Verteidigungsministerin von der Leyen will ein neues Weißbuch der Bundeswehr erstellen lassen. Experten, Diplomaten und Militärs sollen unter der Leitung ihres Hauses diskutieren, um zu einer neuen Standortbestimmung kommen. Was dahintersteckt, erläutern Christine Buchholz und Frank Renken
Ein Vorabdruck aus dem neuen marx21 Magazin (Erscheint am 14. Mai). Mehr zum Cover, Themen und einem kostenlosen Probeheft hier.
Schon lange wird über die strategische Ausrichtung der Bundeswehr diskutiert. Das neue Weißbuch der Bundeswehr, das Verteidigungsministerin von der Leyen im kommenden Jahr vorlegen will, ist ein neuer Vorstoß in dieser Debatte.
Angestoßen wurde diese von den westdeutschen Eliten nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Bis dahin hieß es, die Bundeswehr sei eine reine Verteidigungsarmee. Ihre Notwendigkeit entspringe dem drohenden Angriff aus dem sowjetisch dominierten Warschauer Pakt. Ein Einsatz außerhalb des Nato-Bündnisgebietes sei schon aus verfassungsrechtlichen Gründen undenkbar, das Grundgesetz verbiete ihn.
Illusion »Friedensdividende«
Nachdem mit dem »Ostblock« auch der Warschauer Pakt auseinanderbrach, hofften viele auf eine »Friedensdividende«: Eine allgemeine Abrüstung würde Mittel für zivile Zwecke freimachen. Doch das entpuppte sich als eine Illusion. In einem globalen kapitalistischen System, das auf nationalstaatlicher Konkurrenz beruht, ist eine dauerhafte Abrüstung unmöglich. Die Niederlage des Ostblocks führte nicht zu einer Friedensordnung, sondern nur zu einer Neuaufteilung der Einflusszonen. Die Schwäche der im Kalten Krieg unterlegenen russischen Großmacht nutzten die westlichen Mächte aus, um die Nato nach Osten auszudehnen.
Deutsche Unternehmen profitierten in besonderem Maße von den neuen Absatz- und Kapitalanlagechancen in den vormals verschlossenen Märkten des Ostblocks. Doch die deutsche herrschende Klasse hatte ein Problem: Als Erbe der Niederlage im Zweiten Weltkrieg konnte sie ihre wirtschaftliche Macht nicht militärisch unterfüttern. Dieses Defizit galt es zu beseitigen. Die konservative Regierung unter Kanzler Helmut Kohl suchte Gelegenheiten, um die Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebiets zu niederschwelligen Einsätzen zu schicken. So beteiligte sie sich während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien im Jahr 1992 an Patrouilleneinsätzen der Nato in der Adria.
Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« fragte den damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe, ob sich die Bürger »eines Tages mit Kampfeinsätzen der Bundeswehr abfinden« sollen. Rühe antwortete: »Niemand« strebe Kampfeinsätze an. Aber »wir wollen so reagieren können, wie es unsere demokratischen europäischen Nachbarn auch tun.«
Dieses »wie die anderen auch« bedeutete, sich Großbritannien und Frankreich zum Vorbild zu nehmen. Deutschland wollte genauso in der Lage sein, als europäische Großmacht mit militärischen Mitteln Einfluss im Mittleren Osten oder Afrika geltend zu machen. Auf den Hinweis, dass weder Bürgerinnen und Bürger noch die Bundeswehr »auf solche militärischen Ausflüge vorbereitet« seien, antwortete Rühe: »Das ist ja meine These. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten.«
Trippelschritte in den Krieg
Die von Rühe angekündigte »Salamitaktik«, den Bürgern die Aufrüstung häppchenweise zu servieren, wurde in den folgenden Jahren tatsächlich umgesetzt. Auf den Marine-Einsatz in der Adria folgte die Beteiligung an einem »humanitären« UN-Einsatz 1993 in Somalia. Der endete in blutigen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Mogadischu, doch die Bundeswehr blieb außen vor. Sie verharrte im Hinterland und beschränkte sich auf das Bohren von Brunnenlöchern. Erst im Jahr 1999 beteiligte sich die Bundeswehr unter der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders an der Bombardierung Jugoslawiens, aber auch dort nur indirekt, durch die Bereitstellung von Luftaufklärung.
