Die Soziologin Christine Delphy, eine der führenden französischen Feministinnen, über die zunehmende Islamfeindlichkeit in ihrem Land und den Rassismus der Eliten
Das Burkiniverbot hat viele erschüttert. Zwar hat das Oberste Verwaltungsgericht das umstrittene Verbot an französischen Stränden gestoppt. Aber der dem zugrunde liegende Rassismus ist immer noch da und keineswegs neueren Datums. Die Behandlung des Themas Islam seitens der französischen Politiker und der Medien haben Rassismus salonfähig gemacht. Anerkannte Schriftsteller verfassen Bücher, in denen sie erklären, dass wir uns der »Ausländer« entledigen müssen, die unseren Traditionen fremdartige Lebensweisen überstülpen wollen.
Rassismus und das französische Establishment
Die gesetzlichen Kleidervorschriften für Muslima zeigen, wie besessen das französische Establishment von der Frage der »Identität« ist. Das Tragen des Nikabs wurde im Jahr 2010 verboten. Aus einer Bevölkerung von 65 Millionen betraf es es rund 200 Frauen. Das Gesetz für das Verbot des Tragens von Kopftüchern an Schulen im Jahr 2004 betraf ein paar Hundert Konflikte, die lokal hätten gelöst werden sollen.
Weil dies ein so hartes und unverhältnismäßiges Gesetz war, begannen sich einige von uns Sorgen zu machen. Aus einer Studie des Philosophieprofessors Pierre Tevanian ging hervor, dass die Schülerinnen und Schüler selbst überhaupt kein Problem damit hatten, wenn ihre Mitschülerinnen Kopftuch trugen.
Es wurde eine Menge Energie investiert, um die öffentliche Meinung zu drehen. Daran waren Rechte beteiligt, einige Überläufer von links und einige, die als Repräsentantinnen des Feminismus galten. Sie alle beschäftigen sich geradezu manisch mit den sichtbaren Zeichen der muslimischen Religion, aber insbesondere mit der Kleidung muslimischer Frauen und Mädchen.
Angriffe auf den Islam als Religion
Sie greifen auch regelmäßig den Islam selbst an. Die Tatsache, dass es im Gegensatz zu den christlichen Religionen im Islam weder einen Papst noch eine offizielle Führung gibt, an die sie sich wenden können, beunruhigt sie. Deshalb wird seit Jahren von der Schaffung eines »Islams für Frankreich« geredet und inzwischen hat die Regierung eine »Stiftung für den Islam Frankreichs« gegründet. An ihrer Spitze steht Jean-Pierre Chevènement, früher Mitglied der Sozialistischen Partei, dessen Äußerungen an Islamfeindlichkeit grenzen.
Kulturassimilation oder Politik der kulturellen Vielfalt?
Chevènement spricht von zwei Modellen: Dem »französischen Modell« der Kulturassimilation und dem »angelsächsischen Modell« einer Politik der kulturellen Vielfalt. Angeblich leben in Großbritannien und den USA die verschiedenen Gruppen zwar Seite an Seite, seien aber mit ihren jeweils eigenen Regeln und Gesetzen faktisch getrennt. Das ist offensichtlich Unsinn. Wenn es eine Trennung gibt, dann weil Muslime stigmatisiert, an den Rand gedrängt, ausgeschlossen werden.
Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit
In gewisser Hinsicht ist Islamfeindlichkeit die Fortsetzung des französischen Kolonialismus. Frankreich eroberte Algerien im Jahr 1830, aber Algerierinnen und Algerier waren ebenso wenig wie die Bevölkerung Französisch-Indochinas Staatsbürger. Sie waren Sondergesetzen unterworfen, aufgrund derer sie unterdrückt und diskriminiert wurden. Diese »Einheimischengesetze« wurden erst im Jahr 1945 aufgehoben, in demselben Jahr, als Frauen das Wahlrecht erhielten.
Bis heute hat die französische Gesellschaft die Nachfahren der einst kolonisierten Völker nicht akzeptiert, selbst wenn sie in Frankreich geboren wurden. Die verwendete Sprache ist bezeichnend: Sie sind »Zuwanderer zweiter« oder »dritter Generation«. Selbst in der vierten und fünften Generation gelten sie noch als »Migranten«. Das ist absurd. Ein Zuwanderer ist jemand, der in einem anderen Land geboren wurde und soeben hier angekommen ist – das wird nicht genetisch vererbt. Von diesen »Immigranten« wird verlangt, dass sie in jedem Aspekt den Franzosen gleichen sollen. Das wird dann »Integration« genannt, tatsächlich aber ist Assimilation gemeint – Verschmelzung mit einer kaum definierten »französischen Identität«. Sie sollen sich unsichtbar machen, aber wegen des Rassismus werden sie immer an ihrer Hautfarbe erkannt.
