Die Wahlergebnisse in Schweden waren die schlechtesten aller Zeiten für die Sozialdemokraten und die besten aller Zeiten für die rechten Schwedendemokraten. Wie auch immer das Ringen um die Regierungsbildung endet – nur ein neues und starkes politisches Projekt wird die verlorene Macht der Arbeiterbewegung des Landes wiedererlangen können. Von Petter Nilsson und Rikard Warlenius
Erst vier Tage nach den Wahlen war es möglich, die endgültige Sitzverteilung festzustellen. Noch weiß niemand, wie das Land regiert werden wird. Das Wahlergebnis ist fast ein Patt zwischen den beiden traditionellen Koalitionen. Die rot-grüne Koalition, die aus Sozialdemokraten, Grünen und der Linkspartei besteht, hat zusammen 144 Mandate. Das Mitte-rechts-Bündnis aus Moderaten, Liberalen, Zentrum und den Christdemokraten hat 143 Mandate. Die rechten Schwedendemokraten haben 62 Mandate.
Diese Teilung hat zu einer völligen Blockade geführt; keine Koalition verfügt über eine Mehrheit, keine Koalition ist bereit, sich aufzulösen, keine Koalition will mit den Schwedendemokraten zusammenzuarbeiten und die Schwedendemokraten haben erklärt, dass sie keine Koalition unterstützen werden, wenn sie keinen Einfluss auf die Politik der Regierung haben.
Minderheitsregierung wie üblich
Einige haben die Situation als eine Art Mutprobe bezeichnet, die weitergeführt wird, bis die eine oder andere politische Partei von ihrem traditionellen Weg abweicht. Aber eigentlich hat die rot-grüne Koalition wegen ihres Vorsprungs von einem Mandat den Vorteil. Seit Jahrzehnten wird Schweden von Minderheitsregierungen regiert, und das ist möglich, solange keine größere Koalition gebildet wird.
Wenn das Mitte-rechts-Bündnis bei seinem Versprechen bleibt, sich nicht aufzulösen und nicht mit den Rechten zusammenzuarbeiten, wird höchstwahrscheinlich die neue Regierung der alten sehr ähneln: eine Koalition zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen mit der Linkspartei außerhalb der Regierung, aber mit der privilegierten Position, dass sie mit der Regierung über den Haushalt verhandelt, aber frei ist, die Regierung in allen anderen Fragen zu kritisieren.
Arbeiterbewegung in Schweden
Um die scheinbaren Turbulenzen der Blockade zu verstehen, muss man sich die langfristigen Trends ansehen. Mehrere Faktoren haben sich miteinander verschmolzen und die aktuelle Situation hervorgebracht. Erstens gibt es die zugrunde liegenden Umwandlungen in der Klassenzusammensetzung Schwedens. Die Stärke der schwedischen Sozialdemokratie, die Stärke der Arbeiterbewegung insgesamt, beruhte auf einem hohen Maß an Universalität.
Die schwedische Industrialisierung fand spät und schnell statt, so dass die Bildung von Facharbeitergewerkschaften zugunsten von allgemeineren und breiteren Organisationen eher vermieden wurde. Hochzentralisierte Betriebe machten es leichter, sich zu organisieren und die Gewerkschaften konnten einen hohen Organisationsgrad und eine enge Lohnbandbreite aufrechterhalten.
Als politischer Flügel der Gewerkschaften konnte die Sozialdemokratie mit den großen Nationalkapitalisten verhandeln, den »15 Familien«, denen große Teile der schwedischen Industrie gehörten. Dadurch konnte sie langfristige Stabilität, eine ausgebildete Arbeiterschaft und günstige Bedingungen für den Export garantieren und als Gegenleistung steigende Reallöhne und verhältnismäßige hohe Besteuerung bekommen.
Dienstleistungen statt Industriegesellschaft
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es eine Tendenz in Richtung Dezentralisierung der Betriebe, die mit einem Schrumpfen der klassischen Industriearbeiterschaft und einem Wachstum des Dienstleistungssektors zusammenfiel. Das Klassenbewusstsein dieser Gruppen hatte einen entscheidenden Unterschied: Der industrielle Kern hatte ein starkes Bewusstsein, dass er eine Klasse für sich sei, während die neuen Arbeiterinnen und Arbeiter im Dienstleistungssektor verstreuter und weniger organisiert waren.
Gleichzeitig wurden die früheren »15 Familien« durch Hedgefonds und Investitionsgesellschaften abgelöst, die Institutionen gehörten, die keine Verbindungen mit bestimmten Nationen bzw. Binnenmärkten hatten. Infolgedessen nahm die Fähigkeit ab, langfristige Vereinbarungen zwischen Staat und Kapital zu verhandeln. Die enge Lohnbandbreite fing an zu zerbröckeln. Schließlich brach die Metallgewerkschaft aus dem allgemeinen Tarifvertrag aus und unterschrieb einen eigenen Tarifvertrag. Die Sozialdemokratie änderte ihre Wirtschaftspolitik, gab die Idee der Vollbeschäftigung auf und konzentrierte sich stattdessen darauf, die Inflation in Grenzen zu halten. Öffentliche Einrichtungen wie Telekommunikation, Stromnetz und Eisenbahn wurden verkauft und bald wurden auch Schulen und Gesundheitswesen privatisiert.
