Rebellisches Regieren: Warum das Konzept wichtige historische Lehren und theoretische Überlegungen ignoriert und worauf die Linke beim Regieren besonders achten sollten. Von Sascha Alexander
DIE LINKE diskutiert rebellisches Regieren als Machtoption hin zu einem demokratischen und ökologischen Sozialismus. Thomas Goes und Violetta Bock schlagen die Strategie in ihrem Buch »Ein unanständiges Angebot« (2017) vor, Raul Zelik befürwortet sie in »Wir Untoten des Kapitals« (2020). Auch die scheidende Vorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, meint, dass »die Zeit für rebellisches Regieren« reif sei. Doch bietet die Strategie, wie behauptet, eine Alternative zur Revolution von unten? Ist sie ein realistischer Weg zum Sozialismus?
Rebellisches Regieren: Keine neue Debatte
Die Debatte um linkes Regieren reicht zurück zu den Anfängen der Arbeiterbewegung. In der deutschen Sozialdemokratie forderte Ende der 1890er Jahre vor allem Eduard Bernsteins revisionistischer Kurs den revolutionären Flügel heraus. Während er sich für schrittweise Sozialreformen von oben stark machte, sprach sich die Parteilinke von Rosa Luxemburg bis Karl Kautsky vehement dagegen aus. Sozialreform bei »gleichzeitiger Unterstützung des bürgerlichen Staates im [G]anzen«, bedeute laut Luxemburg, »Sozialismus im allerbesten Fall auf bürgerliche Demokratie oder bürgerliche Arbeiterpolitik« zu reduzieren.
Der Flügel um Luxemburg sah stattdessen in der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse den Weg zum Sozialismus. Eine linke Partei ist nötig im Kampf um eine andere Gesellschaft, aber eben kein Ersatz für die Selbstaktivität der Menschen – sie kann nicht stellvertretend den Sozialismus über das Parlament einführen.
Der Staat ist Hort der Konterrevolution
Auf Grundlage dieser Position diskutierte die Kommunistischen Internationale (Komintern) die Frage des »linken Regierens« erneut: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Russischen Revolution und einer revolutionären Massenbewegung in ganz Europa, die demokratische Räte-Strukturen herausbildete, und der sich parallel dazu formierenden Konterrevolution, wurden Bedingungen für ein Regierungseintritt formuliert. Die »elementarsten Aufgaben« einer »Arbeiterregierung« sah die Komintern darin, »das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Steuern auf die Schultern der Reichen abzuwälzen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen«. Mit Blick auf die Thüringer »Arbeiterregierung« 1923 kommentierte der Geheimdienst die Debatte treffend mit: Die KPD habe »ihre ganze Agitation und Propaganda auf den Bürgerkrieg eingestellt«. Und: »Der Ruf der revolutionären Arbeiterschaft nach Waffen ertönt immer lauter«. In der revolutionären Tradition wurde die Regierungsfrage also klar beantwortet: Regieren sollte die Linke nur dann, wenn sie unmittelbar und auf Massenbasis den revolutionären Bruch mit Staat und Kapital herbeiführen kann.
Regieren als echte Machtoption?
Die Positionen von Rosa Luxemburg und die Debatten der Komintern spielen in der Diskussion um rebellisches Regieren kaum eine Rolle. Stattdessen wird die Strategie vor dem Hintergrund einer langen Welle von Niederlagen der Arbeiterklasse im Neoliberalismus und dem unerwarteten Aufstieg reformistischer Parteien wie SYRIZA in Griechenland diskutiert. Es wird angeführt, dass dieser Aufstieg endlich eine reale Chance für die Linke biete, welche nicht verspielt werden dürfe – er sei eine echte Machtoption. Danach unterscheiden sich die Vorschläge der verschiedenen Befürworterinnen und Befürworter rebellischen Regierens. Goes und Bock bieten mit ihrem Buch (2017) die radikalste Variante und verstehen darunter »eine Doppelstrategie, in der Kämpfe innerhalb des Staates mit Kämpfen außerhalb der Staatsapparate verbunden werden«. Dies wird von der Annahme des griechischen Marxisten Nicos Poulantzas hergeleitet, dass der Staat kein einheitlicher Block sei, den das Kapital einfach besitze, sondern Klassenkämpfe in seinen Apparaten möglich seien. Nach Goes und Bock helfen die Kämpfe in den Staatsapparaten dabei, in den Worten von Poulantzas, die »innerhalb der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu schaffen und zu entwickeln«. Gleichzeitig sollen sich Kämpfe außerhalb der Staatsapparate entfalten und »Einrichtungen der direkten und partizipativen Demokratie« hervorbringen.
