Rosa Luxemburg schrieb den Text »Eine taktische Frage« im Juli 1899. Darin geht es um die Frage von Reformen und was sie über ihre Initiatoren verraten – sollen sie sich darin erschöpfen das System zu verbessern oder werden sie als Teil des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse gesehen. marx21 dokumentiert den Klassiker
Der Eintritt Millerands in das Ministerium Waldeck-Rousseau [1] ist wohl geeignet, nicht nur für die Sozialisten Frankreichs, sondern auch anderer Länder den Anlaß zu mancher taktischprinzipiellen Betrachtung zu bieten. Die aktive Teilnahme der Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung ist jedenfalls eine Erscheinung, die außer dem Rahmen der gewöhnlichen Betätigungsformen des Sozialismus liegt. Haben wir hier vor uns eine ebenso berechtigte und zweckmäßige Form, der Sache des Proletariats zu dienen, wie zum Beispiel in der Tätigkeit im Parlament, im Gemeinderat? Oder ist dies im Gegenteil ein Bruch mit den Prinzipien und der Taktik des Sozialismus? Oder aber endlich bildet die Teilnahme der Sozialisten an der bürgerlichen Regierung einen Ausnahmefall, der unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und notwendig, unter anderen verwerflich und schädlich ist?
Was kann nicht ein sozialistischer Minister alles an kleinen Besserungen, Linderungen, an allerhand sozialem Flickwerk durchführen!
Vom Standpunkte der opportunistischen Auffassung des Sozialismus, wie sie in der letzten Zeit in unserer Partei namentlich in den Theorien Bernsteins laut wurde, das heißt vom Standpunkte der stückweisen Einführung des Sozialismus in die bürgerliche Gesellschaft, muß auch der Eintritt der sozialistischen Elemente in die Regierung ebenso erwünscht wie natürlich erscheinen. Kann man einmal den Sozialismus überhaupt allmählich, in kleinen Dosen in die kapitalistische Gesellschaft einschmuggeln, und verwandelt sich andererseits der kapitalistische Staat von selbst allmählich in einen sozialistischen, dann ist eine fortschreitende Aufnahme von Sozialisten in die bürgerliche Regierung sogar ein natürliches Ergebnis der fortschreitenden Entwicklung der bürgerlichen Staaten, ganz entsprechend ihrer angeblichen Annäherung zur sozialististen Mehrheit in den gesetzgebenden Körpern.
Stimmt der Fall auf diese Weise mit der opportunistischen Theorie, so entspricht er nicht minder der opportunistischen Praxis. Da die Erzielung naheliegender greifbarer Erfolge, gleichwohl auf welchem Wege, die leitende Linie dieser Praxis bildet, so muß der Eintritt eines Sozialisten in die bürgerliche Regierung dem »praktischen Politiker« als ein unschätzbarer Erfolg erscheinen. Was kann nicht ein sozialistischer Minister alles an kleinen Besserungen, Linderungen, an allerhand sozialem Flickwerk durchführen!
Anders stellt sich die Frage dar, wenn man von dem Standpunkt ausgeht, daß die Einführung des Sozialismus erst nach dem Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung in Angriff genommen werden kann, und daß die sozialistische Tätigkeit sich gegenwärtig bloß auf die – objektive und subjektive – Vorbereitung dieses Moments durch den Klassenkampf reduziert. Es ist freilich Tatsache, daß die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muß. Allein als Voraussetzung gilt dabei, daß es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann.
In dieser Beziehung besteht aber zwischen den gesetzgebenden Körpern und der Regierung eines bürgerlichen Staates ein wesentlicher Unterschied. In den Parlamenten können die Arbeitervertreter, wo sie mit ihren Forderungen nicht durchdringen können, sie doch wenigstens in der Weise vertreten, daß sie in oppositioneller Stellung verharren. Die Regierung hingegen, die die Ausführung der Gesetze, die Aktion zur Aufgabe hat, hat keinen Raum in ihrem Rahmen für eine prinzipielle Opposition, sie muß in allen ihren Gliedern und stets handeln, sie muß deshalb, auch wenn sie, wie in Frankreich seit einigen Jahren in den gemischten Ministerien, aus verschiedenen Parteivertretern besteht, doch stets einen grundsätzlich gemeinsamen Boden unter den Füßen haben, der ihr das Handeln ermöglicht, den Boden des Bestehenden, mit einem Wort, den Boden des bürgerlichen Staates.
Der äußerste Vertreter des bürgerlichen Radikalismus kann im großen und ganzen mit dem rückständigsten Konservativen Seite an Seite regieren. Ein prinzipieller Gegner des Bestehenden hingegen steht vor der Alternative: entweder auf Schritt und Tritt der bürgerlichen Mehrheit in der Regierung Opposition zu machen, d.h., tatsächlich kein aktives Mitglied der Regierung zu sein – ein augenscheinlich unhaltbarer Zustand, der zur Entfernung des sozialistischen Mitgliedes aus der Regierung führen müßte – oder aber die Sache schließlich mitzumachen, die täglich zur Erhaltung und zum Fortlauf der Staatsmaschine in jedem Regierungszweig notwendigen Funktionen zu verrichten, d.h., tatsächlich kein Sozialist, wenigstens nicht in den Grenzen des Regierungsamtes, zu sein.