Wir und die anderen
Wegen des Rassismus sind die Franzosen auch inzwischen ziemlich talentiert darin, Araber zu erkennen, obwohl ihre Hautfarbe sich kaum von vielen »ethnischen Franzosen« unterscheidet. Die Formulierung »ethnische Franzosen« ist selbst neueren Datums und inhaltsleer. Weiße in Frankreich stammen nicht nur von den Galliern ab, die hier vor Tausenden Jahren lebten. Nach Jahrhunderten der kriegerischen Überfälle, Einwanderung und Vermischung ist es unmöglich, eine spezifische »französische Ethnie« auszumachen.
Einige Islamfeinde wie die weit rechts stehenden Anhänger des ehemaligen Präsidenten ^ reden sogar ganz offen von Frankreich als »Land der weißen Rasse«. Das zeigt, worum es ihnen in Wirklichkeit geht, nämlich zu behaupten, es gebe die Weißen und die »anderen«. Im Jahr 2010 wurde zum Beispiel Sarkozys damaligem Innenminister Brice Hortefeux auf einer Wahlkampftour von einer Aktivistin ein junger Mann nordafrikanischer Herkunft mit den Worten vorgestellt: »Er ist in Ordnung, er isst Schweinefleisch und trinkt Alkohol.«
Schweinefleisch in der Schule ist ein Dauerthema. Muslimische Kinder essen kein Schweinefleisch,. Einige Lokalbehörden bieten deshalb ein alternatives Essen an. Andere weigern sich strikt mit dem Argument, dass es in einer Republik nur ein Menü gebe. So etwas wird in den Medien bis zum Überdruss breitgetreten. Es gibt also eine öffentliche Debatte über eine französische »Identität«, die sich an der Frage festmacht, ob jemand Schweinefleisch isst oder Alkohol trinkt.
Eine falsche Vorstellung von Antiklerikalismus
Es gibt eine völlig falsche Vorstellung davon, was Antiklerikalismus sein soll. Bei Antiklerikalismus geht es nicht darum, Religion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, sondern dafür zu sorgen, dass sie keinen Einfluss auf den Staat hat. Deshalb hat das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs entschieden, dass das Burkiniverbot gegen verfassungsrechtlich garantierte Freiheiten verstößt. Sarkozy und andere Rechte machen dagegen Stimmung. Sie fordern ein gesetzliches Verbot von Burkinis, als sei dieses Kleidungsstück von nationaler Bedeutung.
Voraussichtlich wird es kein entsprechendes Gesetz geben, weil dann auch die Verfassung wegen ein paar Dutzend Burkinis geändert werden müsste.Aber der antimuslimische Rassismus wird ohne Zweifel weitergeschürt werden, nachdem es schon so weit gekommen ist. Die Hauptparteien befleißigen sich alle mehr oder weniger desselben Diskurses wie der rassistische Front National (NF). Sie distanzieren sich von dem NF, weil er ein Konkurrent bei den Wahlen ist, aber sie alle stellen die französische »Identität« und die »Nation« in den Mittelpunkt.
Das Versagen der Linken
Die Politiker halten Frankreich als das Land hoch, von dem alle anderen lernen können. Sie sagen, Frankreich sei das Land der »droits de l’homme«, der Männerrechte, wie die Menschenrechte noch heute in Frankreich heißen. Immer wenn ich mit Menschenrechtlern über eine Änderung dieses Begriffs rede, sprechen sie sich dagegen aus, weil es auf die Sprache der Französischen Revolution zurückgehe. Sie halten lieber an einem vor über 200 Jahren stattgefundenen Ereignis fest, als sich auf die heutige Welt zu beziehen. Unsere derzeitige Regierung nennt sich sozialistisch, vertritt aber dasselbe wie die Rechten. Ministerpräsident Manuel Valls reitet ständig auf dem Kopftuch als Hauptproblem herum. Die Lage in Frankreich ist schwierig, weil selbst unter den »Linken der Linken« Islamfeindlichkeit vorherrscht. Sie verbirgt sich unter dem Schleier einer antiklerikalen Rhetorik, ist aber äußerst totalitär. Die Lage in Frankreich ist so verkorkst – wir wissen nicht, was die Zukunft bringt.
Zum Text: Der Text erschien zuerst auf Englisch bei Socialist Worker. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning
Foto: Marie A.-C.
Schlagwörter: Feminismus, Frankreich, Frauen, Islam, Islamfeindlichkeit, Kolonialismus, Kopftuch-Verbot, marx21, Rassismus, Religion