Die Politik von SPD und CDU ähnelt sich zuweilen sehr. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Arten von Parteien. Dem müssen revolutionäre Sozialisten Rechnung tragen. Von Stefan Bornost
Der Umgang mit der SPD ist ein heißes Thema in der LINKEN. Die Vorschläge reichen von gemeinsamer Regierungsbildung bis hin zu scharfer Abgrenzung. Zu kurz kommt dabei aber die Diskussion darüber, was für eine besondere politische Formation die Sozialdemokratie ist. Doch das ist notwendig, um eine erfolgversprechende Taktik zu entwickeln.
Ausgangspunkt einer solchen Debatte sollte die Prämisse sein, den Einfluss der Sozialdemokratie zu schwächen und letztendlich zu brechen. Denn dies ist notwendig, um Schritte hin zu einer besseren Welt zu machen. Die politische Präsenz der Sozialdemokratie hemmt die Kampfbereitschaft in der Arbeiterbewegung. Entweder wirkt die Partei direkt bremsend ein oder sie versucht die Unzufriedenheit von aktiver Tätigkeit zum passiven Wahlakt umzuleiten. Es gab gute Gründe, warum sich die in der Kommunistischen Internationale (Komintern) zusammengeschlossenen revolutionären Parteien Anfang der 1920er Jahre hauptsächlich mit dem Wesen der Sozialdemokratie und mit der Taktik beschäftigt haben, die sie ihr gegenüber anwenden sollten.
Ein grundsätzlich widersprüchlicher Charakter
Die Komintern fand eine prägnante Formulierung für den Charakter der Sozialdemokratie: Sie bezeichnete sie als eine bürgerliche beziehungsweise kapitalistische Arbeiterpartei. Dieser Begriff verweist auf den grundsätzlich widersprüchlichen Charakter dieser Formation.
Erstmal zum »Bürgerlichen«: Der politische Charakter, das Wesen einer Partei ist nicht einfach durch eine soziologische Bestimmung ihrer Mitgliederschaft bestimmt, sondern dadurch, welche Eigentumsverhältnisse sie verteidigt. Spätestens seit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 ist klar: Die SPD steht mit aller Konsequenz zum deutschen Kapitalismus. Sie bewegt sich im Rahmen dieser Gesellschaftsordnung und stellt deren Grundlagen nicht infrage.
Es lässt sich darüber streiten, wann vor 1914 der Wendepunkt war, an dem sich eine widerständige in eine systemtragende Partei verwandelte. Die SPD hatte schon bei ihrer Gründung bedeutsame staatstragende Elemente in sich, die allmählich die Perspektive und Praxis der Partei bestimmten. Das politische Endprodukt wurde von marxistischen Theoretikern »Reformismus« getauft. Damit soll nicht kritisiert werden, dass die Sozialdemokratie für positive Reformen ist – das ist die revolutionäre Linke natürlich auch. Gemeint ist die politische Strategie, im Wesentlichen auf parlamentarischem Weg kleine Verbesserungen erreichen zu wollen. Dieser Weg bedeutet allerdings auch, zur Verteidigung des Bestehenden auch mal den Rückwärtsgang einzulegen, also die Lebensverhältnisse der lohnabhängig Beschäftigten zu verschlechtern oder sogar Kriege zu unterstützen, um die Interessen des Kapitals durchzusetzen.
SPD, Gewerkschaften und bürgerliche Ordnung
Wie weit dieser Prozess schon vor 1914 fortgeschritten war, zeigte die Massenstreikdebatte von 1905/06. Die SPD hatte 1905 auf einem Parteitag beschlossen, den politischen Massenstreik als Kampfmittel einzusetzen. Dieser Beschluss wurde ein Jahr später auf Druck der Gewerkschaftsführungen wieder zurückgenommen. Denn diese fürchteten, dass der kaiserliche Staat sie bei einer von ihnen ausgehenden politischen Großaktion wieder aus der gesellschaftlichen Nische vertreiben könnte, die sie sich erkämpft hatten. Die ganze Episode belegt, dass schon zu diesem Zeitpunkt, an dem die SPD in Programm und Reden noch revolutionäre Phrasen verwendete, diejenigen den Kurs der Partei bestimmten, die ihren Frieden mit der bürgerlichen Ordnung gemacht hatten. Der treibende Block dabei war die sich neu entwickelnde Gewerkschaftsbürokratie, deren ganze Existenz an der Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit hing und die diese Perspektive in die Partei transportierte. Die Sozialdemokratie ist nicht einfach ein Akteur in der Gewerkschaftsbewegung, sondern selber die Widerspiegelung der Interessen der Gewerkschaftsbürokratie im politischen Raum.