Im Herbst 2001 begann schließlich der erste eigentliche Kampfeinsatz in Afghanistan, in dem Zehntausende deutsche Soldaten eingesetzt wurden. Fünfundfünfzig ließen ihr Leben. Wie viele Afghanen die Bundeswehr getötet hat, weiß niemand. Bekannt ist der folgenschwerste Angriff im September 2009: Auf Befehl des deutschen Oberst Klein wurden im Kundus-Flussbett steckengebliebene Tanklastwagen bombardiert. Dabei kamen über hundert Zivilisten ums Leben, darunter viele Kinder.
Bundeswehr im Einsatz
In der ersten Phase des Afghanistaneinsatzes erschien 2006 das letzte Weißbuch der Bundeswehr. In ihm spiegelte sich das Ziel des Umbaus der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« wider. Daran anknüpfend formulierte der damalige Verteidigungsminister de Maizière: Die Bundeswehr solle in die Lage versetzt werden, gleichzeitig in zwei großen Einsätzen wie in Afghanistan kämpfen zu können.
Um diesem Ziel trotz begrenzter Mittel näher zu kommen, sollte die Bundeswehr professionalisiert und umgebaut werden. So wurden die Wehrpflicht abgeschafft und der Panzerbestand reduziert. Es war den Verteidigungsministern wichtiger, offensive Einheiten wie die »Division Schnelle Kräfte« oder das »Kommando Spezialkräfte« zu stärken. Nun macht Verteidigungsministerin von der Leyen da weiter, wo de Maizière aufgehört hat. Im Februar sagte sie: »Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ«. Für das internationale Engagement Deutschlands müsse gelten: »Kein Zugzwang, aber auch kein Tabu«.
Aber wie schon ihre Vorgänger stößt sie mit diesem Ansinnen auf ein grundlegendes Problem. Ungeachtet der Dauermehrheit im Bundestag für die Ausweitung der Auslandseinsätze und ungeachtet der damit einhergehenden medialen Rückendeckung fehlt ihr die gesellschaftliche Zustimmung für diesen Kurs.
So hat die Bundeswehr 13 Jahre in Afghanistan praktisch ohne Mehrheit in der Bevölkerung gekämpft. Militärische Hilfe für die Ukraine – sei es durch Ausrüstung, Waffen oder die Ausbildung von Soldaten – lehnen nach einer aktuellen Umfrage 82 Prozent der Deutschen ab.
Diese Ablehnung hat Folgen. Die Bundeswehr hat erhebliche Rekrutierungsprobleme. In zahlreichen Einheiten fehlt schlichtweg das Personal, um die gestellten Aufgaben zu erfüllen. Dieser Mangel drückt auf die Einsatzbereitschaft und erhöht die Unzufriedenheit in der Truppe.
Von der Leyen hat darauf mit einer Erhöhung der Mittel für Werbung reagiert, die gezielt auf Jugendliche ausgerichtet ist. So haben die Karriereberater der Bundeswehr im Jahr 2014 auf insgesamt tausend Jobmessen oder Berufsbildungstagen in Schulen insgesamt vor 185.000 Schüler gesprochen. Das sind doppelt so viele wie im Vorjahr.
Um die generelle Akzeptanz gegenüber der auf Auslandseinsätze ausgerichteten Bundeswehr zu erhöhen, lädt von der Leyen zudem Experten zu öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen ein. Ihre Aufgabe ist es, die gewünschten Argumente zu liefern, um Aufrüstung und Auslandseinsätze als alternativlos erscheinen zu lassen. Das Weißbuch-Projekt fügt sich in diese PR-Strategie ein.
Krieg zu Lande
Es geht dabei aber auch um eine Korrektur der militärpolitischen Ausrichtung. Denn seit Erscheinen des letzten Weißbuchs haben sich die Rahmenbedingungen, unter denen die Bundeswehr agiert, verändert. Der Anspruch, an asymmetrischen Kriegen gegen Aufständische wie in Afghanistan teilzunehmen, bleibt bestehen. Neu ist, dass sich im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung in der Ukraine ein neuer Ost-West-Konflikt entwickelt. Die Nato betrachtet Russland nicht mehr als Partner, sondern als Gegner. Ursache ist die gewachsene Stärke Russlands, die der Ostausdehnung von Nato und EU eine Grenze gesetzt hat. Der Konflikt in der Ukraine ist ein Konflikt um die Neuverteilung der Einflusszonen in Osteuropa. Beide Seiten, Russland wie Nato, provozieren sich gegenseitig mit Großmanövern. Von der Leyen drängte sich dabei regelrecht nach vorn, um Führungsstärke zu zeigen. Erst übernahm die deutsche Marine die Leitung eines Nato-Flottenverbandes in der Ostsee. Dann folgte die verstärkte Beteiligung an der Luftraumüberwachung über dem Baltikum und schließlich die Übernahme der Verantwortung beim Aufbau einer »superschnellen« Eingreiftruppe im Rahmen der Nato Response Force, der sogenannten Nato-Speerspitze.
