Roman: Hari Kunzru: »Revolution«, Karl Blessing Verlag, München 2008
Von Janine Wissler
Es ist mutig einem Roman den großen Titel »Revolution« zu geben. Das weckt Erwartungen. Der Autor, Hari Kunzru, wollte es eigentlich eine Nummer kleiner, der englische Originaltitel lautet »My Revolutions«. Erschienen ist das Buch pünktlich zum 40. Geburtstag der Studentenbewegung von 1968.
Chris Carver wächst in einer Kleinstadt auf, im muffigen England der 1950er und 1960er Jahre. Als Schüler schließt er sich der Friedensbewegung an, wird aktiv in der »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND). In seinem Heimatort geht er von Tür zu Tür, verteilt Flugblätter gegen die atomare Bedrohung. Als er sich eines Tages am Mittagstisch zum Kommunismus bekennt, kommt es zum Bruch mit seiner kleinbürgerlich spießigen Familie.
Doch bald zweifelt Chris an den Aktivitäten seiner Gruppe: »Die Bewegung hatte etwas Altertümliches an sich, etwas hoffnungslos Kultiviertes. In dem Jahr, als die Mods und die Rocker sich am Strand von Margate prügelten, hatten die CND-Jugendgruppen oben auf dem Pier Eselreiten und ›gewaltfreies Kasperletheater‹ zu bieten. ›Brüllt keine Parolen während der Demonstration‹, lautete ein Ratschlag in einem unserer Flugblätter. ›Das hört sich hässlich an. Singt einfach, das klingt schön, und ihr fühlt Euch besser dabei.‹ Die Kriegsherren versuchten uns umzubringen, aber wir hatten fröhlich zu sein und unseren Abfall mit nach Hause zu nehmen: gute kleine Bürger, die nett darum bitten, nicht verstrahlt zu werden.«
Voller Tatendrang zieht Chris zum Studium nach London, wo er sich der Vietnam Action Group anschließt: »Meine Freunde liebten Diskussionen. Sie redeten gern, und obwohl ich ein Regalbrett voll Marcuse und Marx hatte und den Jargon genauso beherrschte wie sie, kam mir ihr Gerede zunehmend uneffektiv vor, masturbatorisch. Bei Treffen und Teach-ins war ich der Erste, der aufstand und Aktionen forderte.«
Auf Demonstrationen gegen den Krieg wird er von der Polizei verprügelt. Sogar im Gefängnis verbringt er einige Wochen. Diese Erfahrungen mit staatlicher Repression radikalisieren Chris. In der Hausbesetzerszene, in der er mittlerweile aktiv ist, kommt die Idee der Stadtguerilla auf. Schnell verselbständigt sich der Prozess, der Höhepunkt ist ein Bombenanschlag auf den Post Office Tower.
Zwei Jahrzehnte später ist aus Chris Carver Michael Frame geworden. Verheiratet mit Miranda, die erfolgreich Naturkosmetik vertreibt. Er hat sich eine bürgerliche Existenz geschaffen, samt BMW vor der Tür. Niemand weiß, dass er früher der militanten Linken angehört hat, nicht einmal Miranda. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein…
Mit vielen Zeitsprüngen erzählt Kunzru die Geschichte der Politisierung und Radikalisierung eines jungen Mannes durch die Schrecken des Vietnam-Krieges und die Reaktionen des britischen Staates auf die Proteste. Die Ungeduld seiner Hauptfigur wird zur Militanz, Chris will nicht auf die Arbeiterklasse warten, er will handeln. Kunzru schildert das nachvollziehbar und ohne moralischen Zeigefinger.
Hari Kunzru ist erst 1969 geboren, aber die Darstellung der Demonstrationen, der Organisationen und des Lebensgefühls der ’68er-Bewergung sind so authentisch und exakt recherchiert und niedergeschrieben als sei er selbst dabei gewesen.
Auch wenn einige Passagen zum Schmunzeln sind, macht sich Kunzru nie über die Bewegung lustig und schon gar nicht über ihre Anliegen – anders als viele andere zeitgenössische Autoren, die heute überheblich auf 1968 herabschauen. Zugleich verklärt Kunzru die Bewegung nicht, sondern schildert nachvollziehbar ihre Motive und ihre Widersprüche.
Ein hochpolitisches Buch, spannend wie ein Thriller und in einer brillanten Sprache geschrieben. »Revolution« ist ein gutes Geschenk sowohl für Alt-68er als auch für alle, die nicht dabei waren – eine Möglichkeit, in eine spannende Zeit einzutauchen.