Zwischen 1998 und 2005 führte ausgerechnet der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder den schärfsten Angriff auf den Sozialstaat durch und ausgerechnet ein grüner Außenminister kommandierte den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945. Alle, die sich Hoffnung auf einen Politikwechsel durch eine rot-rot-grüne Bundesregierung machen, sollten sich mit den historischen Vorgängern auseinandersetzen
»Der größte Verräter an der Geschichte der SPD war zweifellos Gerhard Schröder«, sagte WASG-Mitgründer Klaus Ernst einst dem »Handelsblatt«. Zweifellos empfanden viele Wählerinnen und Wähler die Politik von Rot-Grün in den Jahren 1998-2005 als Verrat. Für diesen Verrat gibt es falsche und richtige Erklärungen.
Charakterlosigkeit ist keine Erklärung für den Kurswechsel
Eine falsche vertritt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er befürwortet eine Neuauflage von Rot-Grün unter Beteiligung der LINKEN. In seinem lesenswerten Buch »Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken« schreibt er, »dass erhebliche Teile der Führungsspitze der SPD das Aufstiegsversprechen der Partei radikal individualisiert haben«. Mit anderen Worten: Statt des sozialen Aufstiegs der arbeitenden Klassen hätten sie ihren eigenen Aufstieg betrieben. Es ist nicht zu bestreiten, dass Gerhard Schröder, Peer Steinbrück und Wolfgang Clement sich goldene Nasen verdient haben mit dem Wissen und den Beziehungen, die sie durch Regierungserfahrungen sammeln konnten. Eine hinreichende Erklärung für den neoliberalen Kurswechsel von Rot-Grün ist Charakterlosigkeit jedoch nicht.
Schröder und die historischen Wurzeln des Verrats
Der Kurswechsel der SPD hat nicht erst mit dem Regierungsantritt von Schröder begonnen, sondern schon viel früher, nämlich bereits in den 1980er Jahren. Bis Mitte der 1970er Jahre schien sich der Kurs einer Keynesianischen Wirtschaftspolitik mit staatskapitalistischen Elementen bewährt zu haben. Die beiden ersten großen Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit (1974, 1981) führten jedoch zu einer radikalen Umkehr. In den wichtigen europäischen Staaten Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) mit sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierungen machten die Führungen der Sozialdemokratie die Erfahrung, dass schuldenfinanzierte staatliche Investitionsprogramme nach keynesianischem Modell die Krise nicht verhinderten: in Großbritannien verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit unter einer Labour geführten Regierung von 1974 bis 1977, in der BRD stieg die Arbeitslosigkeit unter Kanzler Schmidt (SPD) von 0,4 Millionen (1974) auf 2,5 Millionen (1982) und in Frankreich stieg sie unter Präsident Mitterand von 7,8 auf 14 Prozent.
Der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf fand Mitte der 1980er Jahre mit seiner Studie über »Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa« starke Beachtung, als die SPD gegen Helmut Kohl in der Opposition war. In den 1990er Jahren hatte sich Scharpf bei den so genannten Enkeln Willy Brandts wie Schröder durchgesetzt. Scharpf verband die Kritik des Keynesianismus mit der Forderung nach einer »auf den Privatsektor bezogenen sozialdemokratischen Angebotspolitik«. Diese müsse »auf die Steigerung der Unternehmenserträge gerichtet sein«. SPD-Parteitagsbeschlüsse der 1990er Jahre sind vom Geist Scharpfs geprägt.
Widerstand gegen Kohls Politik des Sozialabbaus
Zugleich wuchs in den Betrieben und Gewerkschaften der Widerstand gegen Kohls Politik des Sozialabbaus. Massendemonstrationen und Abwehrstreiks prägten die Stimmung der letzten Kohljahre. Kohls Versuch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem ersten Krankheitstag abzuschaffen, scheiterte beispielsweise an einer Welle von spontanen Streiks. Oskar Lafontaine spürte diese Stimmung früh, machte sich zu ihrem politischen Sprecher und schlug 1995 bei der Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden für alle überraschend mit großer Mehrheit Rudolf Scharping. Mit einer groß angelegten Kampagne der Medien im Rücken setzte sich jedoch der »Automann« Schröder schließlich als Kanzlerkandidat gegen Lafontaine durch.
Machtkampf zwischen Schröder und Lafontaine
Bald nach dem Wahlsieg vom September 1998 kam es zu einem Machtkampf zwischen Kanzler Schröder und Finanzminister Lafontaine. Schröder war für die Liberalisierung der Finanzmärkte, Lafontaine für ihre stärkere Kontrolle. Dafür erntete er Ablehnung aus der Finanzbranche. Die britische »Sun« erklärte den Finanzminister zum gefährlichsten Mann Europas. Schröder drohte mit Rücktritt und ließ Lafontaine durch seine rechte Hand, Kanzleramtsminister Bodo Hombach, aus dem Amt mobben. Lafontaine trat von allen Ämtern zurück, der Dax schoss um sechs Prozent in die Höhe.
