In ihrem Programm forderte die SPD 1918 noch die Abschaffung der Klassenherrschaft. Als die Chance dazu bestand, ließ ihre Führung die Revolution niederschlagen. Wie konnte es so weit kommen? Von Stefan Bornost
Es war der Satiriker Kurt Tucholsky, der im Jahr 1932 treffende Worte für den Charakter der Sozialdemokratie fand: »Es ist ein Unglück, dass die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: Zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.«
Der 1. August 1914, auf den sich Tucholsky hier bezieht, ist so etwas wie die Urkatastrophe der deutschen Sozialdemokratie: Die bis dato revolutionär und antikapitalistisch aufgestellte Partei stimmte am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Reichstag für die Kriegskredite und unterstützte so die kaiserliche Militärmaschinerie. Nicht die SPD-Führung stellte sich später in Opposition gegen den Krieg, sondern Dissidenten, die deswegen aus der Partei geworfen wurden. Nicht die SPD-Führung setzte den Kaiser 1918 ab und erkämpfte die Republik, sondern revoltierende Arbeiter und Soldaten. Als die Bewegung sich radikalisierte, ließ die Führung der SPD sie im Bunde mit den alten Kräften, mit den Militärs, der nationalistischen Rechten, der kaiserlichen Verwaltung und den Unternehmern zusammenschießen. Die Folgen dieser Politik spalten die Arbeiterbewegung bis heute.
Nun ist dies alles etwa hundert Jahre her. Doch ein Blick zurück lohnt sich. Zum einen, weil sich die Novemberrevolution in diesem Jahr zum 100. Mal jährt. Zum anderen, weil die Frage, wie die SPD wurde, wie sie ist, auch heute noch für den Umgang mit ihr relevant ist.
SPD vor dem Ersten Weltkrieg
Tucholsky sprach von dem »guten Namen«, den die Sozialdemokratie einmal hatte. Den erwarb sie sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Damals war die SPD das Kronjuwel der Zweiten Internationalen – die mächtigste und erfolgreichste Arbeiterpartei der Welt. Anfang des Jahres 1914 zählte sie eine Million Mitglieder, 110 Reichstags- und 231 Landtagsabgeordnete, 11.000 Gemeindevertreter und 320 Magistrate. Schon 1899 gab die Partei über 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren heraus, 49 dieser Zeitungen erschienen täglich.
Dazu führte die SPD eine Reihe von Arbeitermassenorganisationen, in den Konsumgenossenschaften waren 1,3 Millionen Menschen organisiert, in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbänden sogar 2,6 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Dazu kamen sozialdemokratische Frauenverbände, Turnvereine und Gesangsgruppen.
Die theoretische Basis der Partei bildete das radikale marxistische »Erfurter Programm« von 1891, in dem der Sozialismus als Ziel festgeschrieben wurde. Darin heißt es, dass der »Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat immer erbitterter« geführt würde: »Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.«
Flügelkampf in der SPD
Doch hinter der tiefroten Fassade tobte ein Flügelkampf. Im Kern ging es dabei um Folgendes: Alle Flügel waren sich einig darüber, dass es Aufgabe der Partei sei, eine allmähliche und ständige Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im Rahmen des Kapitalismus zu erreichen. Wenn möglich, sollten parlamentarische Mehrheiten für Reformen genutzt werden. Außerdem sollten über gewerkschaftliche Kämpfe weitere Zugeständnisse durchgesetzt werden.
Gestritten wurde darüber, ob sich die Strategie der SPD darin erschöpfen sollte. Die damaligen »Modernisierer« um den späteren Reichstagsabgeordneten Eduard Bernstein bejahten dies: Der Kapitalismus habe sich grundlegend gewandelt, große Krisen und Kriege seien nicht mehr zu erwarten. Deshalb sei der Übergang zum Sozialismus als das Ergebnis steter Reformbewegung denkbar – bis irgendwann eine Mandatsmehrheit der SPD dem Kapitalismus den Garaus machen würde.
