Die beiden Großmächte China und USA rangeln um die Vorherrschaft in einer strategisch wichtigen Region. Dabei geht es um mehr als Rohstoffreserven oder nationalistisch aufgeladene Grenzstreitigkeiten. Von Christoph Hoffmeier
Immer wieder berichten Medien über militärische Muskelspiele zwischen China und den USA im westlichen Pazifik. Jüngster Höhepunkt dieser Entwicklung war im Oktober 2015 die Entsendung des amerikanischen Zerstörers »USS Lassen« ins Südchinesische Meer. Die US-Regierung begründete ihren Schritt damit, dass China dort einige künstliche Inseln aufgeschüttet habe, die auch zu militärischen Zwecken genutzt werden könnten. Tatsächlich begreift Peking nahezu das gesamte Südchinesische Meer als eigenes Hoheitsgebiet und gerät deshalb immer wieder in Konflikt mit den Anrainerstaaten Vietnam, Philippinen, Brunei, Malaysia und Taiwan.
Auf ihrer Fahrt durch das Südchinesische Meer passierte die »USS Lassen« auch die umstrittenen künstlichen Inseln. Die Reaktion aus Peking folgte prompt: Fortan wurde der amerikanische Zerstörer von chinesisches Kriegsschiffen begleitetet. Nur wenige Tag später verfolgte ein Unterwasserboot der chinesischen Marine den US-Flugzeugträger »USS Reagan« mehrere Stunden lang vor der japanischen Küste.
China bedroht amerikanischer Interessen
Neben den unmittelbaren ökonomischen Interessen – dem Zugang zu vermuteten Gas- und Erdölressourcen auf dem Meeresgrund oder auch zu umfangreichen Fischfanggründen – sind diese Territorialstreits Ausdruck eines geopolitischen Machtkampfs zwischen dem aufsteigenden China und der bisherigen Supermacht USA um die globale Vormachtstellung. Die US-amerikanischen Eliten verstehen den Aufstieg Chinas als Bedrohung für ihre Interessen.
Kein Wunder: Gemessen am Bruttosozialprodukt entwickelte sich China dank zweistelliger jährlicher Wachstumsraten innerhalb von drei Jahrzehnten zur zweitgrößten Volkswirtschaft. Aus der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2010 kam das Land deutlich gestärkt gegenüber den westlichen Industriestaaten hervor: Allein in diesem Zeitraum wuchs die chinesische Wirtschaft um 56 Prozent. Dem steht ein Wachstum von lediglich drei Prozent im Westen gegenüber.
China zog sowohl an Deutschland als auch an Japan vorbei und stieg im Jahr 2009 zur größten Exportnation auf. Gegenwärtig werden über 80 Prozent der weltweiten produzierten Klimaanlagen, 70 Prozent der Mobiltelefone und 60 Prozent der Schuhe in China hergestellt. Insbesondere durch die Ansiedlung arbeitsintensiver Fertigungsindustrien transformierte sich das Land von einer zentralen Kommandowirtschaft zu einem liberalen Staatskapitalismus. Zunehmend wandelt sich die chinesische Wirtschaft von einer reinen »Werkstatt der Welt« hin zu einer höher entwickelten Ökonomie, die in wachsendem Maße befähigt ist, Zulieferkomponenten selbst herzustellen.
Unternehmen wie Huwai oder Lenovo sind mittlerweile feste Größen auf den westlichen Konsummärkten. Das klassische Bild der chinesischen Wirtschaft, wonach schlecht bezahlte Arbeitskräfte Apple-Produkte zusammenschrauben, die dann auf die Absatzmärkte in höher entwickelten Industriestaaten exportieren werden, entspricht nur noch zum Teil der Realität.
»Made in China 2025«
Die Staatsführung unter Xi Jinping formuliert mit ihrer Strategie »Made in China 2025« ehrgeizige Ziele: Produktionsanlagen sollen modernisiert und ausländische Technologieimporte zunehmend durch eigne Innovationen ersetzt werden. Bis zum Jahr 2049 soll die Volksrepublik zur führenden »Industriesupermacht« aufsteigen. Schon heute besitzt China das – in nur wenigen Jahren aufgebaute – weltweit größte Streckennetz für Hochgeschwindigkeitszüge. Bis zum Jahr 2020 werden weitere zehn Großflughäfen eröffnet.
