Der Niedergang der Russischen Revolution ließ ein Regime entstehen, das den Kommunismus in sein Gegenteil verkehrte – und von Beginn an von Linken kritisiert wurde. Ein Sammelband zeichnet nun die fast hundertjährige Debatte über den Charakter des Stalinismus nach. Von Jan Maas
Mittlerweile liegen die Montagsdemonstrationen, die das SED-Regime in der DDR erschütterten und schließlich stürzten, drei Jahrzehnte zurück. Ganz offensichtlich ist der Stalinismus als Herrschaftssystem – vielleicht abgesehen von Nordkorea – inzwischen Geschichte. Doch er ist immer noch präsent: als Schreckensbild, das die Herrschenden von allen zeichnen, die den Kapitalismus herausfordern wollen, aber auch als Bestandteil der linken Bewegung, die sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzt.
Diese Auseinandersetzung hat eine lange Tradition. Der Verfall der Russischen Revolution und der Aufstieg der Partei- und Staatsbürokratie zur Macht waren von Anfang an Gegenstand von Diskussionen und Analysen innerhalb der kommunistischen Parteien selbst. Wie war das zu verstehen, was sich da in der Sowjetunion und bald auch in verschiedenen Teilen der Kommunistischen Internationale im Namen des Sozialismus abspielte? Und wie sollte die Bewegung darauf reagieren?
Erklärungsversuche des Stalinismus
Der marxistische Historiker Christoph Jünke hat zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution einen Sammelband herausgegeben, der Auszüge aus den Werken von 15 Autoren vorstellt, die den Stalinismus aus marxistischen Blickwinkeln untersuchten. Die Zeitspanne reicht von 1928 bis 1982, die Autoren stammen unter anderem aus der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen, beiden Teilen Deutschlands und aus verschiedenen westeuropäischen Staaten.
Es liegt in der Natur einer solchen Auswahl, dass eine ganze Reihe von Autoren nicht vertreten ist. Tony Cliff fehlt zum Beispiel, ebenso Karl Korsch und andere. Trotzdem ist die Auswahl gelungen. Sie beleuchtet verschiedene Aspekte des Stalinismus und führt eine große Bandbreite an mehr oder minder überzeugenden Erklärungsversuchen vor. Leider reicht der Platz an dieser Stelle [die Rezension erschien zuerst im marx21-Magazin] nicht einmal, um alle Autoren und Texte vorzustellen, geschweige denn sie zu bewerten.
Stalinismus als Klassenherrschaft
Zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint in diesem Sammelband etwa ein Auszug aus Victor Serges Werk »Von Lenin zu Stalin« von 1936. Anders als der Titel vermuten lässt, zieht der in der Sowjetunion verfolgte Revolutionär keine direkte Verbindung zwischen den beiden, sondern sagt im Gegenteil: »Alles verändert sich.« Er zitiert aus Protestbriefen hungernder Arbeiter, Berichten über den Widerstand von Bäuerinnen gegen die Zwangskollektivierung und internen Protokollen der Opposition gegen Stalin.
Leo Trotzki, Stalins wohl bekanntester Gegenspieler, wehrte sich im selben Jahr noch mit Händen und Füßen dagegen, die Bürokratie als Klasse zu bezeichnen. »Das Proletariat hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen«, schrieb er. Dreißig Jahre später gingen Jacek Kurón und Karol Modzelewski aus Polen einen Schritt weiter. Sehr deutlich bezeichneten sie im Jahr 1964 den Stalinismus als Klassenherrschaft: »In unserem System gibt es keine individuellen Kapitalisten. Die Fabriken, die Hütten- und Bergwerke sind zusammen mit ihrer gesamten Produktion Eigentum des Staates. Da sich jedoch der Staat in den Händen der Monopolbürokratie befindet, die der alleinige Disponent der Produktionsmittel und der alleinige Ausbeuter der Arbeiterklasse ist, verwandelt sich die Gesamtheit der Produktions- und Unterhaltsmittel in zentralisiertes ›Staatskapital‹.«
Zur Wiederbelebung der Debatte über Wurzeln und Charakter des Stalinismus kann Jünkes Sammlung einen Beitrag leisten. Nötig ist die Debatte auf jeden Fall, wenn die Linke das nötige Selbstbewusstsein aufbringen will, weiter für das Ziel des Sozialismus zu kämpfen.
Das Buch:
Christoph Jünke (Hrsg.)
Marxistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhundert
Neuer ISP-Verlag
Köln 2017
616 Seiten
24,80 Euro
Foto: Craig Sefton
Schlagwörter: Bücher, Buchtipp, Lenin, Marxismus, Oktoberrevolution, Russland, Sammelband, Stalin, Stalinismus, Stalinismuskritik, Trotzki