Hundert Jahre später ist der bürgerliche Charakter der SPD gefestigt. Programm, Praxis und die interne politische Aufstellung wurden miteinander in Einklang gebracht. Das Godesberger Programm von 1959 ersetzte den Antikapitalismus durch ein Bekenntnis zum bürgerlichen Staat und zum kapitalistischen Privateigentum. Die Partei wurde durch massenhafte Ausschlüsse von Personen oder ganzen Organisationen »auf Linie gebracht«. Im Jahr 1961 wurde beispielsweise der Studentenverband SDS aus der Partei gedrängt.
Heute ist die SPD eng mit Staatsapparat und Kapital verbunden. Sie ist bürgerlich, was ihr praktisches Agieren anbelangt, das vor allem auf Wahlen, Parlamentsarbeit und die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen setzt anstatt auf Klassenkampf und Mobilisierungen. Ihr bürgerlicher Charakter zeigt sich auch im inneren Regime, wo ein bürokratischer Apparat inklusive der parlamentarischen und exekutiven Vertretungen das Parteileben bestimmt und eine eher inaktive Mitgliederbasis nur noch zustimmen darf. Hier zeigt sich auch das Problem der Regierungsbeteiligungen: Weil die SPD an das Kapital gekettet ist, bindet sich auch DIE LINKE mit einer gemeinsamen Regierung an das Kapital – dies verhindert eine soziale Politik.
SPD: Mehr als eine rotlackierte CDU?
Ist also die SPD nichts anderes als eine rotlackierte CDU, welche ja offensichtlich auch eine bürgerliche Partei ist? Eben nicht: Darauf verweist der zweite Teil der Charakterisierung, nämlich als Arbeiterpartei. Damit ist nicht gemeint, dass die SPD die Partei ist, die mehrheitlich von lohnabhängig Beschäftigten gewählt wird – denn das ist offensichtlich nicht der Fall. Über Jahrzehnte hat die Mehrheit der Lohnabhängigen die CDU gewählt. Bei den jüngsten Wahlen in Ostdeutschland hat die AfD mehr Stimmen von ihnen erhalten als die SPD.
Auch nicht gemeint ist, dass die Mitgliederschaft der SPD sich mehrheitlich aus lohnabhängig Beschäftigten rekrutiere. Das ist zwar tatsächlich der Fall, unterscheidet die SPD aber nicht von der CDU. In beiden Parteien besteht die mit Abstand größte Gruppe (rund vierzig Prozent) aus Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst.
Es gibt aber einen zentralen Unterschied zur CDU: die historisch gewachsene Verbindung zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Vor 1933 umfasste das neben den Gewerkschaften diverse Massenorganisation, von Konsumgenossenschaften über Arbeitergesangsvereine und -sportgruppen bis hin zu großen paramilitärischen Verbänden. Zusammen wurden hier Millionen Menschen unter der direkten politischen Kontrolle der Sozialdemokratie organisiert.
Diese Massenorganisationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut, mit Ausnahme der Gewerkschaften. Deren Leitungsebenen und Apparat sind eine Domäne der Sozialdemokratie. Lag der Anteil von CDU-Mitgliedern in den gewerkschaftlichen Führungen bis Mitte der 1970er Jahren noch bei 18 Prozent, ist er jetzt auf acht Prozent gesunken. Mit Ausnahme des langjährigen ver.di-Chefs Frank Bsirske, der bei den Grünen ist, hatte die überwältigende Mehrheit der Vorstände der DGB-Gewerkschaften immer ein SPD-Parteibuch. Gleichzeitig sind 72 Prozent der SPD-Bundestagsabgeordneten Gewerkschaftsmitglieder. Das ist der höchste Anteil unter allen Parteien. Gewerkschaftsfunktionäre stellen nach Lehrern und Parteiangestellten den drittgrößten Berufsblock in der SPD-Fraktion.