Um ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen, bemüht sich Peking, die Staaten der Region mittels intensiver Diplomatie in den eigenen Orbit zu ziehen: China ist mittlerweile regelmäßiger Teilnehmer der erweiterten Gipfeltreffen des südostasiatischen Staatenbündnisses ASEAN (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Malaysia, Laos, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam) unter Einschluss Südkoreas und Japans. Der erfolgreiche Abschluss eines Freihandelsabkommens mit den ASEAN-Staaten zur Senkung von Zöllen und Einfuhrschranken im Jahr 2010 ließ Chinas Einfluss in der Region gegenüber Japan und den USA signifikant steigen.
Ähnliche bilaterale Abkommen folgten mit Australien und Neuseeland. Für dieses Jahr forciert die chinesische Staatsführung ein multilaterales Freihandelsabkommen – die »Regional Comprehensive Economic Partnership« (RCEP) mit den ASEAN-Staaten, sowie Südkorea, Japan, Australien, Neuseeland und Indien. Der Abschluss solcher Abkommen hat zwei wichtige Funktionen: Zum einen sichern sie China vor unkalkulierbaren protektionistischen Maßnahmen, sie schützen also die Profite chinesischer Unternehmen gegenüber möglichen Einfuhrschranken. Zum anderen stellen die Abkommen den Versuch Chinas dar, politische Einflusssphären in der Region zu generieren.
USA wollen globale Führungsrolle erhalten
Chinas stetig wachsender Einfluss blieb auch den politischen und ökonomischen Eliten der USA nicht unbemerkt. Doch die Strategie Washingtons zum Umgang mit China sieht sich mit einem grundlegenden Widerspruch konfrontiert: Einerseits geraten die USA und amerikanische Unternehmen zunehmend in Konflikt mit dem chinesischen Staat und Kapital. Anderseits existiert eine tiefgehende Verflechtung der Ökonomien der beiden Wettbewerber. Sie basiert vor allem auf chinesischen Krediten und den günstigen Arbeitskräften, die US-amerikanische Firmen ausbeuten, um ihre globale Konkurrenzfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dementsprechend erleichtert Washington heimischen Unternehmen wie Apple die Verlagerung von Produktionsstätten nach China.
Für eine Weile vermochten die Vereinigten Staaten diesen Widerspruch mit einer Politik der Einbindung gepaart mit einer untergeordneten Politik der Eindämmung aufzulösen. Der frühere Regierungsberater Aaron Friedberg hat die Wortschöpfung »congagement« (bestehend aus »containment«, Eindämmung, und »engagement«, Einbindung) geprägt, um die Widersprüchlichkeit der US-Strategie gegenüber China zu beschreiben.
Diese Politik funktionierte, solange die Vereinigten Staaten in der Lage waren, eine unipolare Weltordnung aufrechtzuerhalten und zu dominieren. Aber die gescheiterten militärischen Interventionen im Irak und Afghanistan, welche die amerikanische Außenpolitik stark gebunden haben, sowie Chinas anhaltender Aufstieg während der Finanz- und Wirtschaftskrise veränderten die Situation. Die China-Politik Washingtons geriet in eine Krise. Das zunehmend selbstbewusste Auftreten Chinas und der chinesischen Unternehmen führte zu einer radikalen Kurskorrektur.
Im Jahr 2011 erklärte Präsident Barack Obama vor dem australischen Parlament das Engagement und die Präsenz der USA in Asien zur »Top-Priorität«. Verlorengegangener Boden gegenüber China sollte wieder gutgemacht werden. Schon einige Wochen zuvor hatte die damalige Außenministerin Hillary Clinton in einem ausführlichen Artikel im Politikjournal »Foreign Affairs« die neue Strategie dargelegt. Unter dem Titel »America’s Pacific Century« hieß es: »In den vergangenen zehn Jahren haben wir immense Ressourcen für diese Einsätze [in Afghanistan und Irak] bereitgestellt. In den kommenden zehn Jahren müssen wir entscheiden, wie wir unsere Zeit und Energie investieren, um unsere Führungsmacht zu erhalten, unsere Interessen zu wahren und unsere Werte zu fördern. Zu unseren vornehmlichen Aufgaben wird es gehören, mehr ökonomische, diplomatische und strategische Ressourcen auf den asiatisch-pazifischen Raum zu lenken. Diese Region ist zu einem Motor der Weltpolitik geworden. (…) Wir wollen unsere globale Führungsrolle erhalten, und dazu gehört eine strategische Umorientierung. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir anerkennen, welche Bedeutung dem asiatisch-pazifischen Raum für unser nationales Interesse zukommt.«
Bindung der Bündnispartner
Diese langfristige strategische Umorientierung der US-amerikanischen Außenpolitik hatte das Ziel, binnen der folgenden drei Jahre sechzig Prozent der Marinestreitkräfte auf den Einsatz in Asien auszurichten. Für diese Zielvorgabe wurde das Militärbudget neu justiert. Im Jahr 2014 beliefen sich die Ausgaben auf 610 Milliarden Dollar (gegenüber 575 Milliarden Dollar im Jahr 2005).
