In Belarus erhöhen Streiks und Proteste den Druck auf das Regime. Von Tomáš Tengely-Evans
Der Widerstand gegen das Regime des belarussischen Präsidenten Aleksander Lukaschenko wächst und zeigt sich auf der Straße und in den Betrieben. In der Hauptstadt Minsk trotzten am Dienstag in der dritten Nacht in Folge Tausende Menschen der Bereitschaftspolizei und der Geheimpolizei des KGB.
Belarus: Streiks in den Fabriken
Zuvor waren Arbeiterinnen und Arbeiter mehrerer Fabriken und Betriebe nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Wochenende um 12 Uhr mittags in den Ausstand getreten. Sie folgten damit einem Generalstreikaufruf, der von drei oppositionellen Blogs – Nexta Live, Belamova und MK Belarus – verfasst worden war. Der belarussische Herrscher Lukaschenko behauptet, die liberale Herausforderin Swiatlana Tichanowskaja mit 81 Prozent der Wählerstimmen gegenüber ihren 11 Prozent geschlagen zu haben. Bei den Protesten, die am Montagabend in der Hauptstadt Minsk und anderen Städten ausbrachen, tötete die Polizei einen Mann und verhaftete mehr als 6.000 Menschen. Tichanowskaja floh am Dienstag nach Litauen, und es tauchte ein Video auf, in dem sie die Menschen auffordert, zu Hause zu bleiben, »euren Kindern zuliebe«.
Polizeigewalt in Belarus
Die Polizeigewalt – und der anscheinend erzwungene Appell Tichanowskajas – hat die Demonstranten aber nicht abgeschreckt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter des Elektrotechnikwerks VI Koslow in Minsk legten die Arbeit nieder und unterbreitetem dem Management ihre Forderungen. Dazu gehörten die »sofortige Beendigung der gegen unbewaffnete Zivilisten gerichteten Gewalt«, die »Freilassung der während der friedlichen Demonstrationen festgenommenen Personen« und »wieder Zugang zum Internet, um der Verbreitung von Gerüchten entgegenzuwirken«. Einige Passanten versammelten sich, um die Streikenden des Werks Koslow zu unterstützen.
Zwei Abteilungen des Petrochemiekomplexes Grodno Asot, eins der größten Unternehmen des Regimes, legten ebenfalls ihre Arbeit nieder. Die Beschäftigten des Lebensmittelkonzerns Minsker Margarinewerk verließen den Betrieb und vorbeifahrende Autos hupten, um ihre Unterstützung zu signalisieren. Und auch Mitarbeiter des Chemieinstituts für Neue Materialien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften, eine Art staatlicher Thinktank, schlossen sich dem Generalstreikaufruf an.
»Niemand glaubt den Ideologen mehr!«
Die O-Bus-Fahrer einer Minsker Flotte verweigerten die Arbeit, nachdem sie herausgefunden hatten, dass ein Fahrer verletzt worden war. Und Arbeiterinnen und Arbeiter der wissenschaftlichen Forschungseinrichtung RUE Belenergosetprojekt legten wegen der »gespannten« Atmosphäre in der Hauptstadt die Arbeit nieder. Als Zeichen dafür, dass das Regime geschwächt ist, widersetzten sich die Beschäftigten des Minsker Traktorenwerks der Drohungen eines seiner Handlanger. Etwa 70 Ingenieure und Techniker verschiedener Abteilungen verließen ihren Arbeitsplatz und versammelten sich vor dem Gebäude. Der stellvertretende Direktor des Unternehmens, zuständig für »ideologische Angelegenheiten«, kam in der Mittagspause heraus und versuchte sie einzuschüchtern, damit sie die Arbeit wieder aufnahmen. Erfolglos, wie Nexta Live berichtete: »Niemand glaubt den Ideologen mehr.«
Außerhalb der Hauptstadt gingen Arbeiterinnen und Arbeiter der Belshina-Reifenfabrik in der Industriestadt Babrusyk auf die Straße und forderten freie Wahlen. In einer Erklärung eines Arbeiters heißt es: »Wir, die Arbeiter von Belshina, sind mit dem belarussischen Volk solidarisch. Wir haben den Streik ausgerufen.«
Die Zuckerraffinerie Zabinka im westlich liegenden Bezirk Brest stellte die Produktion ein. Die Beschäftigten versammelten sich und forderten ein Treffen mit dem Vorsitzenden des leitenden Bezirkskomitees, einem örtlichen Beauftragten des Regimes. Genau diese Art von Klassenaktion könnte, wenn sie noch deutlich ausgeweitet würde, dem Regime Lukaschenkos das Genick brechen.