Bernsteins Position wurde durch die reale wirtschaftliche Entwicklung bestärkt. Deutschland boomte. Die durchschnittliche wirtschaftliche Wachstumsrate lag von 1895 bis 1913 bei 3,3 Prozent jährlich, dreimal so hoch wie in der langen Periode der Depression zuvor. Der Grund hierfür war die imperialistische Kolonialpolitik, an der sich alle Industrieländer zugleich und in Konkurrenz zueinander beteiligten. Der durchschnittliche Stundenlohn stieg seit den 1880er Jahren an, zwischen 1895 und 1913 wuchs er sogar um 54 Prozent. Die tägliche Arbeitszeit sank bis zum Jahr 1913 auf neun bis zehn Stunden. Diese Entwicklung sowie der Stimmen- und Mitgliederzuwachs der SPD brachte den »rechten« Flügel der Partei zu der Auffassung, gewerkschaftlicher und parlamentarischer Kampf reichten aus, um den Kapitalismus grundlegend zu verändern.
Reformismus in der Reichstagsfraktion
Vor allem unter den Abgeordneten der Reichstagsfraktion kam diese Theorie an. So hieß es schon in einem Aufruf der SPD-Fraktion zur Reichstagswahl 1884: »Der Stimmzettel ist das Werkzeug, mit dem Ihr den Staat nach Eurem Gefallen, zu Eurem Nutz und Frommen zurechtzimmern könnt. Ihr seid also im wahrsten Sinne des Wortes Eures Glückes Schmied.« In solchen Formulierungen zeigt sich die Wende zur politischen Strategie des Reformismus, die linke Politik darauf reduziert, das jeweils Machbare im Parlament durchzusetzen. Die Aufgabe der Basis ist dann nur noch die passive Unterstützung der Parlamentarier.
Vor 1914 konnten sich die Modernisierer jedoch nie theoretisch durchsetzen. Das Programm und der offiziell verkündete Anspruch blieben radikal antikapitalistisch. Insbesondere Rosa Luxemburg als Wortführerin des linken Flügels bot dem Reformismus Paroli. Sie argumentierte, dass der Aufschwung vom Kolonialwettlauf abhänge, der die Großmächte in den Krieg führen werde. Dieser Krieg werde alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung zunichte machen – eine Analyse, die sich als prophetisch erwies.
Soziale Wurzeln des Reformismus
Doch der Reformismus gewann eine immer breitere soziale Basis in der Partei. Der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel hatte Recht, als sagte: »Die SPD war nie eine reine Arbeiterpartei, schon gar keine Arbeitslosenpartei – sondern immer eine Mischung aus engagierter Arbeitnehmerschaft, aufgeklärtem und liberalem Bürgertum und linken Intellektuellen.«
Natürlich sollte eine linke Partei offen sein für alle, die für linke Ziele kämpfen wollen. Im Falle der SPD aber führte der steigende Einfluss des »liberalen Bürgertums«, insbesondere in der Reichstagsfraktion und in der explosionsartig wachsenden Gewerkschaftsbürokratie, dazu, dass substanzielle Teile der Führungsschicht der Partei sich von dem Gedanken einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft verabschiedeten. Parteichef Friedrich Ebert brachte diese Haltung auf den Punkt, als er im Oktober 1918 über eine mögliche Revolution sagte: »Ich aber will sie nicht, ich hasse sie wie die Sünde.«
Reformismus ohne Reformen
Der Historiker Arno Klönne schreibt dazu: »Der organisatorische Erfolg der deutschen Sozialdemokratie seit Ende des ›Sozialistengesetzes‹ (Parteiverbot der SPD zwischen 1878 und 1890, Anm. d. Red.) hatte eine Kehrseite: Nicht wenige der zahlreichen Funktionäre in Partei und Gewerkschaften, gerade auch der hauptamtlichen, hatten sich angewöhnt, ihre Organisation und deren ungestörtes Funktionieren als Selbstzweck zu empfinden. Widerständige Aktivitäten und spontaner Protest erschienen ihnen als politische Verhaltensweisen, die da nur Probleme bereiten, den geregelten Umgang mit den Behörden destruieren und gerade in Kriegszeiten die Obrigkeiten unnötigerweise provozieren würden.« Wie weit diese Identifikation mit dem Staat und seinen Zielen gediehen war, wurde zuerst in der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten und später in der Niederschlagung der revolutionären Bewegung deutlich.
Mit ihnen war die Metamorphose der Sozialdemokratie von der Systemopposition zur staatstragenden Partei abgeschlossen. Noch heute bildet der Reformismus die politische Grundlage der SPD – und ist dabei zu einem Reformismus ohne positiven Inhalt verkommen. Als Gerhard Schröder von »Reformen« sprach, meinte er die Agenda 2010 – eine Gegenreform zur Abschaffung sozialstaatlicher Errungenschaften.
Schlagwörter: Deutschland, Novemberrevolution, Reformismus, Revolution, SPD