Die Vertreibungen in Sheikh Jarrah sind in Deutschland längst aus den Schlagzeilen verschwunden. Doch der andauernde zionistische Siedlungskolonialismus spitzt die Lage im besetzten Palästina weiter zu. Die Aktivistin Hadeel Shatara über die Lage vor Ort und den anhaltenden Widerstand der Palästinenser:innen
Hadeel Shatara ist Aktivistin des Samidoun Palestinian Prisoner Solidarity Network in Ramallah, im besetzten Palästina.
Was ist in Sheikh Jarrah los?
Ethnische Säuberung ist der beste Begriff, um zu beschreiben, was dort derzeitig geschieht.
Inwiefern?
Das Ziel des zionistischen Projektes ist es, einheimische Palästinenser:innen aus Jerusalem und letztendlich aus ganz Palästina zu vertreiben, damit die israelische Besatzungsmacht eine jüdische ethnische Mehrheit schaffen kann. Sobald die Palästinenser:innen vertrieben sind, verkauft der israelische Staat die Häuser oft oder gibt sie zionistischen Siedler:innen.
Dies ist ein siedlerkoloniales Rechtssystem
Die Befürworter:innen der Vertreibung argumentieren, dass es sich nur um einen Rechtsstreit zwischen privaten Parteien handelt. Damit habe die israelische Regierung nichts zu tun.
Das gesamte israelische Rechtssystem ist so aufgebaut, dass es den zionistischen Expansionsdrang auf Kosten des einheimischen palästinensischen Volkes unterstützt. Das bedeutet, dass die Siedler:innen mit ihren angeblichen Rechtsansprüchen, die häufig von rechten Gruppen mit Sitz in den USA finanziert werden, extrem privilegiert sind – selbst, wenn sie auf zweifelhaften Behauptungen oder falschen Dokumenten beruhen, wie in diesem Fall. Dies ist ein siedlerkoloniales Rechtssystem, das nicht dazu gedacht ist, den Palästinenser:innen Gerechtigkeit zu verschaffen, sondern das koloniale Projekt voranzutreiben.
Wie viele Menschen sind von der Vertreibung in Sheikh Jarrah betroffen?
Es sind mehr als 500 palästinensische Familien, die von der Vertreibung aus ihren Häusern zugunsten zionistischer Siedler:innen betroffen sind. Aber Sheikh Jarrah ist kein Einzelfall, sondern einer der vielen Versuche, sich palästinensisches Land und palästinensische Häuser anzueignen. Die Liste der brutalen Zerstörungen von Häusern und der Zwangsräumungen ist lang. Auch dies ist ein Versuch, die Palästinenser:innen in Jerusalem zu isolieren sowie Teil der seit 73 Jahren andauernden Nakba, also der Katastrophe, der Vertreibung und ethnischen Säuberung durch die Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Die Folge ist die fortsetzende Kolonisierung von Land und Häusern in palästinensischem Besitz.
Die Eigentümer:innen der Häuser in Sheikh Jarrah hätten auf Räumung der Grundstücke geklagt, weil das Mietverhältnis abgelaufen sei. Was ist daran falsch?
Es ist der Versuch, den Konflikt aus dem Kontext der Besatzung heraus zu lösen. Die alltägliche Gewalt, die Menschen täglich als Folge der Besatzung erfahren, wird durch scheinbar juristische Auseinandersetzungen verdeckt.
Die Rechtssache Sheikh Jarrah wird seit 49 Jahren verhandelt und wenn wir über das Rechtssystem sprechen, dann sprechen wir über ein zionistisches System, das explizit auf Unrecht gegenüber den Palästinenser:innen beruht.
Inwiefern?
Nach dem israelischen Apartheidgesetz können Jüdinnen und Juden in Jerusalem Land zurückbekommen, das sie oder ihre Vorfahren verloren hatten. Dieser Anspruch kann sogar von rechtsextremen Siedlerorganisationen ohne persönliche Verbindung, die oft ihren Hauptsitz in den Vereinigten Staaten haben und dort finanziert werden, genutzt werden, um palästinensische Häuser an neue Siedler:innen aus den USA und Europa zu vergeben.
