Nach einer Initiative von Abgeordneten der Großen Koalition geht die Diskussion über den Umgang mit Prostitution in eine neue Runde. DIE LINKE sollte sich weder hinter die Kriminalisierung noch hinter die Normalisierung stellen. Von Rosemarie Nünning
Mitte Mai forderten 16 Bundestagsabgeordnete aus CDU und SPD ein »Sexkaufverbot« mit Freierbestrafung nach dem»nordischen Modell«. Zu den Unterzeichnern gehören Hermann Gröhe (CDU), Karl Lauterbach und Leni Breymaier (beide SPD). Breymaier ist auch zweite Vorsitzende von »Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution! e. V.«, einem Verein, der neben der Forderung nach Ausstiegshilfe für Prostituierte insbesondere nach Kriminalisierung ruft.
Anlass für diese Initiative ist die Schließung der Bordelle als Schutzmaßnahme gegen die Verbreitung des Coronavirus und solch radikale Maßnahmen wie in Karlsruhe, Prostitution übergangsweise vollständig zu verbieten – somit können auch Prostituierte selbst bestraft werden.
Auch in der Linkspartei ist das Netzwerk »Linke für eine Welt ohne Prostitution« wieder aktiv geworden. Gleich 60 Parteimitglieder aus Bundestag, Landesvorstand und verschiedenen Kreisverbänden haben im Juni als Erstunterzeichnende eines Appells fungiert. Auch hier gibt es richtige Forderungen, wie die nach kostenloser Beratung, Schutzwohnungen, Hilfe beim Ausstieg, keine Zwangsmaßnahmen. Ebenso aber wird die Freierbestrafung gefordert. Die Forderung nach Streichung des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG), mit dem nach Jahrzehnten wieder eine gesetzliche »Hurenkartei« eingeführt wurde, also die Registrierung Prostituierter, die auch einen »Hurenpass« mit sich tragen müssen, findet sich nicht in dem Aufruf. Diese Art der Erfassung macht es in der Prostitution Arbeitenden schwer, »auszusteigen«, also in Berufe außerhalb der Prostitution zu wechseln. Bei den Finanzämtern sind sie als nach dem ProstSchG registriert, während sie bisher als Freiberuflerinnen ihre Tätigkeit tendenziell verbergen konnten. Vor allem aber haben sich in Berlin von schätzungsweise 8.000 Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern nicht einmal ein Viertel angemeldet, bundesweit von etwa 200.000 rund 35.000, also nicht einmal ein Fünftel. Statt Sicherheit zu schaffen, findet Prostitution vor allem im Untergrund statt, bedroht mit Bußgeld von bis zu 1.000 Euro. Und das war zu erwarten.
Debatte über Sexkaufverbot
Die meisten Akteurinnen und Akteure auf der Seite staatlicher Erfassung und Kriminalisierung von Prostitution oder der Freier stellen sich in eine Tradition des »Abolitionismus«, womit sowohl auf die Abschaffung der Sklaverei angespielt als auch Bezug auf die Bewegung der Abolitionistinnen Ende des 19. Jahrhunderts zur Abschaffung von Prostitution genommen wird. Diese Bewegung lehnte aber sowohl jeden Zwang als auch jede Kriminalisierung und »das polizeiliche Regime« ab. Ebenso die damaligen Sozialistinnen und Sozialisten, insbesondere August Bebel und Friedrich Engels, die von »Polizeischweinereien« sprachen.
Den »Abolitionisten« stehen Sexarbeitsverbänden wie Doña Carmen gegenüber, die die Öffnung der Bordelle fordern. Der Bundesverband sexuelle Dienstleistungen erklärt, es sei notwendig, wieder »Einnahmen zu generieren und den Kunden einen guten Service zu bieten, der menschlich, stabilisierend und für sie insbesondere in Corona-Zeiten existenziell« sei.
Auch in der feministischen Bewegung findet sich diese Polarisierung. Auf der Demonstration zum Internationalen Frauentag kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen »Abolitionisten« des Radikalfeminismus einerseits und Sexworkern sowie queerfeministischen und trans Kreisen, die mit der Parole »Sexarbeit ist Arbeit« für Anerkennung von Prostitution als »Beruf wie jeder andere« auftreten.
