In Deutschland könnte sich im Öffentlichen Dienst eine Streikwelle entwickeln, wie es die Republik lange nicht erlebt hat. Doch dafür ist es wichtig, dass alle bei den Streiks mitmachen und es braucht unbefristete Erzwingungsstreiks. Ein Kommentar des marx21-Netzwerks
Der Artikel ist Teil des marx21-Extras zur Tarifbewegung im Öffentlichen Dienst. Hier gibt es den Flyer als PDF zum Download: M21 Extra Tarifbewegung 2023 / 1 .
Die Forderungen der Kolleg:innen und ihrer Gewerkschaft sind berechtigt. Doch das heißt nicht, dass die Regierung sie anerkennen wird. Im Gegenteil macht sie besonders schlechte Angebote für die Beschäftigten. Die hohe Inflation hat dazu geführt, dass beide Seiten so weit auseinanderliegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein solch harter Konflikt kann nicht mit einer guten Tasse Tee, verständnisvollem Nicken oder guter Verhandlungstaktik überwunden werden.
Gegen die Logik der Sozialpartnerschaft
Wir brauchen Druck auf der Straße, in den Behörden und Betrieben. Und das können nur die Beschäftigten machen, und zwar mit Streiks. Das mag einige verwundern, denn die deutschen Gewerkschaften haben eine jahrzehntelange Tradition der Zusammenarbeit mit Regierung und Wirtschaft. Doch diese Strategie ist spätestens jetzt zum Scheitern verurteilt. Der vorschnelle Abschluss durch die Gewerkschaftsführung bei der Post zeigt, dass die Logik der Sozialpartnerschaft immer noch fest verankert ist. Durch diese Politik werden Beschäftigte in ihrem gewerkschaftlichen und politischen Kampf gegen das Kapital letztendlich entwaffnet. Beschäftigte können sich nicht auf die Führung verlassen, sondern müssen für ihre Interesse selbstständig einstehen und sich im Rahmen der gewerkschaftlichen Organisierung und der jetzt laufenden Streiks vernetzen.
Alle Räder stehen still
Der öffentliche Dienst ist in Deutschland das zentrale Werkzeug, um die Gesellschaft zu verwalten. Er ermöglicht Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Mobilität und vieles mehr. Ohne die Beschäftigten läuft gar nichts. Werden Flughäfen und Krankenhäuser, Behörden, Binnenhäfen, Schleusen und Müllabfuhr nicht nur mit Nadelstichen bestreikt, kommt die Gesellschaft zum Stillstand. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, gilt in einer globalisierten Welt heute noch mehr als vor 100 Jahren. Unbefristete Erzwingungsstreiks, die die Macht der Kolleg:innen strategisch ausspielen, können jetzt die so dringend benötigte Lohnerhöhung durchsetzen, welche die Arbeitgeber und Bosse uns verwehren wollen. Dass dies nötig ist und wir uns nicht alle zusammensetzen und besprechen können, was vernünftig ist, liegt an der Organisationsweise unserer Wirtschaft und Gesellschaft: dem Kapitalismus. Er führt dazu, dass einige hundert Konzerne, ihre Eigentümer, Vorstände und Regierungen ihrer Herkunftsländer von Jahr zu Jahr immer reicher und mächtiger werden.
Die Reichen feiern, die Armen bluten
Auch die Deutsche Post war bis 1995 Teil des öffentlichen Dienstes und diente der Grundversorgung der Bevölkerung. Heute ist sie eine milliardenschwere Aktiengesellschaft und gehört Banken und Investment-Gesellschaften aus der ganzen Welt. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, in dem wenige große Unternehmen jedes Jahr dutzende Milliarden Euro verdienen. Während der Lohn von Menschen, die durchschnittlich oder wenig verdienen, immer mehr von der Inflation aufgefressen wird. Doch seit Konzerne die Welt beherrschen, gibt es auch eine gesellschaftliche Kraft, die ihre Macht beschneiden kann: die Beschäftigten dieser Konzerne und des Staates. Ein unbefristeter Streik lässt die Gesellschaft zum Stillstand kommen und kostet ein großes Unternehmen Millionen Euro pro Tag.
Druckmittel gegen das Kapital
Dieses Druckmittel hat immer wieder dazu geführt, dass neben den Interessen der Wirtschaft auch die der Menschen berücksichtigt werden. In Geschichts-Dokus wird meist nur von Bundeskanzlern, Präsidenten und Königen erzählt. Doch in Wirklichkeit gibt es auch eine Geschichte von unten; eine Geschichte von Millionen Menschen, die erfolgreich gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft gekämpft haben. Im 19. Jahrhundert wurde in Fabriken pro Woche 80 Stunden und mehr gearbeitet. Heute sind es 40 oder weniger. Mit der Novemberrevolution 1918 wurde nicht „nur“ der Erste Weltkrieg beendet, der Kaiser gestürzt und die erste deutsche Demokratie eingeführt. Sondern auch der 8-Stunden-Tag per Gesetz festgeschrieben. Damit alle Beschäftigten bei Krankheit weiter Lohn bekommen, organisierte die IG Metall 1956 in ihrer Hochburg Schleswig-Holstein einen 16-wöchigen Streik. Nachdem dieser erfolgreich war, führte die Regierung die Lohnfortzahlung 1957 in ganz Westdeutschland ein, um weitere Streiks zu vermeiden.
Erfolg durch Streiks
Und auch heute führen die Beschäftigten große Kämpfe. 2021 haben die Kolleginnen von zehn Berliner Krankenhäusern einen Monat gestreikt und einen starken Tarifvertrag gegen den Personalmangel in der Pflege erkämpft. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst kann eine ganz andere Zeitenwende herbeiführen. Eine Zeit, in der die Beschäftigten nicht mehr hilflos zusehen, wie die Inflation Lohn und Ersparnisse auffrisst, sondern erfolgreich dafür streiken, dass der Staat das ausgleichen müssen. Haben wir in diesem Bereich Erfolg, werden auch andere Teile der Wirtschaft nachziehen müssen, zum Beispiel in der Industrie. Wer 2023 streikt, streikt für sich und seine Familie, aber auch für alle Beschäftigten in Deutschland. Und deshalb ist es jetzt so wichtig, dass alle bei den Streiks mitmachen.
Bild: ver.di Betriebsgruppe / marx21
Schlagwörter: Öffentlicher Dienst, Streik, Tarifauseinandersetzung, Ver.di