Obgleich auch diese Verbindung schwächer wird (bis 1990 waren neunzig Prozent der SPD-Abgeordneten Gewerkschaftsmitglieder), sichert sie immer noch ab, dass die gewerkschaftliche Bürokratie aufs Engste mit der Sozialdemokratie verwoben ist.
Diese besondere Funktion und Fähigkeit der bürgerlichen Arbeiterpartei macht die SPD überhaupt erst interessant für das Kapital. Sie kann, was die CDU nicht vermag: den Widerstand der Arbeiterbewegung gegen Angriffe auf ihre Lebensverhältnisse von innen heraus lähmen. Nur ein SPD-Kanzler konnte die Agenda 2010 durchsetzen. Die vorherige CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl scheiterte noch mit einem wesentlich weniger ambitionierten Programm am gewerkschaftlichen Widerstand. Der blieb jedoch gegen die Agenda 2010 aus, weil die Gewerkschaftsführungen »ihre« Regierung nicht schwächen oder gar stürzen wollten. Dieses Beispiel macht deutlich, warum der russische Kommunist Leo Trotzki die Sozialdemokratie als die Partei bezeichnete, »die sich auf die Arbeiter stützt, aber der Bourgeoisie dient«.
Das Dilemma der Sozialdemokratie
Genau diese Widersprüche stellen den Kern des Reformismus dar. Ohne seine Wurzeln in der Arbeiterklasse wäre er für das Kapital nutzlos. Ohne seine Festlegung auf die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung wäre er nicht zu dem Hindernis für den Fortschritt der Arbeiterklasse geworden, das er heute ist.
Dieser Charakter führt aber auch zu einem Dilemma für die Sozialdemokratie, an das revolutionäre Politik anknüpfen kann. Gemäß ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Funktion gibt sich die Sozialdemokratie, unabhängig von ihrer realen Politik, immer noch als »Partei der kleinen Leute«. Sie muss das tun, um ihren Einfluss in der Arbeiterbewegung zu bewahren. Das weckt aber andere Erwartungen unter ihren Wählerinnen und Mitgliedern als bei den anderen bürgerlichen Parteien. Die FDP rutscht in eine Krise, wenn sie nicht als Sturmtrupp des Kapitals und der Selbstständigen gegen den »Versorgungsstaat« auftritt – schließlich ist es genau das, was ihre Anhänger von ihr wollen. Und würde sich die AfD-Spitze hinter einem »Flüchtlinge willkommen«-Schild versammeln, zerfiele die Partei wahrscheinlich binnen Wochen. Schließlich ist der Rassismus der Kitt, der sie zusammenhält.
Ähnlich sieht es bei der SPD aus: Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und die Unterstützung für den Ersten Weltkrieg hat die Partei nicht gefestigt, sondern erst desorganisiert und dann durch die Gründung der USPD (1917) gespalten. Im Jahr 1928 unternahm die SPD eine sehr erfolgreiche Wahlkampagne mit dem Slogan »Kinderspeisung statt Panzerkreuzer« – um dann in der folgenden Koalitionsregierung genau den Bau der Panzerkreuzer zu unterstützen. Folge war wiederum eine Spaltung mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Ähnlich bei der Agenda 2010: Auch sie führte zu einer Abspaltung und zur Geburt der LINKEN. Die Spaltungen fielen umso heftiger aus, je mehr gesellschaftlichen, also auch außerparlamentarischen Widerstand es gegen die entsprechenden Maßnahmen gab.
Hintergrund dafür ist, dass die Anhänger der SPD ihre Partei beim Wort nehmen und von ihr, allen Negativerfahrungen zum Trotz, eine Verbesserung ihrer Lage erwarten. Das hat nichts mit Gehirnwäsche oder Verblendung zu tun. Der Reformismus und die damit immer wieder aufkeimenden Hoffnungen in die SPD haben ihre Basis im widersprüchlichen Bewusstsein der Arbeiterklasse im Kapitalismus.