Hombach ist auch Autor des berüchtigten Schröder-Blair-Papiers von 1999 (»Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten«). Darin verkündeten die beiden sozialdemokratischen Regierungschefs den Abschied von der alten Sozialdemokratie. Es gebe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, nur eine »richtige« (Sachzwangargument). Das Papier war ein deutliches Plädoyer für Deregulierung der Arbeitsmärkte, Senkung der Lohnkosten und Steigerung der Gewinne. »Soziale Gerechtigkeit« sei »manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt worden.« Wolfgang Clement, Schröders Wirtschaftsminister, entwickelte ein Konzept der sozialen Ungleichheit, die er als neue Variante sozialer Gerechtigkeit verkaufte.
Erste Niederlagen der SPD
Gegen den neuen Kurs regte sich Widerstand in den Gewerkschaften. Die SPD erlitt bei Landtagswahlen im zweiten Halbjahr 1999 teilweise dramatische Rückschläge. Mit der Teilprivatisierung der Altersrente (»Riesterrente«) brach die Regierung trotzdem ein wichtiges Wahlversprechen von 1998, dass sie die Rentenkürzungen der Kohl-Regierung zurücknehmen werde. Ein zweites, noch wichtigeres Wahlversprechen betraf die Beschränkung des Einsatzes der Bundeswehr auf von der Uno oder der OSZE mandatierte Friedensmissionen. Mit dem Kosovokrieg (1999) und dem bis heute andauernden Afghanistankrieg (2001) betätigte sich Rot-Grün auch als Tabubrecher für eine neue imperiale Weltpolitik Deutschlands. Außenminister Fischer griff in seiner Argumentationsnot gegen die grüne Basis auf ein angeblich drohendes neues Auschwitz zurück. Und die erste Regierung Schröder brach noch ein drittes Wahlversprechen von 1998: »Die SPD-geführte Bundesregierung wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit stoppen.« Tatsächlich stieg die Arbeitslosigkeit bis 2002 um 300.000 weiter an.
Schröder tritt die Flucht nach vorn an
So galt Rot-Grün im Wahljahr 2002 als sicherer Verlierer gegen CDU/CSU und FDP. Aber es kam anders. Durch eine gut inszenierte Antikriegskampagne gegen eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg von George Bush und Tony Blair gelang es Rot-Grün, die eigene Anhängerschaft noch einmal zu mobilisieren. Es gelang dem Bündnis zugleich, die PDS unter die Fünfprozenthürde zu drücken. Unter Führung von Dietmar Bartsch hatte die PDS einen rot-rot-grünen Lagerwahlkampf gemacht, statt Rot-Grün wegen der gebrochenen Versprechen in der Riesterrente und der Friedenspolitik anzugreifen.
Nach der Bildung der zweiten rot-grünen Regierung trat Schröder die Flucht nach vorn an. Der Winter 2002 war in jeder Hinsicht ein Krisenwinter. Die deutsche Wirtschaft verfiel in Stagnation, ohne Aussichten aus dieser herauszukommen. Deutschland war durch die hohen Kosten der Wiedervereinigung und die dadurch bedingte Verdoppelung der Staatsschulden zum schwachen Mann Europas geworden. Neben einer weltweiten Konjunkturkrise machten die Wirtschaftswissenschaftler eine spezifische deutsche Strukturkrise aus. Damit waren die vergleichsweise niedrigeren Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft gemeint.
Schröder peitscht die Agenda 2010 durch
In den ganzen 1990er Jahren betrug das Wachstum Deutschlands jährlich knapp die Hälfte von dem der USA. 2001 und 2002 betrug das jährliche Wachstum der USA 5,9 Prozent, das Deutschlands nur noch 0,9 Prozent. In einer auf Konkurrenz und Profit beruhenden globalisierten Marktwirtschaft ist das bedrohlich. Gegen den Widerstand großer Teile der Gewerkschaften und der Parteibasis peitschte Schröder nun die Agenda 2010 durch, die »Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze« bringen sollte.
Wesentliche Elemente der Agenda 2010 waren die Deregulierung der Finanzmärkte, die Deregulierung der Arbeitsmärkte durch Abschaffung des Kündigungsschutzes in kleinen Betrieben, die Deregulierung der Arbeitszeitordnung, die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 43 Prozent, Milliardenkürzungen bei Behinderten, Alten und Kranken, die Durchlöcherung der Flächentarifverträge durch sogenannte »betriebliche Bündnisse für Arbeit«.