Der Aufstieg Lukaschenkos
Lukaschenko kam in dem Chaos nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Russlands und des Ostblocks an die Macht. Während diese Länder behaupteten, »sozialistisch« zu sein, waren sie in Wirklichkeit staatskapitalistische Gesellschaften, in denen die Arbeiterklasse keinerlei Kontrolle hatte. Die herrschende Klasse – die Staatsbürokratie – verhielt sich genauso wie die Bosse im Kapitalismus des freien Marktes. Ihr Ziel war es, Profit anzuhäufen und den internationalen Konkurrenten einen Schritt voraus zu sein. Die Bedürfnisse der einfachen Leute interessierten sie nicht. Revolutionen stürzten im Jahr 1989 die Ostblockregime, und das stalinistische Russland zerfiel in 16 Republiken. Sie wandelten sich vom Staatskapitalismus zu einem Kapitalismus des freien Marktes. Kommunistische Politiker wurden zu »demokratischen« Politikern und die Manager von Staatsbetrieben zu Managern von Privatfirmen. Lukaschenko war zum Beispiel der Manager eines landwirtschaftlichen Betriebs gewesen. Gewöhnliche Menschen, die auf die Straße gegangen waren und Freiheit und soziale Gerechtigkeit gefordert hatten, zahlten den Preis für die Politik des freien Marktes.
Etablierung der herrschenden Klasse in Belarus
In Belarus verlief dieser Prozess etwas anders als den in übrigen Republiken. Hier war die stalinistische Bürokratie besonders konservativ und hatte sich jeglichen Reformen widersetzt. Doch eine Reihe mächtiger Proteste von Arbeiterinnen und Arbeitern im April 1991 erschütterte die Kommunistische Partei in ihren Grundfesten. Zu den Protesten gehörten Streiks in über 80 staatseigenen Unternehmen in Minsk, von denen einige von unabhängigen Gewerkschaften organisiert worden waren.
Aufgrund einer Mischung aus Spaltungen an der Spitze des Systems und diesen Protesten erklärte Belarus im August 1991 seine Unabhängigkeit. Nach Erlangung der Unabhängigkeit behielten dieselben Personen aber ein hohes Maß an Macht. Anders als in Russland und anderen Ostblockstaaten verfolgten die belarussischen Machthaber keine groß angelegten marktwirtschaftlichen Reformen, da sie befürchteten, dass dies ihre Herrschaft destabilisieren könnte.
Belarus und die imperialistischen Rivalität
Lukaschenko hat darauf gesetzt, konkurrierende Imperialismus gegeneinander auszuspielen: die USA, Russland und die Europäische Union (EU). Wegen des Verbleibs im russischen Lager erhielt sein Regime riesige Subventionen zur Stützung der Wirtschaft. Weil es aber nicht zur Privatisierung in großem Maßstab kam, wurden auch einige russische Oligarchen verprellt, die auf neue Märkte gehofft hatten.Und in jüngster Zeit hat Lukaschenko im Westen und in China, beide in Konkurrenz zu Russland stehend, um Investitionen geworben und im Gegenzug ein gewisses Maß an neoliberaler Politik unterstützt, was von dem russischen Präsidenten Wladimir Putin heftig bekämpft wurde.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden imperialistischen Rivalität zwischen dem Westen und Russland ist es keine Überraschung, dass sich westliche Politikerinnen und Politiker als Unterstützende des Freiheitskampfs in Belarus ausgeben. Sie hoffen, dass ein neuer Präsident entschieden prowestlich und marktfreundlich sein wird und so ihren Konkurrenten schwächt.
Belarus: Wie weiter für die Bewegung?
Eine echte Alternative zu Lukaschenkos autoritärem Regime ist aber nicht marktwirtschaftlicher Kapitalismus, der die Menschen der Arbeiterklasse so schwer gebeutelt hat. Die wirkliche Alternative liegt in den Protesten auf den Straßen und den Streiks in den Betrieben, wo Arbeiterinnen und Arbeiter für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und eine Gesellschaft kämpfen, in der sie das Sagen haben.
Zum Text: Der Text erschien zuerst auf Englisch in der Zeitschrift »Socialist Worker«. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: freebelarus.livejournal.com
Schlagwörter: Belarus, Protest