Zudem schlossen die USA zahlreiche militärische Einzelabkommen mit Ländern aus Südostasien. Um nur einige zu nennen: Mit den Philippinen, einer ehemaligen US-Kolonie, bauten sie seit 2012 sukzessive die militärische Kooperation aus. Neben gemeinsamen Militärübungen wurde vereinbart, dass amerikanische Truppen einen Marinestützpunkt und eine Luftwaffenbasis nutzen dürfen. Singapur erlaubt seit dem Jahr 2012 die dauerhafte Stationierung von amerikanischen Kriegsschiffen in seinen Gewässern. Und selbst mit Vietnam – dem Land, in dem der US-Imperialismus seine größte Niederlage erfuhr – schloss Washington im Jahr 2011 eine »umfassende Partnerschaft«.
Zudem gelang es den USA, auch andere Bündnispartner enger an sich zu binden: Mit Australien vereinbarte Washington den Ausbau des Marinestützpunktes in Darwin. Selbst Japan konnte für die Einkreisungspolitik gegenüber China zurückgewonnen werden. Die Regierung Obama unterließ dabei keine Anstrengungen, das zwischenzeitliche Abdriften Japans aus dem eigenem Orbit zu verhindern. Unter Premierminister Yukio Hatoyama (2009/10) hatte der Inselstaat eine Politik der ausgewogenen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und China verfolgt. Dabei brach die Regierung sogar mit einem bislang nicht hinterfragten Konsens innerhalb der japanischen Elite, indem sie die Schließung der US-Base in Okinawa forderte. Zu dieser Zeit erwog sie zudem die Schaffung einer Art asiatischer EU, deren treibende Kräfte China und Japan sein sollten.
Im Frühjahr 2010 versenkte Nordkorea die südkoreanische Marinefregatte »Cheonan«. Diesen Vorfall nutzte Washington, um die Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse Japans in der Frage zu vertiefen, ob es eine eigenständige außenpolitische Ausrichtung Tokios geben solle. Die Regierung Hatoyma stürzte hierüber. Die nun seit 2012 amtierende Regierung von Premier Abe Shinzo vollzog eine Wendung zurück zu einer außenpolitischen Orientierung an den USA.
Entsprechend hat Japan seitdem sein jährliches Militärbudget auf gegenwärtig 35,6 Milliarden US-Dollar erhöht. Der Verteidigungsminister des Landes begründete, diesen Schritt mit der Notwendigkeit, »China entgegenzutreten«.
Direkte Konfrontation mit Peking
Neben der zunehmenden militärischen Präsenz versuchen die USA, die Beziehungen zu wichtigen Staaten in der Region durch multilaterale Abkommen auszubauen. Bereits im November 2015 wurden die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen »Trans-pazifische Partnerschaft« (TPP) abgeschlossen, die Ratifizierung durch einzelne Nationalstaaten steht noch aus. Vergleichbar mit dem TTIP-Abkommen zwischen den USA und der EU handelt es sich um ein Freihandelsabkommen, das amerikanischen Konzernen verstärkten Marktzutritt in der Region gewähren soll.
