Nach dem Angriff auf einen Politiker bildete sich in Serbien eine Protestbewegung. Was die Bewegung fordert, wie erfolgreich sie sein könnte und wie sich die radikale Linke dazu verhält, erklärt uns Pavle Ilić im marx21-Interview
Pavle Ilić ist Aktivist in Serbien und Mitglied der sozialistischen Organisation marks21.
marx21: Seit mehreren Wochen finden Proteste in Belgrad statt. Was ist dort los?
Pavle Ilić: Die erste Protestrunde fand bereits Anfang Dezember 2018 statt. Sie war eine Reaktion auf einen körperlichen Angriff auf Borko Stefanović. Er ist Anführer einer linksliberalen Partei, Levica Srbije (LS – Die Linke Serbiens), die Minderheitspartner in Savez za Srbiju (SzS – Die Union für Serbien) ist. Das ist eine breite Oppositionskoalition, die von der LS bis hin zu Rechtsradikalen reicht.
Eine Oppositionskoalition von Linksliberalen bis Rechtsradikalen?
Die SzS wurde als Reaktion auf den zunehmenden Druck unter der Präsidentschaft von Aleksandar Vučić auf die zersplitterte Opposition gegründet. Sie hat jedoch keine nennenswerten Wahlgewinne erzielen können. Der Angriff auf Stefanović erfolgte während einer Veranstaltung im Rahmen des Kommunalwahlkampfes in einer Stadt in Südmittelserbien. Die mutmaßlichen Angreifer sind inzwischen aus der Haft entlassen worden und die Ermittlungen sind anscheinend ins Stocken geraten.
Was ist nach dem Angriff auf Stefanović passiert?
Die Opposition nutzte die Gelegenheit, die Regierung und die herrschende Partei zu kritisieren, indem sie behauptete, diese sei direkt für den Angriff verantwortlich.
Das glaubst du nicht?
Das ist schon möglich, da der autoritäre Aspekt der Herrschaft von Präsident Vučić immer stärker wird. Aber eine direkte Verantwortung halte ich trotzdem für eher unwahrscheinlich.
Wie entwickelten sich die Proteste nach den ersten Protesttagen?
Nach der zweiten Woche der Proteste versuchten die Organisatoren, die der SzS offen verbunden waren, die nächste Demo für den 16. Januar, fast einen Monat später, auszurufen. Daraufhin explodierten die sozialen Medien mit den Postings wütender Bürger, die sagten, dass sie jeden Samstag weiter protestieren würden, egal wann die SzS beschließen würde, eine Demonstration zu organisieren. Angesichts dessen beschlossen die Organisatoren, weiterhin wöchentliche Demonstrationen durchzuführen und zu versuchen, sich als unabhängig von der SzS zu präsentieren, obwohl sie verhältnismäßig bekannte Mitglieder der Jugendverbände der SzS-Parteien sind. Etwa zur gleichen Zeit änderte sich das offizielle Motto der Proteste in »Einer von den fünf Millionen«.
Was bedeutet die Parole?
Sie ist in Anlehnung an eine Erklärung des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, der sagte, dass er den Forderungen der Demonstranten nicht nachgeben würde, selbst wenn 5 Millionen Menschen auf den Straßen wären. Diese wurde inzwischen als Hauptparole der Proteste angenommen. Strukturell gesehen haben die aktuellen Mobilisierungen aber einen deutlich geringeren Anteil junger Menschen mobilisiert als bei den Protesten vom April 2017 nach den Präsidentschaftswahlen, bei denen die radikale Linke eine bedeutende führende Rolle spielte. Insgesamt sind die Proteste eher kleinbürgerlich. Sie werden unbedeutend bleiben, solange sie von den SzS-Parteien vereinnahmt werden.
Das musst du näher erklären.
Die Kleinbürgerlichkeit zeigt sich an der Atmosphäre der Demonstrationen, die eher Prozessionen als Aufständen ähneln. Es wurden Lieder gespielt, die alle in den 90er Jahren aufgenommen wurden und von dem auf einem Lastwagen montierten Soundsystem dröhnten. Außerdem fassen sich die Demos als »zivile Demonstrationen« auf – was bedeutet, dass einfache Versammlungen und Protestwanderungen mit Reden voller Pathos, aber ohne jegliche politische Substanz stattfinden. Das liegt an dem großen Einfluss, den die SzS-Parteien auf die Protestbewegung haben.
