Der Konflikt zwischen Nato und Russland in Osteuropa spitzt sich zu. Nick Clark und Yuri Prasad über die Interessen und Ziele der imperialistischen Konkurrenten
Als die Berliner Mauer fiel und anschließend die Sowjetunion zusammenbrach, triumphierten die Anhänger des Kapitalismus: Die 1990er Jahre seien ein Wendepunkt, »das Ende der Geschichte« sei erreicht, behaupteten sie. Die konkurrierende Ideologie des »Kommunismus« sei erledigt und es würde keine Kriege mehr geben – oder zumindest keine mehr des Ausmaßes und der Permanenz des Kalten Kriegs zwischen Ost und West nach 1945. Das zwischen den beiden Lagern geteilte Europa wurde unter westlicher Hegemonie wiedervereint und müsse nie wieder seine Vernichtung befürchten.
Kriegsgefahr in Osteuropa
Das war von Anfang an ein Mythos. Der »Kommunismus« war gerade erst zusammengebrochen, da gab es schon ein Nachbeben mit Kriegen in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und des verbündeten Ostblocks. Von 1991 an tobte zehn Jahre lang Krieg zwischen den sich nach dem Auseinanderfallen Jugoslawiens neu konstituierenden Staaten. US-amerikanische, europäische und russische Kräfte unterstützten in der Konkurrenz um die Beute jeweils verschiedene »ethnische Gruppen«.
Es gab Krieg in Tschetschenien im Jahr 1994 und erneut 1999, als das Land sich von der Russischen Föderation lösen wollte und den Schutz des Westens suchte. Dasselbe galt für die Kämpfe zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008 über den Status der Provinz Ossetien, die zwischen den beiden Ländern im Kaukasus liegt. Im Jahr 2014 führte die gleiche politische Verwerfung zu einem Bürgerkrieg in der Ukraine, und Russland besetzte und annektierte die Halbinsel Krim. Jetzt, wo erneut Tausende Soldat:innen in Russland, in der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten zusammengezogen werden, könnte Europa am Rande eines neuen Kriegs stehen.
Osteuropa-Strategie der Nato
In all diesen Fällen verband sich das unermüdliche Bestreben der USA, das Nato-Militärbündnis nach Osten zu erweitern, mit den Hoffnungen der Europäischen Union (EU), ihren eigenen Machtbereich zu vergrößern. Das aber ist ein eindeutiger Bruch einer Zusage, die Washington und auch Kanzler Helmut Kohl Michail Gorbatschow gaben, als die Sowjetunion im Jahr 1991 zusammenbrach: »Keinen Zoll weiter nach Osten.«
Die US-Regierung bemühte sich nach der Beendigung des Kalten Kriegs aktiv, den Kontinent neu zu organisieren und ihre Vorstellung von einem neoliberalen Kapitalismus auf den Osten auszudehnen. Während die USA wegen ihrer Dominanz in der Nato militärisch führend waren, konnte die EU in Zentral- und Osteuropa ökonomisch prosperieren. Die USA sehen in Russland eine Macht, die nicht vollständig in den Neoliberalismus eingegliedert werden kann und deshalb eingehegt, geschwächt und isoliert werden muss.
Konkurrenz mit Russland
In Zentraleuropa konnte Deutschland als führende Wirtschaftsmacht der EU den größten Vorteil aus dieser Lage ziehen. Es sicherte sich qualifizierte billige Arbeitskräfte, Produktionsstandorte, Rohstoffe und Märkte. Aber Europas unersättliche Ansprüche haben es immer weiter nach Osten zu Staaten getrieben, die unmittelbar an Russland grenzen. Länder, die wegen günstiger Energielieferung, Rohstoffen und auch militärischer Unterstützung gegen innere oder äußere Bedrohungen auf Russland angewiesen sind, werden von der EU ständig umworben. Sie bietet Investitionen, Modernisierung und internationale Anerkennung, während die Nato-Mitgliedschaft eine militärische Schutzgarantie darstellt.
Aber die scheinbare Eintracht zwischen den USA und Europa, der Nato und der EU in ihrem Bestreben, den Osten zu erobern, ist keineswegs so solide, wie es aussehen mag. Keiner der Verbündeten hat Interesse daran, in einen ausgewachsenen Krieg in Europa verwickelt zu werden. Wie stark der Westen Druck auf Russland ausüben sollte, ist jedoch umstritten. Dahinter stehen unterschiedliche strategische Interessen. Für die USA ist Europa ein kleines, aber strategisch wichtiges Gebiet in ihrer Einflusssphäre – ein Juniorpartner in ihrer Konkurrenz mit Russland. Aber Staaten in der EU haben ihre eigenen Ziele, die mit denen der USA in Konflikt geraten können.