Bei dem sozialdemokratischen Kampf kommt es in erster Linie nicht auf das Was, sondern auf das Wie an
Die Sozialdemokratie hat allerdings in ihrem Programm viele Forderungen, die auch von einer bürgerlichen Regierung, ebenso wie von einem bürgerlichen Parlament – wenigstens abstrakt gesprochen – angenommen werden könnten. Es könnte deshalb auf den ersten Blick vorkommen, daß ein Sozialist auch in der Regierung, ebenso wie im Parlament, der Sache des Proletariats dienen kann, indem er das Mögliche und Erreichbare der Sozialreformen zu seinen Gunsten durchzudrücken strebt. In diesem Fall zeigt sich aber wiederum, was die opportunistische Politik stets außer acht läßt, daß es bei dem sozialdemokratischen Kampf in erster Linie nicht auf das Was, sondern auf das Wie ankommt. Wenn die sozialdemokratischen Vertreter in den gesetzgebenden Körpern soziale Reformen durchzuführen suchen, so haben sie die volle Möglichkeit, durch ihre gleichzeitige Opposition gegen die bürgerliche Gesetzgebung und die bürgerliche Regierung im ganzen – was sich handgreiflich unter anderem in der Ablehnung des Budgets äußert – auch ihrem Kampf um die bürgerlichen Reformen einen prinzipiell-sozialistischen Charakter, den Charakter eines proletarischen Klassenkampfes zu verleihen. Ein Sozialdemokrat hingegen, der dieselben Sozialreformen als Mitglied der Regierung, das heißt bei gleichzeitiger Unterstützung des bürgerlichen Staates im ganzen, anstrebt, reduziert tatsächlich seinen Sozialismus im allerbesten Fall auf bürgerliche Demokratie oder bürgerliche Arbeiterpolitik. Während daher das Vordringen der Sozialdemokraten in die Volksvertretungen zur Stärkung des Klassenkampfes, also zur Förderung der Sache des Proletariats führt, kann ihr Vordringen in die Regierungen nur Korruption und Verwirrungen in den Reihen der Sozialdemokratie zum Ergebnis haben. Die Vertreter der Arbeiterklasse können, ohne ihre Rolle zu verleugnen, nur in einem Falle in die bürgerliche Regierung treten: um sich ihrer gleichzeitig zu bemächtigen und sie in die Regierung der herrschenden Arbeiterklasse zu verwandeln.
Es kann allerdings in der Entwicklung oder vielmehr dem Untergang der kapitalistischen Gesellschaft Augenblicke geben, wo die endgültige Machtergreifung durch die Vertreter des Proletariats noch unmöglich wäre, ihr Anteil an der bürgerlichen Regierung aber als notwendig erschiene, namentlich wo es sich um die Freiheit des Landes oder um die demokratischen Errungenschaften, wie die Republik, handelt, während die bürgerliche Regierung selbst bereits zu kompromittiert und zu desorganisiert ist, um ohne die Unterstützung der Arbeitervertreter das Volk zur Gefolgschaft zu veranlassen. In einem solchen Falle dürften sich die Vertreter des arbeitenden Volkes selbstverständlich einer abstrakten Prinzipienreiterei zuliebe von der Verteidigung der gemeinsamen Sache nicht drücken. Allein auch dann müßte die Teilnahme der Sozialdemokraten an der Regierung in Formen geschehen, die weder die Bourgeoisie noch das Volk über den vorübergehenden Charakter und den ausschließlichen Zweck ihres Vorgehens im geringsten Zweifel lassen können. Mit anderen Worten, der Eintritt der Sozialisten in die Regierung dürfte auch dann nicht auf die Solidarität mit ihrer Tätigkeit und ihrem Bestand im ganzen hinauslaufen.
In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten
Ob gerade die obige Situation in Frankreich jetzt geschaffen war, erscheint deshalb zweifelhaft, weil die sozialistischen Parteien von vornherein und ohne an den Regierungsanteil zu denken, sich bereit erklärt hatten, eine jede aufrichtige republikanische Regierung zu unterstützen, während sie gerade umgekehrt, durch den Eintritt Millerands in das Ministerium, der jedenfalls ohne jede Ermächtigung seitens seiner Kollegen geschehen ist, von dieser Unterstützung zum Teil abgeschreckt werden. Jedenfalls kam es uns nicht auf die Beurteilung des Spezialfalles im Kabinett Waldeck-Rousseau, sondern auf die Ableitung einer allgemeinen Richtschnur aus unseren Grundsätzen an. Von diesem Standpunkte erscheint der Eintritt von Sozialisten in bürgerliche Regierungen als ein Experiment, das nur zum Schaden des Klassenkampfes ausfallen kann. In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.
Anmerkung:
1. Alexandre-Étienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine opportunistische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erste praktische Schritt des Opportunismus zur Einordnung der französischen Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Opportunisten.
Erschienen in: Leipziger Volkszeitung, Nr.153, 6. Juli 1899. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd.1, 1. Hbd., S.483-486.
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