Die scharfe Kontroverse von 2013/2014 mit dem »Appell gegen Prostitution« aus der Ecke Alice Schwarzers und der Zeitschrift Emma und dem »Appell FÜR Prostitution« der Sexindustrie flammt also wieder auf. Damals wurde sie erstickt durch die überraschende Schaffung des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes unter der SPD-Bundesministerin Manuela Schwesig. Schwesig war damit den Wünschen des Koalitionspartners CSU bereitwillig nachgekommen, die auf einer Klausurtagung von 2014 unter der Parole »Der Mensch ist keine Ware: Prostitution regulieren – Menschenhandel bekämpfen« eben diese Forderungen aufgestellt hatte. Vonseiten der »Abolitionistinnen« kam Protest vor allem, weil die Freierbestrafung darin nicht vorgesehen war, aber kaum gegen Zwangsberatung und Zwangsregistrierung.
Wir veröffentlichen aus diesem Anlass einen Auszug aus der Broschüre »Prostitution: Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung«, in dem der angebliche Erfolg des »nordischen Modells« beleuchtet und eine alternative Position unterbreitet wird.
Das »nordische Modell«
Das Sexkaufverbot in Schweden wurde im Jahre 1998 unter dem Begriff »Frauenfrieden« erlassen und in der Bevölkerung mehrheitlich begrüßt. Seinerzeit ging die Regierung von insgesamt etwa 650 Straßenprostituierten und etwa 1.500 bis 2.000 Prostituierten in Wohnungen aus (Indoor-Prostitution). Die Regierung begründete das Gesetz wie folgt:
»Die schwedische Regierung und das Parlament haben durch die Einführung des Gesetzes bezüglich des Schutzes von Frauen Prostitution als Männergewalt gegen Frauen und Kinder definiert.«
Das Sexkaufverbot wurde, so Susanne Dodillet und Petra Östergren, Kritikerinnen des Gesetzes, von feministischen Gruppen und Politikerinnen und Politikern vorangetrieben, »die argumentierten, Prostitution sei eine Form männlicher Gewalt gegen Frauen« und »die Gesellschaft sei erst gleichberechtigt, wenn es keine Prostitution mehr gäbe«.
Prostitution: Riskante Arbeit
Der Position, dass es Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen erst dann wirklich gibt, wenn unter anderem Prostitution nicht mehr existiert, ist zu zustimmen. Die Frage ist aber, ob eine »Welt ohne Prostitution« mithilfe des »nordischen Modells« zu bewerkstelligen ist. Der Runde Tisch Prostitution Nordrhein-Westfalen hat sich gründlich damit auseinandergesetzt und es gab »niemanden, der das schwedische Modell als übertragbar und wünschenswert favorisierte«. In seinem Abschlussbericht werden »erhebliche negative Effekte für die weiterhin tätigen Prostituierten« festgestellt, »obwohl diese nach dem Willen des Gesetzgebers keine Bestrafung zu befürchten« hätten. Der Ansatz, »nur den Freier träfen Sanktionen, die Prostituierte bleibe außen vor«, sei ein theoretisches Konstrukt, denn »mit der Aufdeckung der Prostitution verliere die Frau regelmäßig Kunden und damit nicht selten ihre Existenzgrundlage«:
»Generell bedeute Sexarbeit unter diesen Bedingungen, riskant zu arbeiten: Misstrauen gegenüber Polizei und Behörden und der Umgang mit gestressten Kunden an versteckten, nicht selten gefährlichen Orten erhöhten die Gefahr, Gewalt ausgeliefert zu sein und von Zuhältern erpresst zu werden. Im Übrigen sei die Regelung ein ›Klassengesetz‹, Prostituierte in Escort-Agenturen würden nicht kontrolliert, wohlhabende Kunden fänden immer Wege, nicht entdeckt zu werden, und mann-männliche Prostitution sei nicht betroffen, sondern würde dem Bereich ›homosexuelle Lebensweisen‹ zugeordnet.«
Verlagerung der Prostitution