Diese Vorhaben finden selbstverständlich unter Ausschluss Chinas statt – in der Absicht, die Konkurrenzfähigkeit der chinesischen Unternehmen zu schwächen. Hillary Clinton begründete dies im Jahr 2012 folgendermaßen: »Die Erholung unserer Wirtschaft wird auch von unseren Exporten und der Fähigkeit amerikanischer Unternehmen abhängen, sich auf dem riesigen und wachsenden Konsumentenmarkt in Asien zu etablieren.«
Das handelspolitische Agieren der USA zielt also darauf ab, den westpazifischen Raum im Interesse des amerikanischen Kapitals wirtschaftlich und politisch neu zu ordnen. Washington möchte verhindern, dass sich Chinas wachsende ökonomische Stärke auch in der politischen Architektur der Region ausdrückt.
Damit begibt sich Washington in die direkte Konfrontation mit Peking. Denn wie oben beschrieben besteht auch Chinas Strategie darin, einzelne Staaten mittels Handelsabkommen oder direkten Kapitalinvestitionen politisch und wirtschaftlich an sich zu binden.
»Entscheidung durch Feuer und Schwert«
Die Geschichte des Kapitalismus hat bereits mehrfach gezeigt: Die Entwicklungsstrategien aufholender Ökonomien stellen häufig das relativ stabile Kräfteverhältnis zwischen den »alten« Großmächten sowie deren weltweit abgesteckten Interessensphären in Frage.
Ende des 19. Jahrhunderts gerieten die kapitalistischen Spätentwickler USA, Japan und Deutschland in Konflikt mit den etablierten imperialistischen Mächten Großbritannien und Frankreich. Heute führt Chinas Aufstieg zu Konflikten mit den USA und den regionalen Mächten Asiens.
Es lassen sich hier zwei miteinander verbundene Tendenzen beobachten, die sich zugleich widersprechen: auf der einen Seite die fortschreitende Internationalisierung des Kapitals und auf der anderen die progressive nationale Organisation und Integration des Kapitals, die zur Konkurrenz staatlich protegierter Kapitalismen führt.
Der russische Marxist Nicolai Bucharin schrieb im Jahr 1917 hierzu: »Nicht die Unmöglichkeit einer Betätigung innerhalb des Landes also, sondern die Jagd nach einer höheren Profitrate ist die Triebkraft des Weltkapitalismus (…). Eine niedrigere Profitrate treibt die Waren und Kapital immer weiter von ihrem ›Vaterlande‹ weg. Aber dieser Prozess spielt sich gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Weltwirtschaft ab. Die Kapitalisten der verschiedenen ›nationalen Wirtschaften‹ stoßen hier als Konkurrenten aufeinander, und je größer das Wachstum der Produktivkräfte des Weltkapitalismus ist, je intensiver die Zunahme des Außenhandels, desto schärfer wird der Konkurrenzkampf.«
Die aktuelle Entwicklung im Westpazifik ist Ausdruck dieser Mechanismen. Eine beginnende krisenhafte Entwicklung wie in China – in Form von sinkenden Profiten und einer wachsenden soziale Instabilität – verstärkt die Tendenz des Kapitals, sich über Nationalstaatsgrenzen hinaus zu bewegen. Dadurch wachsen die innerimperialistische Konkurrenz und der Hang zur Schutzzollpolitik, wie es sich bereits durch die konkurrierenden Regionalisierungsprozesse (TPP und RCEP) andeutet.
Mit der Entsendung der »USS Lassen« unter dem Label »Operation zur Freiheit der Navigation« in das Südchinesische Meer unterstreicht die Regierung Obama ihren Führungsanspruch in der Region. Mit ihrer Rhetorik macht sie sich zwar zum Anwalt internationaler »Normen und Rechte« zur Wahrung des freien Handels und der Souveränität der Nationen. Doch im Kern geht es den USA darum, ihren eigenen Einfluss in der Region auszubauen. Das ist ein gefährliches Spiel – oder wie Chinas ranghöchster Admiral Wu Shengli es kommentierte: Washingtons Handeln könne »ein Funken zur Auslösung eines Kriegs« werden. Ähnlich formulierte es schon Bucharin, als er vor einhundert Jahren schrieb, »die Internationalisierung des Wirtschaftslebens« führe »unvermeidlich zu einer Entscheidung der strittigen Fragen durch Feuer und Schwert«.
Foto: U.S. Pacific Fleet
Schlagwörter: Barack Obama, Bucharin, China, Imperialismus, Peking, TTIP, USA, Washington