Während Horst Seehofer feiert, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden, sind allein im Juni dieses Jahres 629 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Doch während Seenotretterinnen und Flüchtlingshelfer in ganz Europa kriminalisiert werden, formiert sich eine Solidaritätsbewegung, die Europas Grenzregime im Herzen trifft, meint Tilman von Berlepsch
Tilman von Berlepsch war 2016 Crewmitglied auf der Iuventa und ist aktiv bei DIE LINKE. SDS in Berlin.
Vor genau einem Jahr, Anfang August 2017, wurde mit immensem Aufwand das Schiff Iuventa der Organisation »Jugend Rettet« von der italienischen Kriminalpolizei überwacht und schließlich im Hafen von Sizilien konfisziert. Das zivile Seenotrettungsschiff hat bis dahin 1.400 Menschen im Mittelmeer das Leben gerettet. Der italienische Geheimdienst schleuste verdeckte Ermittler an Bord, verwanzte die Brücke des Schiffes, hörte Handy-Telefonate ab und arbeitete mit italienischen rechtsextremen Gruppen zusammen. »Jugend Rettet« zog bis vor das höchste italienische Kassationsgericht um die Freigabe des Schiffes zu bewirken und scheiterte. Flankiert wurde der Prozess von einer breiten Kampagne zur Kriminalisierung der Organisationen und Einzelpersonen, die sich gegen das Sterben im Mittelmeer einsetzen.
Kriminalisierung ziviler Seenotrettung
Im Frühjahr 2018 spitzte sich die Situation weiter zu. Nach der Irrfahrt der Aquarius, wurde auch der Lifeline das Einlaufen in Malta und Italien versagt. Die Crew und 233 Flüchtlinge mussten sechs Tage bei Unwetter vor der maltesischen Küste ausharren, bevor der internationale Druck zu groß wurde und Malta nachgeben musste. Seehofer meldete sich sogleich zu Wort und forderte die Festsetzung der Lifeline sowie dass der Kapitän und die Besatzung »zur Rechenschaft« gezogen werden sollen. Kapitän Claus-Peter Reisch steht nun in Malta vor Gericht, ihm drohen bis zu einem Jahr Haft. Unter fadenscheinigen Argumenten, wie das Schiff sei nicht korrekt beflaggt gewesen, wird versucht, eine politische Kampagne formaljuristisch zu unterlegen. Auch 20 Crewmitglieder der Iuventa sind mittlerweile angeklagt. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 15 Jahren Haft. Die Mitglieder der Iuventa-Crew weisen die Vorwürfe zurück und verurteilen die Kriminalisierung ziviler Rettungseinsätze: »Wenn wir uns vor Gericht dafür verantworten müssen, diese Menschen gerettet zu haben, hat Europa einen politischen und moralischen Tiefpunkt erreicht. Sollte es wirklich kriminell sein, Leben zu retten, dann sitze ich auf der richtigen Seite der Anklagebank«, beteuerte die Einsatzleiterin Kathrin Schmidt.
Das Völkerrecht gibt ihr Recht. Nach einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages ist es eine Verpflichtung in Seenot geratene Menschen zu retten und in einen »sicheren Hafen« zu bringen. Die Definition eines »sicheren Hafens« schließt, nach geltender Rechtsauffassung die Rückführung auf libysches Festland explizit aus. Dennoch ist die neue italienische Linie, genau das zu tun, wie ein Fall dieser Woche zeigt, bei dem 100 Gerettete von einem italienischen Versorgungsschiff nach Libyen zurück deportiert wurden.
Für kurze Zeit hatte der italienische Staat sogar das Einlaufen von Frontex-Schiffen und Schiffen der internationalen Militär-Mission »Sophia« untersagt, um die Ernsthaftigkeit der Absicht die Mittelmeergrenze dicht zu machen, zu unterstreichen.
Die Rolle der libyschen »Küstenwache«
Die Sophia-Mission, an der sich auch die deutsche Marine beteiligt, ist für die Bewaffnung und Ausbildung der libyschen »Küstenwache« zuständig. Diese hat den Auftrag, Schlauchboote noch in den libyschen Gewässern, die kurzerhand weiter definiert wurden, abzufangen und die Flüchtlinge völkerrechtswidrig in libysche Lager zurück zu bringen. Laut UN ist die libysche »Küstenwache« auch an der Versenkung von Flüchtlingsbooten mit Schusswaffen beteiligt und NGOs machten Videoaufnahmen, wie die libyschen Milizen brutal gegen Flüchtende und Seenotretter vorgehen. Es ist genau diese »Küstenwache«, für die Merkel, durch die deutsche Beteiligung an ihrer Ausbildung und Ausrüstung, die Verantwortung übernimmt.