Deutschlands Machtinteressen
Dänemark zum Beispiel sendet Kampfflugzeuge nach Litauen und eine Kriegsfregatte in die Ostsee, und Großbritannien liefert Waffen an die Ukraine. Die deutsche herrschende Klasse dagegen verhält sich vorläufig vorsichtiger. Ihre Regierung hat Waffenexporte an die Ukraine ausgeschlossen. Sie blockiert auch die Lieferung von Haubitzen aus Estland an die Ukraine (da sie noch aus DDR-Beständen stammen, bedarf das der Zustimmung Deutschlands). Der Grund ist nicht, dass die neue Regierung sich eher dem Frieden verpflichtet fühlte. Die deutsche herrschende Klasse fürchtet die Unterbrechung der Gaslieferungen nach Westeuropa. Insbesondere möchte sie die unterseeische Pipeline »Nord Stream 2« gegen wirtschaftliche Sanktionen abschirmen, die wegen der Ukrainefrage über Russland verhängt werden könnten.
Friedrich Merz, der neue Parteichef der CDU, warnte vergangene Woche davor, Russland aus Vergeltung für die Feindseligkeiten gegenüber der Ukraine aus dem Bankentransfersystem Swift auszuschließen, weil dies den Wirtschaftsinteressen Deutschlands zuwiederliefe. Obendrein betonte der deutsche Marinegeneral Achim Schönbach kürzlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin »Respekt« verdiene und die von Russland annektierte Krim »weg« sei und nie mehr an die Ukraine zurückfallen werde. Er musste daraufhin zurücktreten, aber seine Ansichten dürften bei anderen Mitgliedern der Elite durchaus Anklang finden.
Großmacht Russland
Deutschland mag eine wirtschaftliche Herausforderung für die USA darstellen, Russland dagegen ist eine völlig andere Art von Konkurrent. Obwohl das Land nach dem Ende des Kalten Kriegs erheblich geschwächt war, blieb es eine Großmacht mit Atomwaffen und einer großen Armee. Es verfügt außerdem über riesige Öl- und Gasvorkommen, und aus den Einnahmen rüstete Putin die Armee auf und schulte das Militär um. Dadurch konnte Russland weit über die eigenen Grenzen hinweg Einfluss ausüben, zum Beispiel konnte es auf der Seite des Diktators Baschar al-Assad in den Bürgerkrieg in Syrien eingreifen.
Putin ist mit anderen Worten ein eifriger Mitspieler im System des Imperialismus. Er unterstützt repressive Regime, soweit sie die Interessen Russlands verteidigen, oder er versucht sie zu schwächen. Russland hat Rebellen in benachbarten Ländern bewaffnet und finanziert, wenn diese Länder sich dem Westen zuwenden wollten oder Putin nicht genügend respektierten und versuchten, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Er versucht auch, Diktatoren in Staaten zu stützen, die auf Russlands Seite stehen. So zum Beispiel Präsident Alexander Lukaschenko in Belarus seit dem Aufstand gegen dessen Herrschaft im vergangenen Jahr.
Ringen um Osteuropa
Im Jahr 2009 waren zwölf ehemalige kommunistische Staaten der Nato beigetreten, elf von ihnen auch der EU. Im Jahr 2014 unterzeichneten Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine Freihandelsabkommen mit der EU.
Um seine Macht und seinen imperialistischen Status zu erhalten, verlangt Putin, solchen Entwicklungen Einhalt zu gebieten – notfalls mit militärischen Mitteln. Deshalb befinden sich jetzt rund 100.000 russische Soldat:innen mit Waffen und Panzern in den Grenzstädten zur Ukraine. Und deshalb bildet die Ukraine jetzt eine riesige Bürgerwehr im Guerillakampf aus.
Und auf der anderen Seite sind die USA und ihre Verbündeten bereit, die Region mit Waffen zu überschwemmen.
Die russische wie die ukrainische Regierung setzen auf schlimmste nationalistische Propaganda in der Hoffnung, dass die Bevölkerung sich hinter sie schart. Dieser bewusst herbeigeführte Spaltungsprozess wurde von Großbritannien, den USA und der EU befeuert. Sollte diese Entwicklung zu einem Krieg führen, werden ohne Zweifel die arbeitenden Klassen und die Armen auf beiden Seiten die Opfer sein.
Gas für den Imperialismus
Eingebettet in die Konfrontation zwischen den USA und Russland ist ein Streit über Gasvorkommen und Pipelines und die Kontrolle darüber. Die USA drohten vergangene Woche, ein Gaspipelineprojekt zwischen Russland und Deutschland zu Fall zu bringen, falls Russland in die Ukraine einmarschiert.