Umbrüche der Sozialdemokratie
Zur gleichen Zeit, als die Basis für die klassische Sozialdemokratie in Schweden – eine konzentrierte und allgemeine Arbeiterschaft, integriert in einem kollektiven und allgemeinen Sozialstaat – schrumpfte, konnten die Sozialdemokraten beobachten, wie ihre Wahlerergebnisse zurückgingen. Mit kleineren Schwankungen ist die Tendenz klar gewesen. Von etwa 50 Prozent Ende der 1960er Jahre sank der Anteil während der 1970er und 1980er Jahre auf 40 bis 45 Prozent. Anfang des neuen Jahrtausends war er auf etwa 35 Prozent geschrumpft und schließlich erreichte er nun den 28,3 Prozent, das schlechteste Ergebnis seit 1911, als die Partei zum ersten Mal kandidierte.
Die Wählerverluste sind mit einigen wenigen Wegscheidungen verbunden. Im Jahre 2006 verloren die Sozialdemokraten (SAP) einen großen Teil ihrer Wählerschaft aus den höheren Schichten der Arbeiterklasse – die Wohlhabenden mit stabilen Arbeitsplätzen, Häusern und zwei Autos. Viele schluckten den Köder der Mitte-rechts stehenden Moderaten, die sich »die neue Arbeiterpartei« nannten und behaupteten, dass sie den Sozialstaat fast unversehrt lassen würden, während sie die Steuerlast senkten.
Dieses Mal verlor die SAP große Teile der ärmeren Schichten – die Außenseiter bzw. diejenigen in den ländlichen Gebieten, die am schwersten von den Kürzungen des Sozialstaats getroffen worden waren. Viele davon landeten bei den Schwedendemokraten (SD), gefolgt von den Wählern, die den Umweg über die Moderaten machten. Unter den Arbeiterinnen und Arbeitern sind die Schwedendemokraten mit etwa 26 Prozent jetzt die zweitstärkste Partei, nicht weit hinter der SAP mit 31 Prozent. Diese Ergebnisse sind allerdings stark vom Geschlecht abhängig. Laut der Nachwahlbefragung war die SD am stärksten unter Männern mit 24 Prozent, während sie nur 14 Prozent der Frauenstimmen bekam. Für die Sozialdemokraten, die Linkspartei und die Grünen ist die Tendenz umgekehrt: Zusammen bekamen sie 33 Prozent der männlichen Stimmen aber 45 Prozent der weiblichen.
Polarisierung in Schweden
Eine kleinere, aber deutliche Strömung ist von der SAP zu den fortschrittlichen Parteien übergegangen: zur Linkspartei, zu den Grünen und zur Feministischen Initiative. In einigen städtischen Gebieten holten diese Parteien zusammen etwa die Hälfte der Stimmen. Schon bei der Wahl 2014 bemühten sich die Feministinnen sehr, ins Parlament zu kommen. Sie scheiterten an der 4-Prozent-Hürde, schafften es jedoch, in viele Stadträte gewählt zu werden. Dieses Mal erhielten sie Mandate in 13 Kommunen, unternahmen aber keine ernsthafte Anstrengung auf der nationalen Ebene.
Die Grünen waren 2014 stark und traten das erste Mal überhaupt in die Regierung ein. Aber sie versäumten es, ihre Versprechen zu erfüllen und erhielten dieses Mal nur 4,3 Prozent der Stimmen. Auf den Ruinen der anderen fortschrittlichen Parteien machte die Linkspartei einen Sprung nach vorne mit 8 Prozent der Stimmen. Ihre Wählerschaft ist hochkonzentriert in den größeren Städten. Bei den Kommunalwahlen bekam die Linkspartei 13 Prozent in Stockholm, 12,5 Prozent in Göteborg und 11 Prozent in Malmö.
Sozialdemokratie vor düsterer Zukunft
So hat die SAP sowohl an die Fortschrittlichen als auch an die Rechten verloren. Ob an Erstere oder Letztere, ist überwiegend eine Frage der politischen Geografie: Ländliche Gebiete und Kleinstädte, besonders in Südschweden, sind jetzt Hochburgen der SD, während die städtischen Vororte rot, grün und rosa sind. Für die SAP – aber auch für jede Linke, die den Anspruch erhebt, die Arbeiterklasse zu vertreten – ist das die beunruhigendste Tendenz, da sie einen anhaltenden Rückgang nicht nur der materiellen Einrichtungen des Sozialstaates sondern auch der Klassenbasis prognostiziert, die einst diesen Sozialstaat aufgebaut hat. Die jüngsten Wahlergebnisse waren, mit den Worten eines prominenten SAP-Abgeordneten, »historisch gesehen schlecht, aber besser als erwartet«. Man könne noch behaupten, dass die SAP die größte Partei und immer noch eine der stärksten sozialdemokratischen Parteien Europas sei – aber das verfehlt den springenden Punkt: Da es kein offensichtliches politisches Projekt innerhalb des SAP gibt, um wieder an Boden zu gewinnen, steht sie anscheinend vor einer düsteren Zukunft, unabhängig von den Ergebnissen ihrer derzeitigen Manöver, um in der Regierung bleiben zu können.
(Übersetzung: Einde O’Callaghan)
Foto: Socialdemokrater
Schlagwörter: Schweden, Schwedendemokraten, Sozialdemokraten, Sozialdemokratie