Inzwischen sind das Gesetz und seine Auswirkungen heftig umstritten und es gibt eine öffentliche Debatte, woran auch Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter teilnehmen. Die eingeleiteten Maßnahmen galten insbesondere der sichtbaren Straßenprostitution, die auf etwa die Hälfte zurückging, dafür in den anderen skandinavischen Hauptstädten, Oslo und Kopenhagen, anstieg. Die Prostitution hat sich verlagert, wobei das Internet eine wichtige Rolle spielt. Die schwedische Regierung stellte in ihrer dritten Studie aus dem Jahr 2007 fest:
»Wie schon bei den zwei vorherigen Studien war es schwierig, ein eindeutiges Bild vom Ausmaß der Prostitution, also der Zahl der in der Prostitution Tätigen zu erhalten. […] Auch ist es schwierig, einen eindeutigen Entwicklungstrend auszumachen: Hat Prostitution zu- oder abgenommen? Wir können höchstens feststellen, dass die Straßenprostitution langsam zurückkehrt […]. […] Bezüglich […] der ›verborgenen Prostitution‹ können wir noch weniger Aussagen treffen.«
Widerspüchliche Ergebnisse
In dem schwedischen Regierungsbericht aus dem Jahr 2010 heißt es, mit der Halbierung der Straßenprostitution sei es nicht zu einer Verschiebung in die Indoor-Prostitution gekommen, die Prostitution habe sich also insgesamt in Schweden halbiert. An anderer Stelle desselben Berichts heißt es dagegen, dass die Schätzungen vermutlich zu niedrig liegen und abhängig sind von den Ressourcen und den Prioritäten von Polizei und Sozialdiensten, mit dem Fazit:
»Wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Gesamtprostitution in Schweden seit dem Jahr 1999 zumindest nicht angestiegen ist.«
Im Jahr 2009 ließen 19 Lokalsender des schwedischen Rundfunks Scheinanzeigen von angeblich vor Ort arbeitenden Prostituierten im Internet schalten. In knapp einer Woche hatten sich über 1.000 Männer darauf gemeldet.
Die Stockholmer Stadtverwaltung stellte im Jahr 2015 fest, dass die Zahl der Männer, die Sex kaufen, seit 1996, drei Jahre vor dem Verbot, konstant bei einem Prozent liege.
Härtere Zeiten für Straßenprostituierte
In der Untersuchung einer von dem norwegischen Justizministerium eingesetzten Arbeitsgruppe findet sich die folgende Beurteilung der Lage in Schweden, die die Stellungnahme des Runden Tischs bestätigt:
»Schwedische Straßenprostituierte erleben härtere Zeiten. Sie sind häufiger gefährlichen Kunden ausgesetzt, während die seriösen Kunden Angst vor Verhaftung haben. Ein Verbot wird den Kauf und Verkauf von Sex nie stoppen können. Es kann für die Prostituierten alles nur schlimmer machen. Sie haben weniger Zeit, ihre Kunden abzuschätzen, weil der Handel wegen der Angst der Kunden vor Entdeckung sehr schnell abgewickelt werden muss. Sie (die Prostituierten) sind Gewalt und sexuell übertragbaren Krankheiten ausgesetzt. Wenn ein Kunde ungeschützten Sex verlangt, können sich viele Prostituierte nicht leisten, nein zu sagen. Belästigungen durch die Polizei haben zugenommen und die Kunden zeigen aus Angst, selbst verhaftet zu werden, keine Zuhälter mehr an. Die Sozialarbeiter auf den Straßen haben Schwierigkeiten, sie zu erreichen. Sie (die Prostituierten) brauchen Zuhälter, um sich zu schützen.«
Mit der Einführung des neuen Straftatbestands für Freier wird die Nachfrage nicht nachgeben, die Schwächsten werden dafür aber noch mehr gefährdet. Der Runde Tisch stellt fest:
»Groben Schätzungen zufolge sind ca. 10 Prozent der Prostituierten in der Straßenprostitution tätig. […] So ist der Straßenstrich typischer Arbeitsort für drogenabhängige Beschaffungsprostituierte, jugendliche Stricher oder Frauen und Männer, die im Zuge der EU-Erweiterung aus Bulgarien und Rumänien eingereist sind; es handelt sich häufig um Notlagen oder Armutsprostitution von sozial und gesundheitlich stark gefährdeten Menschen, die kaum über ihre Rechte und Pflichten informiert sind, aber großen Unterstützungsbedarf aufweisen. Das Preisniveau ist hier am niedrigsten.«
Kaum Hilfen zum Ausstieg aus Prostitution
Das schwedische Prostitutionsgesetz war mit dem Versprechen verbunden, Beratungs- und Ausstiegshilfe für die betroffenen Frauen zu schaffen. Karin Dahlborg von der Göteborger Beratungsstelle für Sexarbeit hält diesen Bereich für völlig defizitär:
»Wenn man die Gesetze ändert, sollte man auch gleichzeitig Gelder für die Sozialarbeit zur Verfügung stellen. Beispielsweise um Hilfsangebote für Prostituierte zu finanzieren. Doch das ist nicht geschehen – es gibt zwar Beratungsstellen auf kommunalem Niveau so wie unsere. Aber es gibt keine staatlichen Hilfen, die den Menschen den Ausstieg aus der Prostitution ermöglichen.«
Vertreterinnen und Vertreter der Freierbestrafung setzen sich über all diese Befunde hinweg. Sie nehmen auch keine Notiz von der dringlichen Empfehlung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2010, der unter dem Aspekt des Rechts auf Gesundheit die Aufhebung jeder Kriminalisierung der Prostitution fordert:
»Kriminalisierung erschwert den Zugang zu Diensten, die Herstellung einer therapeutischen Beziehung und systematische Behandlung mit der Folge, dass Sexarbeiter unter schlechterer Gesundheit leiden […]. Das ist besonders besorgniserregend, da Sexarbeiter in vielen Regionen überproportional von HIV betroffen sind. Strafmaßnahmen gegen Sexarbeiter wie in Großbritannien und Nordirland wegen asozialen Verhaltens haben Aktivitäten zur Förderung der Gesundheit erschwert.«
Repression wird hoffähig gemacht
Laut UNO weist eine Studie nach, dass 45 Prozent der illegal arbeitenden Prostituierten in schlechter psychischer Verfassung sind im Vergleich zu 12 Prozent der legalen. Mit der Entkriminalisierung der Prostitution im Jahr 2003 in Neuseeland fühlen sich Sexarbeiterinnen eher in der Lage, bestimmte Kunden und Praktiken abzulehnen und geschützten Sex einzufordern.
Diejenigen, die nach Freierbestrafung rufen, nehmen auf die Lebenswirklichkeit der Prostituierten keine Rücksicht. Der Feminismus, den sie vertreten, fügt sich reibungslos in ein Projekt ein, im Namen des Schutzes von Frauen autoritäre und repressive »Lösungen« von oben hoffähig zu machen und soziale Kontrolle auszuweiten, statt den Betroffenen wirklich zu helfen. Petra Östergren fasst zusammen:
»Dies ist der frustrierendste Widerspruch von allen: Frauen in Machtpositionen sorgen dafür, dass Frauen ohne Macht noch machtloser werden. Statt zuzuhören, erlassen sie Gesetze, die den Frauen, die häufig der untersten Schicht der Gesellschaft angehören, das Leben noch schwerer machen.«
Weder Kriminalisierung noch Normalisierung
Der kapitalistische Staat ist kein Partner, wenn es darum geht, sexuelle Unterdrückung und Entfremdung zu beseitigen. Prostitution ist unlösbar verknüpft mit Klassengesellschaft, Frauenunterdrückung und Armut. Sie wird durch Verbote, polizeiliche Überwachung oder Bestrafung von Freiern nicht verschwinden. Rechtliche Verschärfungen und Kriminalisierung bringen nur weitere Unterdrückung mit sich. Selbst scheinbar sinnvolle Maßnahmen wie eine gesetzliche Kondompflicht können letztlich nur überwacht werden, wenn die Sittenpolizei regelmäßig eingesetzt wird.