Was ist eine radikal-reformistische Linksregierung?
Um diese Kämpfe nach den zahlreichen Niederlagen zu entfachen, schlagen Goes und Bock eine radikal-reformistische Linksregierung vor. Diese hat sich an zwei »Maxime« zu halten: Erstens muss sie »in maximaler Weise« die Selbsttätigkeit der Unterdrückten fördern. Zweitens muss sie »versuchen«, um die Massen anhand ihrer eigenen Kampferfahrungen zu radikalisieren, »Kämpfe für systemkonforme Reformen mit Kämpfen für antikapitalistische Reformen zu verbinden«. Während die Debatte um die »Arbeiterregierung« im Kontext einer revolutionären Massenbewegung diskutiert wurde, geht rebellisches Regieren also davon aus, dass diese Dynamiken von oben initiiert werden können. Zur Rechtfertigung verweisen Goes und Bock unter anderem auf den amerikanischen Revolutionär Hal Draper und legen ihm in den Mund, dass eine rebellische Regierung die Massen anrege, »sich selbst zu befähigen, die Macht im eigenen Namen zu übernehmen durch ihre eigenen Kämpfe«. Draper schrieb in seinem Text »Die zwei Seelen des Sozialismus« (1966) aber nicht von Regierungen, sondern vom Voranschreiten des organisierten, radikalen Teils der Arbeiterklasse; also von einer Selbstermächtigung von unten. Auch der Verweis auf den Regierungsantritt von Salvador Allende in den 1970iger Jahren ist falsch: Allende ist auf eine über die 1960iger Jahre hinweg erstarkende Arbeiterbewegung aufgesprungen. Seine »rebellische Regierung« war die Folge dieser Bewegung, nicht der Anfang.
Zwar grenzen sich Goes und Bock in ihrer Radikalität vom Kurs Bernsteins ab, ihre Strategie unterscheidet sich aber ebenso deutlich von den Positionen, die Luxemburg und andere für die Linke formulierten: Statt einen revolutionäre Bruch durch die Selbstaktivität der Menschen herbeizuführen, beziehen sie sich auf eine von oben gedachte »langfristige Transformation«. Sie landen damit bei einer Neuauflage eurokommunistischer Ideen aus den 1970er Jahren. Dabei ist die Alternative, die Goes und Bock anbieten, kaum durchdacht.
Selbstermächtigung kommt von unten
Wer den Weg von Goes und Bock – eine lange Phase der staatlichen Transformation hin zum Sozialismus – einschlägt, muss sich nämlich mit dem Zusammenhang von Staat und Kapitalismus beschäftigen, um die Frage beantworten zu können, ob linke Kräfte diese Struktur überhaupt aufbrechen können. Goes und Bock gehen diesen Schritt nicht, der amerikanische Marxist Fred Block bietet aber eine Antwort.
Die Natur des kapitalistischen Staates
In seinem Artikel »The Ruling Class Does Not Rule« von 1977 beschreibt er, dass der kapitalistische Staat nur über Einnahmen verfügt, wenn der Akkumulationsprozess am Laufen gehalten wird: »Wenn die Wirtschaftstätigkeit rückläufig ist, wird der Staat Schwierigkeiten haben, seine Einnahmen auf einem angemessenen Niveau zu halten. (…) In einer kapitalistischen Wirtschaft wird das Maß wirtschaftlicher Aktivität weitgehend von den privaten Investitionsentscheidungen der Kapitalisten bestimmt«. Hieraus leitet Block eine besondere Macht des Kapitals ab, nämlich »dass Kapitalisten in ihrer kollektiven Rolle als Investoren ein Vetorecht gegenüber der staatlichen Politik haben, da der Ausfall ausreichender Investitionen den Staatsmanagern große politische Probleme bereiten kann«. Weitergedacht bedeutet das, dass »Staatsmanager« – gemeint sind Politikerinnen und Politiker sowie die Bürokratie – ein materielles Interesse daran haben, Investitionen anzukurbeln und den Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Das funktioniert nur innerhalb hierarchischer und undemokratischer Apparate, wodurch auch der Staat keine neutrale Institution sein kann.