Wofür steht denn die Protestbewegung?
Eine der offiziellen Forderungen der Protestbewegung ist zum Beispiel eine Erhöhung der Zeit, die der offiziellen Opposition im öffentlichen Fernsehen zur Verfügung steht. Ihre Forderungen sind für den Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung irrelevant.
Heißt das, dass die SzS-Parteien die Protestbewegung als Plattform ausnutzen, um sich einen möglichen Wahlvorteil verschaffen zu können?
Einfach gesagt, ja. Sie sind sogar ehrlich über den Charakter ihres Bündnisses – deren Ziel ist eine Übergangsregierung von »Sachverständigen« (d. h. Technokraten).
Die radikale Linke und die Protestbewegung
War die radikale und antikapitalistische Linke auch in der Protestbewegung involviert?
Die ersten beiden Demonstrationen erwischten uns unerwartet. Außerdem war die radikale Linke aufgrund des Einflusses der SzS-Parteien zunächst skeptisch, sich überhaupt in die Proteste einzumischen. Das war aber nicht von Dauer. Die meisten Linken in Belgrad spürten, dass die demonstrierenden Menschen nicht nur Anhänger der SzS-Parteien waren, sondern auch tatsächlich Wut und den Wunsch nach Veränderung ausdrückten. Seitdem wollen wir die Protestbewegung als Baustein zur Wiederbelebung einer unabhängigen Linken bauen, die sich an der Arbeiterklasse orientiert.
Wie hat sich die radikale Linke eingemischt?
Das geschah unter dem Banner eines breiteren »Linken Blocks«. Es hatte außerdem eine direkte Konfrontation zwischen den AktivistInnen des Linken Blocks und Dragan Đilas, dem ehemaligen Bürgermeister von Belgrad, gegeben. Er ist dafür berüchtigt, dass er mehrere große Roma-Siedlungen auseinandertreiben ließ, um Immobilien für Stadtentwicklungsprojekte mit ausländischen Direktinvestitionen zu räumen. In einer Tirade, die auf Video festgehalten wurde, verspottete Đilas Aktivisten und griff auf frauenfeindliche und schwulenfeindliche Flüche zurück. Das Video ging viral und die Linke erhielt eine beispiellose Publicity. Natürlich versuchten die Regierungspartei und ihre Medien, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen und Đilas als gewalttätigen Schläger zu präsentieren. Währenddessen schlug die liberale Opposition ihre eigene, kleinere, aber viel sprachgewandtere Medienmaschinerie in einen Rausch und versuchte, die radikale Linke als Provokateure von Vučić darzustellen.
Konnte man daraus einen Vorteil ziehen?
Die Woche, die darauf folgte, war eine Woche der fieberhaften Vorfreude und der Organisation. Am 26. Januar, dem ersten Protest nach der Veröffentlichung des Videos, nahmen die Zahlen des Linken Blocks zu, und er integrierte sich in die Protestbewegung. Schon am nächsten Tag fand der größte ökologische Protest in der serbischen Geschichte gegen die Zerstörung natürlicher Bäche und Flüsse durch den Bau von Mini-Wasserkraftwerken statt. Auch in dieser Mobilisierung war die radikale Linke mit dem Linken Block sehr stark vertreten.
Was wolltet ihr damit erreichen?
Wir müssen zeigen, dass es notwendig ist, verschiedene Kämpfe zu verbinden. Die Mehrheit der Menschen, die auf die Straßen von Belgrad und vielen anderen Städten in Serbien gehen, tun dies, obwohl die SzS versucht, die Protestbewegung für den eigenen, rein wahltaktischen Vorteil zu nutzen. Sie sind wütend auf Vučić, aber auch auf seine Vorgänger, die versuchen, sich neu zu erfinden und ihre neoliberalen Reformen zu vertuschen.
Vučić und sein Regierungsstil
Bitte erzähl uns noch mehr über Vučić und seine Regierung.