Manuela Schwesig gibt vor, mithilfe ihres Gesetzes könnten Zwangsprostituierte geschützt werden. Zwangsprostitution und Gewalt sind aber längst strafbar. Das hat an der armutsbedingten Prostituierung vieler junger Osteuropäerinnen nichts geändert.
Auch gesundheitsgefährdende Verhältnisse in Bordellen können nach dem Gewerberecht geahndet werden, ohne den Stempel »sexuelle Dienstleistung« oder »Prostitution« zu tragen.
Verbote treffen die Schwachen
Der Ruf nach einer »Welt ohne Prostitution« ist ähnlich wie der nach einer »Welt ohne Drogen«, solange dieser Ruf nicht mit einem Kampf für soziale Gleichheit, eine Gesellschaft ohne Klassen, Ausbeutung und Unterdrückung verbunden wird. Weder die Alkoholprohibition der 1930er Jahre noch der »Krieg gegen Drogen«, den die USA in den 1970er Jahren ausriefen, haben den Drogenkonsum beendet. Stattdessen starben Menschen an gepanschtem Alkohol oder sterben heute an verschnittenem Heroin und gehen in die Beschaffungsprostitution.
Der Kampf für eine »Welt ohne …« wird auf diese Weise auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen, während wirkliche Hilfestellung kaum geleistet wird, um zu verhindern, dass überhaupt jemand in die Prostitution getrieben wird oder aus ihr herausfinden kann.
Fachberatungsstellen für Prostituierte, die auch individuell Ausstiegsberatung anbieten, sind beispielsweise rar und meist in der Hand von christlichen Trägern oder Selbsthilfeorganisationen. Für ein im Jahr 2011 von der Bundesregierung finanziertes Modellprojekt zur »Unterstützung des Ausstiegs aus der Prostitution« wurden drei (!) Beratungsstellen in Deutschland geschaffen. Bedarf gab es bei mindestens zehn Prozent der erreichten Prostituierten. Nach Abschluss der Studie soll das Berliner Projekt eingestellt werden, die beiden anderen bleiben befristet bestehen.
Ein menschenwürdiges Leben ermöglichen
Im Juli 1913 schrieb der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin über den Fünften Internationalen Kongress zur Unterdrückung des Mädchenhandels:
»Herzoginnen waren dort aufmarschiert, Gräfinnen, Bischöfe, Pastoren, Rabbiner, Polizeibeamte und alle Sorten bürgerlicher Philanthropen! […] Welches aber waren die Kampfmittel, die von den vornehmen bürgerlichen Kongressdelegierten gefordert wurden? Religion und Polizei. […] Eine Dame aus Kanada sprach entzückt von der Polizei und der weiblichen Polizeiaufsicht über die ›gefallenen‹ Mädchen, in Bezug auf die Erhöhung der Arbeitslöhne aber bemerkte sie, dass die Arbeiterinnen höhere Löhne nicht wert seien.«
SPD-Ministerin Manuela Schwesig, ihre Kumpanen aus der CDU/CSU und »Abolitionistinnen« wie Alice Schwarzer stehen in eben dieser Tradition bürgerlicher Heuchelei. Dem ökonomischen Zwang zu begegnen, der Frauen in die Prostitution treibt, hieße Beratung und Unterstützung beim Ausstieg, hieße Ausbildung und Arbeitsplätze zu schaffen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dass sie dazu schweigen, zeigt, dass sie nicht das geringste Interesse an denen haben, zu deren »Wohl« sie repressive Gesetze fordern und schaffen und den Unterdrückungsapparat des kapitalistischen Staats einsetzen wollen.
Prostitution als Kehrseite der Familie
Auf der anderen Seite hat das positiv gemeinte Prostitutionsgesetz des Jahres 2002 die Bedingungen für in der Prostitution Tätige nicht verbessert. Der Polizeiapparat geht weiterhin mit Razzien gegen Prostituierte vor und pflegt illegale Karteien. Die »Entstigmatisierung« hat nicht stattgefunden, weil die Stigmatisierung nicht nur aus der Doppelmoral der herrschenden Klasse resultiert, sondern die Doppelmoral auch Frauenunterdrückung widerspiegelt, die sich in der Prostitution als Kehrseite der Familie äußert.