Transformation in die Sackgasse
Wie soll aber rebellisches Regieren aussehen, wenn der Staat nur funktionsfähig ist, solange Kapital ungehindert akkumulieren kann und seine Apparate nicht demokratisiert sind? Hier zeigt sich ein zentraler Widerspruch, der beim rebellischen Regieren unbeachtet bleibt: Eine radikal-reformistische Linksregierung wäre gezwungen, in gewissem Umfang kapitalistische Politik zu betreiben. Nur so können Regierung und Staat einigermaßen stabil bleiben, um die Transformation einzuleiten. Doch kämpft sie dann nicht mit der Arbeiterklasse, sondern gerät in Gegensatz zu ihr. Die Regierung müsste beispielsweise Streiks unterbinden, um Investitionen und ihren eigenen Fortbestand nicht zu gefährden und würde sich vor den Massen delegitimieren.
Je länger die Transformation andauert, desto eher wird die Tendenz zu Streiks, Destabilisierung und abrupt abfallender Regierungsfähigkeit zunehmen. Gerade die Erfahrungen der Linken in Chile in den 1970er Jahren verdeutlicht das: während Allende sich in der Regierung zu Kompromissen mit dem Kapital und der konservativen Mittelklasse gezwungen sah, schritten radikale Teile der Arbeiterklasse längst voran und waren nicht mehr bereit, einmal Erkämpftes wieder aufzugeben. Doch besetzte Fabriken und Kapitalismus vertragen sich nicht, sodass Konfrontationen zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern einerseits und der Regierung andererseits absehbar waren.
Wenn eine Linksregierung in der Transformationsphase stattdessen antikapitalistisch durchregieren würde, käme ganz unmittelbar das »Vetorecht« des Kapitals ins Spiel, was ausfallende Investitionen und den Einbruch der Wirtschaft bedeutet. Die Erfahrung hat beispielsweise das Kabinett François Mitterrands Anfang der 1980er Jahre gemacht: nachdem es 1981-1984 antikapitalistische Reformen als Antwort auf die Wirtschaftskrise einleitete, organisierten französische Konzerne einen Investitionsstreik gegen die Regierung. Mitterrand knickte ein und wollte, so Die Zeit 1988, »nichts mehr von linker Wirtschaftspolitik wissen«. Das materielle Interesse der Staatsmanager setzte sich letztlich durch.
Kämpfe in den Staatsapparate?
Eine andere Schwäche des rebellischen Regierens liegt in der von Poulantzas beschriebenen Möglichkeit, Kämpfe in den Staatsapparaten zu führen. Eine Linksregierung wird nämlich spätestens da mit den Kämpfen an ihre Grenzen stoßen, wo das Militär, die Polizei und Geheimdienste anfangen. Spaltungen existieren zwar, es bleibt aber immer ein konterrevolutionärer »Kern«, wie es der ehemalige Sozialist Henri Weber in einer Debatte mit Poulantzas ausdrückte, welcher weiterhin »nach rechts« tendiert.
Der britische Marxist Chris Harman sieht daher die Spaltung dieser repressiven Apparate als Voraussetzung für den Erfolg einer Sozialismus-Strategie, weiß aber gleichzeitig, dass die konterrevolutionären Teile jede Gelegenheit nutzen werden, um gegen die Arbeiterbewegung und die neuentstehende Demokratie loszuschlagen. Daher gilt für bewaffnete Kräfte, dass Spaltungen nicht ausreichen. In »Eurocommunism: The State and Revolution« schreibt er: »Wenn die Mehrheit der Soldaten und einige ihrer Offiziere zu den Arbeitern überlaufen, müssen sie bereit sein, Gewalt anzuwenden, um zu verhindern, dass sie von den übrigen Streitkräften, die der herrschenden Klasse gegenüber loyal bleiben, diszipliniert werden«.