Für einen möglichen europäischen Landkrieg gegen eine Großmacht ist die Bundeswehr allerdings nicht mehr gerüstet. Mit Blick auf Russland sollen deshalb die Panzerbestände wieder verstärkt werden. So kam es im vergangenen November zu einem ersten Nachrüstungsbeschluss. In den Schlussberatungen zum Haushalt 2015 war plötzlich die Beschaffung von 131 zusätzlichen Radpanzern des Typs Boxer vorgesehen. Nun soll beim Kampfpanzer Leopard 2 aufgerüstet werden. Die Verteidigungspolitiker von SPD und Union brachten zwischenzeitlich sogar die Entwicklung eines völlig neuen Modells, des »Leopard 3«, ins Gespräch.
Verantwortung der LINKEN
Das neue Weißbuch wird die Neuausrichtung der Bundeswehr widerspiegeln. Von der Leyen distanzierte sich bereits von dem bisher geltenden Prinzip »Breite vor Tiefe«, wonach Defizite bei einzelnen Waffengattungen aus Kostengründen hingenommen wurden. Die Bundeswehr müsse für ihre führende Rolle in Ausbildungsmissionen wie im Irak und in Afghanistan oder für die Nato Response Force immer »eine angemessene Breite« an Fähigkeiten vorhalten, so die Ministerin. Die Bundeswehr brauche »aber ebenso dringend bei einzelnen Schlüsselfähigkeiten mehr Durchhaltetiefe«. Mit anderen Worten: Neben der Fähigkeit zur Beteiligung an asymmetrischen Kriegen müsse die deutsche Armee mit ausreichend Waffen ausgestattet sein, die ihr die Glaubwürdigkeit verleihen, in einem Landkrieg gegen Russland bestehen zu können. Nicht allein, aber als eine führende europäische Macht im Bündnis mit anderen. Von der Leyen nennt das »Führen aus der Mitte«.
Ihre Ambitionen sind teuer: Zu den 620 Millionen Euro für zusätzliche Radpanzer des Typs Boxer werden Forderungen nach mehr Mitteln für neue Leopard-2-Kampfpanzer kommen. Die Beteiligung an drei französischen Spionagesatelliten kostet rund 500 Millionen Euro. Die Entwicklung einer europäischen Kampfdrohne wird unabsehbare Kosten nach sich ziehen. Zum Vergleich: Das Kampfflugzeug Eurofighter wird nach Beendigung seiner Einsatzzeit den deutschen Fiskus rund 60 Milliarden Euro gekostet haben. Dies alles neben den bereits laufenden Beschaffungsvorhaben, die aus dem Ruder laufen. Die fünfzehn größten Rüstungsgroßprojekte sind nach aktuellem Stand 19,2 Milliarden Euro teurer als ursprünglich veranschlagt.
Angesichts dieser Dimensionen erscheint es zweifelhaft, ob die bereits geplante Anhebung des Militärhaushalts um acht Milliarden Euro bis 2019 ausreichen wird. Von der Leyen braucht mehr Geld für ihre Pläne, und ein neues Weißbuchs soll ihr dafür Argumente liefern. Sie sollen überstrahlen, dass die teuren Aufrüstungsmaßnahmen zu Lasten ziviler und sozialer Infrastruktur in Deutschland gehen und diametral den Interessen der Arbeiterklasse in Deutschland entgegengesetzt sind.
Deutschland müsse »mehr Verantwortung übernehmen«. So rechtfertigte Rühe 1992 seinen Kurs hin zur Beteiligung an Auslandseinsätzen. Auch von der Leyen argumentiert heute so. Die Verantwortung der Linken ist es, sich gemeinsam mit der Friedensbewegung diesem Kurs in den Weg zu stellen.
Zur Person:
Christine Buchholz ist verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag.
Frank Renken ist Mitglied im Ortsvorstand der LINKEN in Berlin-Friedrichshagen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag.
Foto: cszar
Schlagwörter: Afghanistan, Aufrüstung, Bundeswehr, Imperialismus, Inland, Krieg, Panzer, Parteitag, Rüstung, Rüstungswettlauf, von der Leyen