Bei dem Ansatz für dieses Gesetz stellt sich aber ein weiteres Problem, weil es darauf abzielte, Prostitution – also einen Ausdruck von Frauenunterdrückung – zu normalisieren. Daraus resultiert auch die Forderung nach gewerkschaftlicher Organisierung, obwohl so gut wie keine Prostituierte in einem Lohnverhältnis steht und sich kaum eine gewerkschaftlich organisiert.
Gehen wir diesen Schritt mit, müssen wir auch akzeptieren, wenn das Arbeitsamt in Sexarbeit und Prostitution vermittelt. Tatsächlich hat das Jobcenter Frauen den Ausstieg mit dem Argument verwehrt, dass sie doch ein Einkommen hätten. Wir müssten auch die Eröffnung eines Bordells begrüßen, weil hier Arbeitsplätze insbesondere für Frauen geschaffen werden – statt dagegen als Institution von Frauenunterdrückung zu protestieren.
Die Normalisierung eines Symptoms von besonderer Entfremdung und Frauenunterdrückung aber heißt, diese auch zu bestätigen und dazu beizutragen, dass sexuelle Freiheit noch schwerer zu erreichen ist.
Gegen bürgerliche Heuchelei
Wir sollten auf der Seite derer stehen, die gegen Kriminalisierung und Diskriminierung angehen. Wir stellen uns mit ihnen gegen bürgerliche Heuchelei. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass in der Prostitution Tätige ungefährdet arbeiten können. Wenn Prostituierte sich organisieren, um gegen Gewalt, »Polizeischweinereien« oder die anstehende reaktionäre Gesetzgebung anzugehen, müssen Linke das unterstützen. Daraus folgt aber nicht, für Prostitution einzutreten.
Mindestens ebenso wichtig aber sind die neu entstandenen Frauenbewegungen, die breiten Proteste gegen Sexismus und Frauenunterdrückung insgesamt, wie sie sich in der Kampagne #Aufschrei23, dem Prostest gegen die Vereinnahmung von Frauenrechten für Rassismus (#Ausnahmslos) und den wiederbelebten großen Demonstrationen zum Frauenkampftag am 8. März zeigen.
Notwendig ist auch der Kampf für höhere Mindestlöhne, für gleiche soziale und politische Rechte für Migrantinnen und Migranten und für Geflüchtete, um schon heute Frauen vor sozialer Verelendung und dem stillen ökonomischen Zwang zur Prostitution zu bewahren.
Kapitalismus und Familie
Denn der Kapitalismus hat mit seiner Krisendynamik zur Polarisierung zwischen einer großen Mehrheit von Besitzlosen und einer Minderheit von Reichen und Superreichen geführt. Die soziale Polarisierung der letzten Jahrzehnte hat das Armutsrisiko unter Frauen beträchtlich gesteigert, Flüchtlinge und Migrantinnen werden oft nur als Illegale oder Halblegale geduldet und so zu prekärer Arbeit und zur Prostitution gezwungen.
In letzter Konsequenz aber sorgt die Aufrechterhaltung der Kleinfamilie als Instrument der sozialen Kontrolle und Ort der günstigeren Wiederherstellung der Arbeitskraft im Kapitalismus dafür, dass die Unterdrückung der Frau fortbesteht. Deshalb müssen wir auch für eine Welt kämpfen, in der kein Mann auf die Idee käme, sich die sexuellen Dienste einer Frau zu kaufen, und keine Frau auf die Idee käme, aus welchen Gründen auch immer diese zu verkaufen.
Eine Welt der Solidarität
Marxisten streben eine Welt an, die die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Das setzt die Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter voraus, den gemeinsamen Kampf zur »Wegfegung der kapitalistischen Produktion« und für einen Sozialismus von unten.
Wie sich die persönlichen Beziehungen dann gestalten werden, dazu meint Engels:
»Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen andern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen – Punktum.«
Weiterlesen:
Rosemarie Nünning, Sheila McGregor
»Prostitution: Sexarbeit, Kriminalisierung und Frauenunterdrückung«
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Foto: Baptiste Pons
Schlagwörter: Inland, Prostitution