ganemos“ handelt es sich um eine Initiative von linken Parteien, Gruppen und Einzelpersonen, die im Aufbau begriffen ist und in den vor Ort unterschiedlich ist. Ich glaube „Ganemos“ kann ein nützliches Werkzeug sein, immer unter der Bedingung, dass es von unten aufgebaut wird, mit den sozialen Bewegungen und lokalen Kämpfen verbunden ist und Mechanismen etabliert werden, damit seine Repräsentanten Sprecher sind, die sich dem Willen der Basis unterordnen, sprich der Menschen, die Teil des Projektes sind.
Das Interview führten Miguel Sanz Alcántara und Rabea Hoffmann.
Foto: Álvaro Herraiz San Martín
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