Zeitweise wurden alle Schiffe und selbst das Überwachungsflugzeug Moonbird der Organisation Sea-Watch, aus dem Verkehr gezogen. Lediglich die Aquarius durfte unter großem Protest der italienischen Regierung kürzlich wieder auslaufen. Der Plan von Italien und der EU ist der der blutigen Abschreckung: Es müssen nur genug Menschen im Mittelmeer umkommen, bis sich keine neuen Flüchtlinge mehr auf den Weg machen. Dabei sind im Jahr 2018 gerade mal 45.000 Menschen übers Mittelmeer gekommen, das entspricht nur 0,07 Prozent der weltweiten Migration.
So grausam die Logik des Ertrinkenlassens zur Abschreckung auch ist, ist sie trotzdem nicht erfolgversprechend. Studien konnten keinen »Pull-Faktor« durch die Anwesenheit von Rettungsschiffen feststellen. Durch die NGOs vor der libyschen Küste ist keineswegs die Zahl der startenden Schlauchboote in die Höhe gegangen, die Zahl der Ertrunkenen konnte jedoch drastisch reduziert werden. Allein im Juni, nachdem alle Schiffe festgesetzt wurden, schnellte die Zahl der Toten auf 629 hoch. Die Versuche das Mittelmeer zu überqueren lassen nicht nach, nur die Routen ändern sich. Spanien meldete Ende Juli über 1.200 Bootsflüchtlinge in nur zwei Tagen.
Doch fast die gesamte zivile Seenotrettungsflotte liegt an der Kette. Mehr als 1.500 Tote dieses Jahr sind die stummen Zeugen einer EU-Politik, die sich menschenverachtender denn je präsentiert.
Die Speerspitze einer Bewegung
Doch aus dem Tatendrang einiger Weniger, die dem Sterben im Mittelmeer nicht mehr zusehen wollten, ist heute die Speerspitze einer Bewegung gegen die europäische Abschottungspolitik und für ein anderes, ein solidarisches Europa geworden.
Die Seenotretterinnen und -retter sind der Stachel im europäischen Selbstverständnis. Sie machen sichtbar, dass es mit den »Europäischen Werten«, wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten nicht mehr weit her ist. Wer Menschen zur Abschreckung ertrinken lässt und Lebensretter vor Gericht zerrt, der tritt ethische Grundlagen und Menschenrechte mit Füßen.
Die Anwesenheit der zivilen Rettungsschiffe konfrontiert Europa auch mit seiner kolonialen Vergangenheit und dem Rassismus seiner Gegenwart: Regierungen und Presse nahmen leidenschaftlich Anteil an der Rettungsmission einer thailändischen Jungenfußballmannschaft, während das Sterben afrikanischer Flüchtlinge im Mittelmeer, der tödlichsten Grenze der Welt, bei ihnen kaum noch Empathie hervorruft. Eine Heuchelei, die nicht anders, als mit Rassismus und dem Erbe des Kolonialismus zu erklären ist.
Während die EU und die Bundesregierung sich mit dem »Türkei-Deal« des mitverschuldeten Exodus aus Syrien und dem Nahen Osten zu entledigen versuchen, wollen sie nun auch die Auswirkungen der letzten militärischen Abenteuer in Nordafrika externalisieren. Mit dem Versuch zu verhindern, dass zivile Organisationen das Geschehen an der libyschen Küste und in der Ägäis sichtbar machen, will die EU die Berichterstattung über das »Jahrhundert-Problem« ersticken.
Eine neue Front von Hardlinern
Angetrieben von rechten Bewegungen wurde in den vergangenen Jahren europaweit das Asylrecht von konservativen und sozialdemokratischen Regierungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Dennoch kommt es zu immer weiteren Verschärfungen. Merkel und Seehofer einigten sich auf den menschenverachtenden »Masterplan«. Die SPD begnügt sich mit der Umbenennung der »Transitzentren« in »Transferzentren« und verleiht mal eben dem Lifeline-Kapitän Reisch den Europapreis — ganz so, als hätte sie mit den Asylverschärfungen und der Lagerpolitik nichts am Hut.
Auf der EU-Innenministerkonferenz in Innsbruck bildete sich eine neue Front von Hardlinern heraus. Die »Achse der Tätigen« von München bis Rom (Seehofer, Strache und Salvini) ist sich einig über eine neue Qualität in Sachen Abschottung und Militarisierung der Außengrenzen. Frontex soll bis 2020 um 10.000 Beamte aufgestockt und zu einer Militärpolizei aufgerüstet werden. Zudem sollen Lager in nordafrikanischen Staaten eingerichtet werden, damit die Menschen gar nicht erst den Kontinent verlassen. Doch genau das passiert in Libyen jetzt schon, mit bekannten Folgen: In Berichten der deutschen Botschaft in Niger ist von »KZ-ähnlichen Verhältnissen in den sogenannten Privatgefängnissen« die Rede. Die Zukunft, die sich Seehofer und Co. vorstellen, die das Sterben von Menschen einkalkuliert und den Bau von Lagern wieder zur politischen Praxis macht, zielt auf die Abwertung und Entmenschlichung der »Anderen« und wird nachhaltig die extreme Rechte in Europa stärken. So erklärte der italienische Innenminister Salvini, dass Rassismus eine »Erfindung der Linken« sei und Flüchtlinge lediglich »Menschenfleisch«, also »Waren«, seien.