Vučićs Partei, die Serbische Progressive Partei (SNS), entstand als EU-freundliche Abspaltung von der rechtsradikalen Serbischen Radikalen Partei (SRS). Das ist eine nationalistische Gruppe, die während der Konflikte um die jugoslawische Erbfolge ihre eigenen Paramilitärs hatte. Sie war ebenfalls Juniorpartner in einer der Milošević-Regierungen. In dieser Zeit diente Vučić als Informationsminister in dieser Regierung und war in den 90er Jahren berüchtigt für die Forderung nach »der Ermordung von hundert Muslimen für jedes serbische Opfer«. Inzwischen hat er sich als eine Mischung aus Modernisierer à la Angela Merkel und Orban‘schem Kraftmenschen und »Vater der Nation« neu erfunden.
Was bedeutet das?
Aus politischer Sicht setzt die SNS die schuldengetriebene Wirtschaftspolitik der früheren Regierungen fort – unter anderem die Privatisierung und Zerstückelung von Industriegiganten des öffentlichen Sektors. Diese Politik stützt sich auf ausländische Direktinvestitionen, niedrige Steuern für Unternehmen sowie eine Austeritätspolitik im öffentlichen Dienstleistungssektor. Im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen ist sie im Rahmen einer globalen Finanzkrise an die Macht gekommen, deren Auswirkungen sie bis heute recht erfolgreich auf die Arbeiterklasse abwälzt. Das führte dazu, dass die SNS einen autoritäreren Regierungsstil entwickelte.
Wie konnten sie diesen Regierungsstil durchsetzen?
Die Hauptaufgabe bestand darin, ein Erpressungssystem weiterzuentwickeln, das der regierenden Partei in Serbien seit den 90er Jahren zur Verfügung stand. Dieses System besteht darin, dass der Staatsapparat als solcher wenig Autonomie von der herrschenden Partei hat. So hat eine Regierungspartei die direkte Kontrolle über eine halbe Million Arbeitsplätze in der Regierung und im öffentlichen Sektor. Das schafft eine von existentieller Angst getriebene Wählerschaft, zu der auch die »Besitzer« dieser Arbeitsplätze und ihre Familien gehören. Das betrifft auch die Arbeiter im privaten Sektor, die in regimetreuen Unternehmen angestellt sind.
Die regierende Partei scheint einen großen Einfluss auf die Gesellschaft zu haben.
Außerhalb von Belgrad und Novi Sad (den beiden größten Städten) haben Organisationen der Zivilgesellschaft keinen Einfluss. Natürlich können dadurch Lokalpolitiker in kleineren Städten viel weniger kontrolliert werden. Das führt dann dazu, dass loyale Kader an Schlüsselpositionen platziert werden. Dadurch können Belegschaften erpresst oder gar mit jenen Arbeitern ersetzt werden, die verzweifelt genug sind, der SNS beizutreten, um eine Arbeitsstelle zu bekommen.
Angst und Wut der Bevölkerung in Serbien
Haben solche Verhältnisse eine Reaktion in der Bevölkerung hervorgerufen?
Die fortschreitende Verschlechterung fast aller Aspekte des öffentlichen Lebens in Serbien erzeugt Angst und Wut. Die Zeit läuft für das Regime aus, aber ohne eine klare linke politische Alternative würde ein Wahlsieg der Opposition für die Mehrheit der Bevölkerung wenig Veränderung bedeuten.
Wie geht Vučić mit den Protesten um?
Die Rhetorik von Vučić basiert darauf, der vorherigen Regierung die Schuld für alles zu geben, was heute mit Serbien nicht stimmt. Währenddessen überspielt er seine Errungenschaften und stellt sie als vorteilhaft dar, selbst wenn sie direkt für einen Rückgang des Lebensstandards, den Anstieg der tatsächlichen Arbeitslosigkeit oder andere akut spürbare Erscheinungen verantwortlich sind. Seine besondere Art des modernisierenden, populistischen und rechtsliberalen Images hängt davon ab, darauf zu bestehen, dass seine Vorgänger das serbische Volk beraubten. Das taten sie zweifellos, aber er ist seit sieben Jahren derjenige, der nun den Raub begeht. Abgesehen davon ist aber seine Reaktion simpel: Im Grunde genommen »wartet er ab«. Die Polizeipräsenz bei den Demonstrationen ist minimal und beschränkt sich meistens auf die Verkehrspolizei, die die Straßen auf der Demoroute räumen soll. Er fürchtet nämlich, dass repressive Manöver gegen ein sichtbares öffentliches Ereignis die Öffentlichkeit gegen ihn aufbringen und die Unterstützung für ihn untergraben könnte.