Die Klasse wird ausgebeutet, merkt das auch und will, dass sich ihre Lebenslage verbessert. Gleichzeitig fehlt der überwältigenden Masse der Arbeiter im kapitalistischen Normalbetrieb die Vorstellungskraft, dass ein anderes System, nennen wir es Sozialismus, die Ausbeutung beenden kann und dass sie diejenigen sind, die dieses System erst erkämpfen und dann gestalten können. Der Wunsch nach positiver Veränderung überträgt sich also auf politische Kräfte, die stellvertretend im Rahmen des Bestehenden diese Veränderung herbeischaffen sollen: im Wesentlichen reformistische Parteien, Gewerkschaften und Verbände.
Die richtige Strategie für Revolutionäre
Das ist der Ausgangspunkt für eine Strategie von Revolutionären, mit der Sozialdemokratie umzugehen. Sie wurde von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Anfang der 1920er Jahre entwickelt und als Einheitsfronttaktik bekannt. Die Grundlage dafür ist: Organisatorische Eigenständigkeit der Revolutionäre, eine grundsätzlich Kritik an Kapitalismus und am Staat und eine knallharte inhaltliche Kritik an der Politik der bürgerlichen Parteien, also auch der Sozialdemokratie.
Aus dieser Position heraus haben die Revolutionäre versucht, die Hoffnungen der Anhänger der Sozialdemokratie auf positives Reformhandeln durch ihre Führungen aufzunehmen und diesen gemeinsame Aktionen zur Umsetzung konkreter Forderungen vorzuschlagen. Explizit war damit nicht gemeinsames Regierungshandeln gemeint, sondern Demonstrationen, Streiks und Kampagnen. Für die SPD gab es zwei Möglichkeiten, zu reagieren: Entweder lässt sich die sozialdemokratische Führung unter dem Druck der Erwartungen ihrer Basis auf die Vorschläge ein und die Aktion kommt zustande. Menschen kommen dann in Bewegung, bekommen in Kämpfen Selbstbewusstsein und das Gefühl eigener Macht. Das untergräbt den Einfluss des Reformismus, dessen Stellvertretertum ja gerade von dem Gefühl der Machtlosigkeit lebt. Die zweite Möglichkeit ist, dass die sozialdemokratische Führung das Angebot zu gemeinsamer Aktion ablehnt. Je klarer aber die vorgeschlagene Aktion der Interessenlage der Arbeiterklasse entspricht, desto höher ist der politische Preis, den die sozialdemokratische Führung für ihre Untätigkeit zahlen muss.
Die Sozialdemokratie hingegen nur zu beschimpfen, schweißt deren Führung und Basis immer enger zusammen, selbst Kritiker der Parteiführung verteidigen dann erstmal »ihre« Partei. Bei einem ausgeschlagenen Aktionsvorschlag aber muss die sozialdemokratische Führung erklären, warum sie nicht tätig wird für die Interessen ihrer Anhänger, während die Revolutionäre bewiesen haben, dass sie bereit sind, den gemeinsamen Kampf trotz bestehender Differenzen zu organisieren.
Für Revolutionäre entsteht also durch eine kluge Taktik gegenüber der Sozialdemokratie, die auf einer Analyse deren widersprüchlichen Charakters beruht, eine Win-win-Situation. Tatsächlich hat die KPD mit der Einheitsfronttaktik sehr erfolgreich in der Arbeiterbewegung organisiert. Dieser Einfluss ist bei der Abkehr von der Einheitsfronttaktik und dem Schwenk auf einen reinen Beschimpfungskurs gegenüber der Sozialdemokratie, der berüchtigten »Sozialfaschismustheorie« dann auch prompt wieder zusammengebrochen. Deshalb wäre es für DIE LINKE sinnvoll, die Debatte über den Charakter der SPD und den Umgang mit ihr neu zu entdecken.
Foto: jonworth-eu
Schlagwörter: Reformismus, Regierungsbeteiligung, Sozialdemokratie, SPD