Die Ereignisse in Kasachstan überschlagen sich. Seit dem Abend des 2. Januars erlebt das Land Unruhen, Aufstände und Streiks. Eine revolutionäre Stimmung liegt in der Luft. Von Marvin Berg
Auslöser der Proteste war, dass die Regierung die Preise für Flüssiggas nicht mehr subventionierte, sondern, auch auf Drängen des Internationalen Währungsfonds (IWF), frei gab. Dadurch haben sich seit Jahresbeginn die Gaspreise verdoppelt. Viele Menschen in Kasachstan tanken Gas und sind somit unmittelbar von den erhöhten Preisen ökonomisch betroffen.
Die Proteste begannen in der Industriestadt Schangaösen. Kurz darauf wurden andere Regionen und Städte ebenfalls von Massenprotesten erfasst. Hierzu zählen die größte Stadt Almaty als auch die Hauptstadt Nur-Sultan, welche nach dem ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew benannt ist. Die Regierung nahm nach den Protesten die Gaspreiserhöhung wieder zurück, doch die Massenbewegung konnte sie dadurch nicht mehr aufhalten. Auch dass Präsident Kassym-Jomart Tokajew erklärte, dass die Regierung, als auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew, zurücktreten, konnte die Protestierenden nicht beschwichtigen.
Bereits am 6. Januar entsandte Russland sogenannte »Friedenstruppen« nach Kasachstan, um »die Lage zu stabilisieren«. In anderen Worten: um seine Interessen zu sichern und dem kasachischen Staat dabei zu helfen die Proteste gewalttätig niederzuschlagen.
Schon im Jahr 2011 hatten in Schangaösen Beschäftigte in der Ölindustrie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Der Streik wurde damals von »Unbekannten« angegriffen. Nach Regierungsangaben wurden 16 Menschen getötet. Journalist:innen gehen jedoch von deutlich mehr Toten aus. Eine unabhängige Untersuchung steht bis heute aus.
Größere Proteste gab es auch schon in den 1980er Jahren, als Kasachstan noch eine Republik der Sowjetunion war. Die Proteste wurden damals blutig niedergeschlagen.
Ursachen des Aufstands in Kasachstan
In letzter Zeit, auch im Zuge der Corona-Krise, wurden vor allem Lebensmittel teurer, die Inflationsrate betrug laut Handelsblatt im Jahr 2021 11 Prozent für diese Waren. Die Krise traf wie so oft besonders die Armen. Die allgemeine Inflationsrate lag bei 9 Prozent.
Das Durchschnittseinkommen liegt in Kasachstan bei 350 Euro monatlich. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Bruttolohn liegt in Deutschland bei 3.100 Euro, also fast neunmal so hoch. Dennoch sind laut FAZ viele Supermarktartikel in Kasachstan teurer als in Deutschland.
Der Reichtum des Landes ist sehr ungleich verteilt. Die öffentliche Infrastruktur – Straßen, Schulen, Krankenhäuser – verfällt stetig. Fast der gesamte Reichtum des Landes fließt zu den Reichen, die in der Hauptstadt Nur-Sultan (1,1 Millionen Einwohner:innen) oder in Almaty, der größten Stadt Kasachstans (1,8 Millionen Einwohner:innen), leben. Nasarbajew und seine Familie und Bekannten haben Schätzungen zufolge mehrere Milliarden US-Dollar an Vermögen in Europa und in den USA. Aktuell soll sich Nasarbajew nach Dubai abgesetzt haben. Das Regime nutzte die Corona-Pandemie, um die staatliche Repression gegen die Bevölkerung zu verstärken und auszuweiten.
Kasachstans Wirtschaft
Zu den wichtigsten Einnahmequelle des Landes zählen der Export von Öl und Erdgas. 13 Prozent von Kasachstans Exportgütern gehen nach China, 12 Prozent nach Italien und 10 Prozent nach Russland. Russland importiert kasachisches Uran und zahlt jährlich 115 Millionen Dollar für die Nutzung des kasachischen Weltraumhafens Baikonur. Von der weltweiten Uranproduktion entfallen 40 Prozent auf Kasachstan.