Schröder und Hartz IV
Der wichtigste Eingriff war jedoch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (Hartz IV). Hartz IV bedeutete und bedeutet für Millionen Menschen ein Gefühl extremer Verunsicherung, die Sorge, von einem Tag auf den anderen ins Nichts zu stürzen und damit den sozialen Abstieg zu erleben.
Die SPD hat unter Sigmar Gabriel inzwischen »Fehler« bei der Einführung von Hartz IV eingeräumt. Bereits damals hätte man einen Mindestlohn einführen müssen, um den »unfairen Niedriglohnsektor« klein zu halten. Das geht am Kern der Agenda 2010 vorbei. Gerhard Schröder sagte beim Weltwirtschaftsforum 2005 in Davos: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« Schröder war sich sicher, »dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird«.
Zunächst stieg aber die Zahl der Arbeitslosen im Wahljahr 2005 auf das Rekordniveau von fünf Millionen – ein Nagel im Sarg von Rot-Grün und ein Grund für den Wahlerfolg der gerade entstehenden Linkspartei. Hartz IV hat zusammen mit den anderen Maßnahmen zu einer beträchtlichen Bereicherung der Kapitalisten und entsprechenden Verarmung der unteren Klassen geführt. Die Lohnquote am Volkseinkommen fiel innerhalb von vier Jahren (2003–2007) von 71 auf 63 Prozent.
Wem nützt die Agenda2010?
Dem deutschen Kapital hat die Agenda 2010 geholfen, seine Kosten so nachhaltig zu senken, dass es seitdem alle anderen europäischen Kapitalisten hat unterbieten und ausbooten können. Dafür hat die SPD Schröder ihren tiefsten Absturz zu verdanken (von 40,9 Prozent 1998 auf 23 Prozent 2009). Die Grünen als Partei des neuen Mittelstandes haben das Verarmungsprogramm von Rot-Grün besser überstanden.
Die aktuelle Krise der EU und des Euros ist auch eine Folge von Schröders »erfolgreicher« nationaler Standortpolitik. Das Ergebnis erleben wir gerade – ein Auseinanderbrechen des Euros und der EU. Was aus der Sicht des Einzelkapitalisten rational und sinnvoll erscheint, ist für die Menschheit eine Katastrophe. Was hat der Sturz Kohls durch Rot-Grün also der Arbeiterklasse gebracht? Gewiss kein »kleineres Übel«. Edmund Stoiber (CSU) – Schröders Gegenkandidat 2002 – hat einmal rhetorisch gefragt, was eigentlich passiert wäre, wenn er die Wahlen gewonnen hätte und nicht Schröder und er die »notwendigen Reformen« einer Agenda 2010 hätte durchsetzen müssen. Seine Antwort war: Es hätte massiven Widerstand der Gewerkschaften und Massenstreiks gegeben. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist der eigentliche Verrat der SPD. Der damalige DGB-Chef Michael Sommer beantwortete die Frage, was gewesen wäre, wenn die Gewerkschaften zu Protesten aufgerufen hätten: »Dann würden wir in einem anderen Land leben.«
Schröder und eine lange Tradition der SPD
Der Grund für den Verrat der SPD liegt jedoch nicht in der Charakterlosigkeit ihrer Führung, sondern in ihrem Wesen als »bürgerliche Arbeiterpartei«. Das bedeutet, dass es sich bei ihr um eine Partei handelt, die sich zwar auf den organisierten Teil der Arbeiterklasse stützt, aber den Erhalt und das Funktionieren des Kapitalismus betreibt. Der Verrat Schröders steht in einer langen Tradition: die Unterstützung des Weltkriegs 1914–18, die blutige Niederschlagung der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19, die Unterstützung der Zerschlagung des Sozialstaats durch die Tolerierung der Brüning-Regierung 1930–32, die kampflose Kapitulation vor Hitler 1933, die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen 1968, die Verhängung von Berufsverboten gegen Linksradikale und Kommunisten 1972, die Zustimmung zur Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen unter Helmut Schmidt 1981.
Lehre aus der Agenda 2010
DIE LINKE wird das Wesen der SPD nicht verändern. Sie ist aus dem Protest gegen ihren bislang letzten großen Verrat entstanden und ein wichtiger Teil des Widerstands gegen neoliberale Politik. Die wichtigste Lehre aus der Agenda 2010 ist daher: Es gibt Schlimmeres als Merkel – ein Verrat der LINKEN.
Foto: Das blaue Sofa
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