Wiederbelebung der Willkommensbewegung
Die Seenotretterinnen und -retter, die in den Häfen ausharren müssen, sind unfreiwillig in die Märtyrer-Rolle gerutscht und zur Speerspitze einer neuen Solidaritätsbewegung geworden. Es ist eine Wiederbelebung der Willkommensbewegung, in der sich 2015 konservativen Schätzungen zufolge fünf Millionen Menschen bei den Empfangskomitees am Münchner Bahnhof, der Essensausgabe im Berliner LAGeSo, ehrenamtlichen Deutschkursen oder mit Spenden engagiert haben. Unter dem Slogan »Seebrücke statt Seehofer« versammeln sich Seenotrettungsorganisationen, lokale Flüchtlingsinitiativen, Linke und »Normalos«, die der Rechtsruck in Gesellschaft und Diskurs schockiert. Sie alle eint die Empörung über Seehofers gezielte Provokationen und moralische Entgleisungen, wie sein schäbiges Grinsen, über die Abschiebungen zu seinem Geburtstag, infolge der sich ein junger Afghane das Leben nahm.
Bundesweit gehen seit mehreren Wochen viele Tausend Menschen in dezentralen Demonstrationen auf die Straße, machen Flashmobs und halten Mahnwachen gegen das Sterben im Mittelmeer ab. Die Bewegung hat mit der Forderung nach einer »Seebrücke« eine positive Vision, die sie dem europaweiten Trend von Abschottung und Militarisierung entgegenstellt.
Auch die #ausgehetzt-Demo in München hat mit 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gezeigt, dass die massive Opposition gegen das neue bayerische Polizeigesetzt kein Sonderfall war.
In den letzten Monaten war es ruhiger geworden um die Refugee-Solidarität in Deutschland. AfD und CSU bestimmten die öffentliche Debatte und verschoben sag- und diskutierbares so weit nach rechts, dass selbst die bürgerlich-liberale ZEIT, sich die Frage stellte, ob man Menschen im Mittelmeer nicht lieber absaufen lassen sollte, weil sonst die Konkurrenz im Kleingartenverein zu groß werden würden.
Der Keil im europäischen Selbstverständnis
Doch langsam scheint sich der Wind wieder zu drehen. Flüchtlingshelferinnen und -helfer, die lange Zeit eher im Stillen für die Integration eingesetzt haben, treten wieder selbstbewusster auf und schöpfen neuen Mut. So hat beispielsweise die Initiative Moabit hilft die Nominierung für den »Nachbarschaftspreis« abgelehnt, weil Horst Seehofer die Schirmherrschaft des hoch dotierten Preises trägt, obwohl der Verein, das Geld gut gebrauchen könnte.
Die dezentralen und auf Selbstaktivität aufbauenden Aktionen der »Seebrücke« haben es geschafft, dem Abwehrkampf gegen immer neue Asylrechtsverschärfungen und Abschiebungen, wieder eine offensive Stoßrichtung zu geben. Tausende Menschen gehen wieder selbstbewusst und hoffnungsvoll auf die Straße und setzen ein Zeichen der Solidarität.
Im Jahr 2019 ist Europawahl. Die Sparexzesse in Griechenland und anderen südeuropäischen Länder scheinen schon fast vergessen. Doch in der Flüchtlingspolitik zeigt die EU ihre hässlichste Fratze. Die Seenotretterinnen und -retter sind der Keil im europäischen Selbstverständnis und offenbaren die Unmenschlichkeit des europäischen Grenzregimes. Eine »Politik der Lager«, wie auf dem EU-Gipfel vom 28. Juni beschlossen, die auf Abwertung und Entmenschlichung abzielt, darf die europäische Linke nicht zulassen. Unsere Antwort muss solidarisch und internationalistisch sein und auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene gegeben werden.
Die Lethargie der progressiven Kräfte ist endlich aufgebrochen. Die neuen Solidaritätsbewegungen, wie die »Seebrücke«, #ausgehetzt oder »Aufstehen gegen Rassismus«[21], zeigen, dass die letzte Schlacht für Solidarität und Menschlichkeit sowie gegen Rassismus und Ausgrenzung noch zu gewinnen ist. Nehmen wir sie auf!
Am 04.08. ist der von der SEEBRÜCKE organisierte DAY ORANGE! Es wird Aktionen und Proteste in bundesweit über 80 Städten geben, um sich mit der Seenotrettung solidarisch zu zeigen und ein Zeichen gegen Hass und Ausgrenzung zu setzen.
Foto: Jugend Rettet/ Jule Müller
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