34 Prozent der kasachischen Importe kommen aus Russland und 24 Prozent aus China. Auch ein großer Teil der Auslandsinvestitionen stammt aus Russland, doch größter ausländischer Investor sind laut US-Handelsministerium die Niederlande. (Royal Dutch Shell ist eigentlich in London registriert, also englisch.) An zweiter Stelle stehen die USA. Kasachstan galt unter Nursultan Nasarbajew als »politisch stabil«. US-Konzerne haben insbesondere im Öl- und Gasgeschäft investiert. China importiert Gas, Öl und Kohle aus Kasachstan.
Auch Deutschland importiert aus Kasachstan Erdöl und die hochtechnologisch wichtigen Seltenen Erden. In Kasachstan sind knapp 500 deutsche Unternehmen tätig, darunter Baustoffhersteller Knauf, Industriegas Linde, Landmaschinenhersteller Claas, Siemens Energy und Heidelberg-Cement.
Geostrategisch lavierte das Regime seit der Unabhängigkeit Kasachstans zwischen den Großmächten Russland, USA, China und Europa. Kasachstan hat zu viele Bodenschätze, als dass eine dieser Mächte es einer anderen überlassen könnte.
Chronologie der Proteste 2022
Was als sozialer Protest von Gewerkschaften und Beschäftigten anfing, erreichte schnell ein Ausmaß, das niemand erahnen konnte. Bereits am 3. Januar wurde in der Region Mangistau ein Generalstreik ausgerufen, um Forderungen wie eine hundertprozentige Lohnerhöhung durchzusetzen. Schon am Tag darauf schlossen sich Beschäftigte benachbarter Regionen an, unter anderem in der Ölindustrie in Tengizchevroil. Noch am selben Abend gab es in vielen Regionen politische Protestkundgebungen. Am Mittwoch standen landesweit die allermeisten Kupferhütten, Betriebe der Ölindustrie und Bergwerke still.
»Hüttenwerke in Balkhash in Kasachstan haben Produktion eingestellt Beschäftigte der Metallindustrie schlossen sich den Protesten an.« – Twitter
Bereits am Abend des 4. Januar versuchten Militär und Polizei, friedliche Kundgebungen in vielen Städten und Regionen des Landes, auch in der größten Stadt Almaty, zu unterbinden. Es kam zu gewaltsamen Übergriffen sowohl der Polizei als auch von Armee und Nationalgarde. Während einer Demonstration vor dem Regierungsgebäude in Almaty kam es zu einem Schusswechsel, dann wurden die Demonstrierenden von Einheiten der Nationalgarde umstellt. Doch nicht in allen Teilen des Landes ist die Aggression des Staates in dem Maß zu spüren. In den sozialen Medien mehren sich Berichte und Videos von Polizeikräften und Soldaten, die sich vor den Demonstrierenden ergeben und ihre Waffen niederlegen. Teilweise schlossen sie sich den Protesten an.
Der Beginn eines Generalstreiks
Was als Streik in der Mineralindustrie anfing, ergriff immer mehr Beschäftigte in Betrieben anderer Branchen. Immer mehr legten die Arbeit nieder, schlossen sich den Protesten an und unterstützten die Forderungen. Inzwischen beschränkt sich niemand mehr auf Forderungen gegen die steigenden Preise von Öl und Gas. So fordern die Demonstrierenden nicht nur die Senkung der Treibstoff- und Lebensmittelpreise, sondern auch die Herabsetzung des Rentenalters auf 58/60 Jahre, die Abschaffung aller Tochterunternehmen staatlicher Gesellschaften, die Erhöhung der Mindestrente und des Kindergeldes und die Abschaffung der Mautstraßen für kasachische Fahrzeuge.
»Die Proteste waren von Anfang an sozialer und klassenbezogener Natur. Die Verdoppelung des Flüssiggaspreises war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
So heißt es sinngemäß im Statement des Socialist Movement in Kasachstan vom 6. Januar 2021. Die Forderungen unterstreichen diese Einschätzung mehrfach. Niemand beschränkt sich mehr auf die steigenden Öl- und Gaspreise, die gesamte Stimmung im Land schreit nach einem Wandel, nach einer klassenbewussten und antiimperialistischen Politik.
Dass eine solche dringend notwendig sein wird, zeigte sich bereits am Tag darauf, als russische Truppen auf Einladung des kasachischen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew im Land einmarschierten, um das Regime bei der Niederschlagung des Aufstands zu unterstützen.
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