Lehren aus der Vergangenheit
Es geht bei den repressiven Apparaten also nicht wirklich um Kämpfe im Staat, sondern um den Druck, den eine Massenbewegung entfalten kann, sowie ihr Vermögen, Demokratie gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Harman verweist hier auch auf die Erfahrungen der Linken in Chile. Massive wirtschaftliche Probleme sowie rechte Medienkampagnen schwächten damals den Rückhalt der Regierung und Allende sah sich genötigt, gegen Arbeiterselbstorganisation vorzugehen. Das Militär wartete drei Jahre auf diesen Moment der Schwäche, um dann zu putschen. Goes und Bock würden sicherlich einwenden, dass das Projekt Linksregierung aus den historischen Fehlern lernen könne und Arbeiterselbstorganisation sowie Arbeiterbewaffnung schlicht unterstützt werden müsse. Doch würde sich eine Linksregierung durch diesen Schritt im Staat politisch isolieren und dadurch vermutlich parlamentarische Mehrheiten oder die letzte Unterstützung durch die Bürokratie verlieren. Genau das versuchte Allende mit der Entwaffnung von Arbeiterinnen und Arbeitern ja zu vermeiden. Warum also den Staat aufrechterhalten, wenn er doch ein Hort der Gegenrevolution – die Basis der sich verselbstständigenden Bürokratie, des Militärs, der Polizei und Geheimdienste – ist?
Demokratische Räte sind die Alternative
Rebellisches Regieren weicht den historischen Debatten in der Linken aus, lässt den Zusammenhang von Staat und Kapitalismus weitgehend unbeachtet und überschätzt die Möglichkeit, Kämpfe im Staat zu führen. Statt, wie Karl Marx es für die Pariser Kommune festgehalten hat, »eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft« zu führen, zielt rebellisches Regieren auf eine Transformation mit dem Staat ab. Die Linke hatte bei diesen Versuchen immer das Nachsehen – im schlimmsten Fall endeten die Versuche mit dem Sieg der Konterrevolution, der physischen Zerstörung der Linken und dem Massenmord an zehntausenden Menschen. Aber was ist die Alternative?
Die Rolle einer oppositionellen Partei
Der Kern des Marxismus ist die Annahme, dass Menschen sich selbst befreien können – gerade das macht auch Hal Draper in seinem oben genannten Text deutlich. Dafür braucht es keine Linksregierung im bürgerlichen Staat; sie wäre sogar hinderlich. Stattdessen sind demokratische Räte von unten die Antwort. Goes betont häufig, dass Räte seit der Oktoberrevolution 1917 keine nennenswerte Rolle mehr gespielt hätten und wir alleine deswegen schon über Alternativen nachdenken müssten. Doch das ist falsch: In der Portugiesischen Revolution, die 1974 die Diktatur beendete, genauso wie in der polnischen Solidarność-Bewegung war die Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter zentral. Die Sudanesische Revolution, die 2019 Omar al-Bashir hinwegfegte, wurde gar von Räten getragen. Nahezu immer, wenn die herrschende Klasse ins Wanken kommt, entstehen Räte als Antwort der Massen. Die Frage ist also eher, wie diese Antwort gezielt ausgebaut werden kann, um letztlich den Staat zu ersetzen.
Goes und Bock stellen fest, dass es nicht »reicht (…) zu protestieren und zu opponieren, soziale Mobilisierungen ohne politische Machtoption erschöpfen sich«. Das ist richtig. Unsere Macht liegt aber nicht im kapitalistischen Staat, sondern im Betrieb und auf der Straße. Unsere Machtoption ist der Aufbau von demokratischer Gegenmacht von unten, die Staat und Kapitalismus zerschmettert. Für die jetzige LINKE, genauso wie für mögliche radikal-reformistische Nachfolgerinnen, sollte deswegen gelten, was Rosa Luxemburg festgehalten hat: »In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten«.
Weiterlesen:
Colin Barker: Revolutionary Rehearsals (Haymarket 1987)
Hal Draper: Die zwei Seelen des Sozialismus (1966)
Schlagwörter: Bewegungslinke, DIE LINKE, Linke, Regierungsbeteiligung, Rosa Luxemburg