Die Zukunft der Protestbewegung
Könnte die Protestbewegung der Vučić-Regierung gefährlich werden?
Aufgrund der aktuellen Strategie der Proteste wird es äußerst unwahrscheinlich sein, die Vučić-Regierung damit in den Abgrund zu treiben. Außerdem sehen ihn die westlichen Eliten nach wie vor als ihren wichtigsten Akteur in Serbien. Ein Lichtblick ist aber, dass der Linke Block gleichzeitig versucht, träge Gewerkschaften zur Beteiligung an der Bewegung zu mobilisieren. Bisher aber nur mit äußerst begrenztem Erfolg.
Wie werden sich jetzt die SzS-Parteien und die Regierungspartei bezüglich der Protestbewegung positionieren oder verhalten?
Die Opposition wird versuchen, ihren Einfluss auf die Protestbewegung zu stärken. Gleichzeitig wird sie versuchen, eine Strategie zu entwickeln, die die direkte Konfrontation mit der Regierung bis zu den Wahlen verschiebt. Sie glaubt nämlich, dass die Zeit auf ihrer Seite steht. Sie muss sich nun Sorgen um eine proaktive und straßenkluge Linke machen, die aus erfahrenen, energischen und jungen Aktivistinnen besteht. Wir stellen ihre Legitimation offen und erfolgreich in Frage.
Die Regierung wird versuchen, die Protestbewegung abzuwarten und zu versuchen, die Spaltungen zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Was sollte die Linke tun?
Die Linke wird weiterhin ihre eigene Linie verfolgen und versuchen ihren Einfluss so weit wie möglich zu verbreiten. Währenddessen muss sie vorsichtig vorgehen, um weder das unwissende Kanonenfutter für die Opposition noch die Zerstörer der Protestbewegung für die Regierung zu werden. Wahrlich eine große Herausforderung. Die folgenden Wochen werden darüber entscheiden, ob unsere bisherigen Erfahrungen es uns ermöglichen werden, uns ihr zu stellen.
Das Interview führte Ivan Lucic.
Update
Seit diesem Interview gab es am 2. Februar eine weitere Mobilisierung der Protestbewegung. Es geschahen mehrere bemerkenswerte Dinge:
Der Linke Block war wieder dabei, aber die »offiziellen« Sicherheitshelfer des Protestes versuchten, den Block daran zu hindern, sich der Demonstration anzuschließen. Schließlich scheiterten ihre Versuche, und der Linke Block schloss sich dem Block der Postgewerkschaft an. Die Sicherheitsschläger, die versuchten, die Intervention des Linken Blocks zu vereiteln, bedrohten die Aktivistinnen und Aktivisten, und einer von ihnen versuchte, Verletzungen vorzutäuschen und zu behaupten, er sei vom Linken Block angegriffen worden.
Der Linke Block hat sich inzwischen auf mindestens drei weitere Städte ausgedehnt, und noch weitere erklärten ihre Bereitschaft zur Teilnahme an einer Koordination.
Der gesamte Protest stand im Schatten des Medienskandals, der um zwei Personen ausbrach, die ein Modell eines Galgens trugen. Sie wurden von der Polizei umgehend identifiziert und inhaftiert. Die Staatsanwaltschaft fordert, dass sie seit Beginn des Prozesses wegen »Aufruf zur Gewalt« – einer Straftat – in Haft bleiben. Die beiden jungen Männer wurden als langjährige Unterstützer von Dveri, einem rechtsextremen Mitglied von der SzS, identifiziert. Die Opposition hat aber damit angefangen, zu behaupten, dass der Galgen eine von der Regierung inszenierte Provokation sei.
Die Opposition hat angekündigt, einen »Vertrag mit dem Volk« zu schließen, der das Versprechen einer provisorischen Regierung festlegt, die während eines streng auf ein Jahr beschränkten Mandats das Land »re-demokratisieren« wird. Eine ähnliche Taktik wurde von der Demokratischen Opposition Serbiens (Demokratska opozicija Srbije – DOS) angewandt, einer breiten Front, die letztendlich Milošević besiegte. Die in diesem Vertrag gemachten Versprechen wurden jedoch sehr schnell vergessen, als die erste Post-Milošević Regierung antrat.
Urheber des Fotos: Levi samit Srbije
Fotoquelle: Levi samit Srbije auf Facebook
Schlagwörter: Belgrad, Proteste, Serbien