Diese Ansprüche haben selbst dann Vorrang, wenn sie auf falschen Behauptungen über nicht existierenden Landverkauf oder auf gefälschten Dokumenten beruhen, die durch alte osmanische und britische Dokumente widerlegt sind. Palästinenser:innen haben dieses Recht nicht – und das selbst dann nicht, wenn sie jahrzehntelang dort gelebt haben. Israel verabschiedete das Gesetz im Jahr 1970, drei Jahre nach der israelischen Besetzung Ostjerusalems im Jahr 1967. Dagegen wird den Familien von Hunderttausenden von Palästinenser:innen, die bei der Gründung der israelischen Siedlerkolonie 1948 aus ihren Häusern vertrieben wurden, das Recht verweigert, auf ihre Grundstücke und in ihre Häuser zurückzukehren.
Die Ursache des Problems ist die anhaltende Besatzung des palästinensisches Landes, die andauernde Nakba
In den bürgerlichen deutschen Medien werden die Palästinenser:innen für die Gewalt und die Eskalation verantwortlich gemacht. Was ist daran falsch?
Das ist die typische Opfer-Täter-Umkehr. In Wirklichkeit sind es die rechtszionistischen Siedlergruppen, die für die Gewalt und die Verschärfung der Auseinandersetzungen verantwortlich sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der stellvertretende Bürgermeister von Jerusalem, Arieh King, wünschte sich vor laufenden Kameras, dass ein palästinensischer Aktivist von einer Kugel getroffen werde. Er rechtfertigt die Zwangsräumungen in Ostjerusalem und spricht offen von dem Ziel der ethnischen Säuberung: »Wenn mehr Juden dort leben, ist die Chance geringer, dass ein Teil Jerusalems an unseren Feind fällt.« Die Polizei und das Militär setzen diese Worte in die Praxis um.
Die wirkliche Ursache des Problems ist also die anhaltende Besatzung des palästinensischen Lands, die andauernde Nakba. Womit wir es zu tun haben, ist der zionistische Siedlerkolonialismus.
Mit welchen Schwierigkeiten haben du und andere Aktivist:innen zu kämpfen?
Die Verbrechen und die anhaltende Gewalt, die die zionistische Polizei an Aktivist:innen verübt, sind für uns eine große Gefahr. Wir müssen ständig mit Verhaftung und Verwaltungshaft ohne Gerichtsverfahren rechnen. Unsere Proteste werden gewaltsam unterdrückt und jede unserer Bewegungen wird überwacht. Unseren Familien wird mit Gefängnis gedroht, um den Druck auf uns Aktivist:innen zu erhöhen. Zusätzlich haben wir es im Westjordanland mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zu tun, die die Rolle des Handlangers der Besatzungsmacht spielt, indem sie Menschen im Rahmen ihres »Sicherheitskooperations«-Abkommens mit dem israelischen Besatzerstaat verhaftet. Dieses Abkommen ist Teil des Osloer-Verträge, die für die Rechte der Palästinenser:innen zerstörerisch waren und weiterhin sind.
Du bist aktiv im Samidoun Palestinian Prisoners Solidarity Network. Was ist Samidoun und was sind eure Forderungen?
Samidoun ist ein internationales Netzwerk von Freiwilligen in vielen Teilen der Welt, die zusammenarbeiten, um für die Freiheit der palästinensischen Gefangenen in den zionistischen Gefängnissen sowie in den Gefängnissen der imperialistischen Mächte und reaktionären Regime auf der ganzen Welt zu kämpfen. Wir streben die Freiheit Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer und die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge in ihr Heimatland an.
Samidoun ist solidarisch mit den internationalen politischen Gefangenen und mit den Befreiungskämpfen auf der ganzen Welt. Wir erkennen die grundlegenden Zusammenhänge zwischen Inhaftierung, Rassismus, Kolonialismus und der Kriminalisierung von Geflüchteten und Migrant:innen.