Die kürzlich fertiggestellte Pipeline »Nord Stream 2«, deren Eigentümer der vom russischen Staat gelenkte Energiekonzern Gazprom ist, könnte über die Ostsee sofort Gas von Russland nach Deutschland liefern, es müssen nur noch ein paar rechtliche Formalitäten erledigt werden. Vergangenen Mittwoch erklärte jedoch die Regierung der USA etwas vage: »Sollte Russland in die Ukraine einfallen, werden wir gemeinsam mit Deutschland dafür sorgen, dass es mit Nord Stream 2 nicht vorangehen wird.«
Sollten die USA Sanktionen verhängen, könnten auch andere europäische Länder kein Gas mehr von Russland beziehen. Russland seinerseits könnte damit drohen, die Gaslieferungen zu unterbrechen, um die europäischen Länder für ihre Parteinahme für die USA zu bestrafen.
»Nord Stream 2« und Gas im Allgemeinen spielt für Russland eine wesentliche Rolle. Europa kauft bereits 35 bis 40 Prozent des Gases von Russland, und fünf große Energiekonzerne sind an der Pipeline beteiligt. Die daraus bezogene Macht und der Einfluss Russlands in Europa sind für die USA ein Anlass zur Sorge. Gas ist zu einer »strategischen Ware« geworden, wie der politische Ökonom Simon Bromley es nennt.
Kampf um Macht und Ressourcen
Imperialismus, das System der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Staaten, beinhaltete immer das Schachern und Kämpfe um wesentliche Ressourcen. Dabei geht es nur zum Teil darum, der großen Industrie und den mit dem Nationalstaat verflochtenen Konzernen Profite zu sichern. Diese Ressourcen verschaffen den Staaten Macht und Einfluss über andere. Sich den Zugriff auf das irakische Öl zu sichern, war zum Beispiel ein Grund dafür, dass die USA im Jahr 2003 in das Land einfielen. Die USA brauchten das irakische Öl wegen des Geldes, aber sie wollten auch ihre Vorherrschaft im Nahen Osten festigen. Kontrolle über das Öl und dafür zu sorgen, dass es nicht Konkurrenten in die Hände fiel, war Teil dieses Manövers.
Inzwischen sind die europäischen Staaten immer abhängiger von importiertem Gas geworden. Das heißt, dass Gas zunehmend im Mittelpunkt der Konkurrenz zwischen den Staaten steht. Zum Beispiel haben sich Griechenland und die Türkei wegen des Zugangs zu den Gasreserven vor der Küste von Zypern in den vergangenen Jahren immer mal wieder gegenseitig bedroht. Griechenland, Zypern, Israel und Italien haben ein Abkommen geschlossen, die Gasfelder unter sich aufzuteilen, wobei sie die Türkei bewusst davon ausgeschlossen haben. Dabei ging es weniger um die Einkünfte aus Gas, sondern vor allem darum, die Türkei an der Erlangung einer Vormachtstellung im östlichen Mittelmeerraum zu hindern. Die USA zogen ihre Unterstützung für das Abkommen Anfang Januar zurück, um diese Konkurrenz zwischen ihren Verbündeten zu entschärfen.
Einfluss in Osteuropa
Das Gerangel um Gas hatte die Türkei schon einmal in einen Konflikt mit Russland gebracht, nämlich im Jahr 2020 in dem Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. In dieser Region, durch die eine wichtige Pipeline zur Versorgung Europas mit Öl und Gas führt, standen beide Länder auf verschiedenen Seiten.
Die Kontrolle über solche Pipelines spielt eine wichtige Rolle bei Russlands Bestreben, seine Macht und seinen Einfluss in Europa zu stärken – und den USA gefällt das keineswegs. In einem Bericht an das Europäische Parlament vom Juni 2021 heißt es:
»Gegner von ›Nord Stream 2‹ sehen in dem Projekt ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß Moskau europäische und nationale Entscheidungen in Energie- und Umweltfragen beeinflusst. Deshalb beschreibt das Außenministerium der USA das Projekt als ein Vehikel Moskaus, ›seinen bösartigen Einfluss in Europa auszuweiten‹.«
Die Pipeline wäre zwar nicht der einzige Grund, einen Krieg zu führen, aber sie ist ein wesentlicher Faktor in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland. Das zeigt, dass die Ziele des Westens nicht das Geringste mit dem Schutz der einfachen Menschen in der Ukraine zu tun haben, sondern der wahre Grund die dem Kapitalismus innewohnende destruktive Konkurrenz ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Socialist Worker. Übersetzung aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: Wikimedia Commons / 7th Army Joint Multinational Training Command
Schlagwörter: Imperialismus, Kalter Krieg, NATO, Russland, Ukraine