Was tut ihr konkret vor Ort?
Wir entfalten das ganze Jahr über internationale Aktivitäten und bauen Kampagnen auf. Wir beteiligen uns auch an anderen Kampagnen und internationalen Aufrufen zur Unterstützung des Kampfes gegen Kolonialismus und Imperialismus.
Unsere Aktivitäten reichen von Onlinekampagnen, Medienkampagnen, Demonstrationen bis zu Boykottkampagnen, die die Stimme der palästinensischen Gefangenen in die Welt tragen. Wir glauben, dass es unser Recht als Palästinenser:innen ist, alle Mittel des Widerstands anzuwenden und dass dieses Recht durch das internationale Recht gedeckt ist. Wir verbünden uns auch mit Hunderten von internationalen Gruppen, die dieselben politischen Prinzipien wie wir teilen.
Du bist auch bei Masar Badil aktiv. Kannst du uns erklären, was al-Masar al-Badil ist?
Masar Badil ist eine Initiative, die ins Leben gerufen wurde, um eine neue Phase des Kampfes und das Ende des Madrid-Oslo-Prozesses anzukündigen, der vor 30 Jahren begann. Wir versuchen, eine einheitliche Volksbewegung und einen organisatorischen Rahmen für eine Initiative der Erneuerung für die palästinensische Nationalbewegung in der Diaspora aufzubauen, um all unsere Ziele und unsere Rechte durch Befreiung und Rückkehr zu erreichen. Das bedeutet auch, die jüngere Generation dafür zu gewinnen, für die Verteidigung unserer Rechte als Nation und für unsere Menschenrechte zu kämpfen.
Antifaschist:innen dürfen nie Siedlungskolonialismus und Apartheid gutheißen
Was erwartest du von der Linken in Deutschland?
Was wir von jeder Linken in der Welt erwarten: gemeinsam gegen die rechte Expansionspolitik zu kämpfen, die den Zionismus und Kolonialismus schützt. Durch den gemeinsamen Kampf gegen imperialistische Mächte werden wir nicht nur Palästina befreien, sondern auch alle Freiheitskämpfer:innen der Welt, die in den Gefängnissen sitzen. Wir sind sehr enttäuscht über die inakzeptable Position zu Palästina seitens der Mehrheit der deutschen Linken. Der palästinensische Befreiungskampf ist ein Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus.
Deutsche Kräfte, die sich »links« oder »antifaschistisch« nennen, während sie einige der extrem rechts stehenden Kräfte der Welt unterstützen, hinter denen der US-Imperialismus steht, haben mit linker oder antifaschistischer Politik nichts zu tun. Wir wissen, dass es in Deutschland prinzipientreue Organisationen gibt, die für die Rechte der Palästinenser:innen eintreten, aber die Position der »offiziellen Linken« ist ein beschämender Verrat an grundlegenden Prinzipien wie Solidarität und Antirassismus. Wir fordern die Linke in Deutschland auf, ihre politischen Verbindungen zu nutzen, um eine grundlegende Änderung der Positionen des deutschen Staates gegenüber Palästina zu erreichen und die Unterstützung der zionistischen Kolonialmacht zu beenden.
Wie kann eine internationalistische Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf aussehen?
Der Befreiungskampf kann verschiedene Formen annehmen, beginnend mit dem Boykott und der Isolierung der zionistischen Besatzung über die Einleitung einer Kampagne zur Beendigung der Besatzung bis hin zu den Aufrufen zu Aktionen, die Palästina unterstützen. Politischer, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Widerstand sind legitim, da all diese Faktoren zusammen den Kampf gegen Zionismus, Kolonialismus und Imperialismus unterstützen werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Interview und Übersetzung von Nidal Thawri.
Foto: Neil Ward
Schlagwörter: Besatzung, Israel, Palästina