Die USA, Deutschland, Frankreich und verbündete Regierungen wollen in Syrien Krieg gegen den IS führen. Warum die Bomben keinen Frieden schaffen und die einzige Hoffnung auf Frieden weiterhin der Aufstand der Syrer ist, erklärt unser Gesprächspartner Joseph Daher
Vorabveröffentlichung aus dem neuen marx21-Magazin Nummer 42 (Erscheint am 3.12.).
Es scheint, der Bürgerkrieg in Syrien besteht aus einer nicht enden wollenden Reihe von Blutbädern.
Ja. Jede Woche findet irgendwo in Syrien ein Massenmord statt, meistens weil das Regime von Assad Wohngebiete bombardiert. In den vergangenen Wochen sind auch noch die Gräueltaten des russischen Militärs hinzugekommen. In den Gebieten unter seiner Kontrolle übt der Islamische Staat (IS) ebenfalls massive Repression aus und begeht Massenmorde.
Gibt es auch demokratische Kräfte?
Sicher, aber sie sind stark geschwächt im Vergleich zu 2011, als der Aufstand begann. Es gibt bewaffnete Organisationen wie die kurdische PYD oder die Kräfte der arabischen Freien Syrischen Armee sowie auch zivilgesellschaftliche Gruppen.
Wofür kämpfen die?
Nach wie vor für die ursprünglichen Ziele der Revolution: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und gegen religiöses Sektierertum. Sie stemmen sich gegen die doppelte Konterrevolution des Regimes von Assad auf der einen und der islamischen Fundamentalisten auf der anderen Seite.
Die Bundesregierung sagt, der wichtigste Schritt zur Beendigung des Kriegs sei der Kampf gegen den Islamischen Staat. Stimmt das?
Die große Mehrheit der Menschen in Syrien wäre sehr glücklich, wenn der Islamische Staat über Nacht verschwände, denn er ist eine ultrareaktionäre und barbarische Organisation, tötet und terrorisiert Bevölkerungsgruppen aller Religionen und Ethnien. Um den Krieg zu beenden, muss allerdings auch die Hauptursache angepackt werden, und die ist die syrische Regierung, die die meisten Morde, Vertreibungen und Zerstörungen zu verantworten hat.
Der IS ist nicht die Hauptursache des Kriegs?
Der IS konnte sich in Syrien erst im Herbst 2013 etablieren. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hatte aber schon zuvor erklärt, dass über zwei Millionen Syrer aus dem Land fliehen mussten. 97 Prozent von ihnen lebten in den Nachbarländern. Dazu kamen weitere 4,25 Millionen Binnenflüchtlinge. Diese Statistiken wurden bereits am 27. August 2013 vom »UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs« veröffentlicht. Zusammengenommen ergab das weit über sechs Millionen Vertriebene.
Was waren die Gründe dafür?
Verantwortlich dafür, dass so viele Menschen fliehen, ist das von der Regierung organisierte systematische Töten, das Bombardement und die Repression, worunter große Teile der syrischen Bevölkerung leiden müssen. Das ist die Strafe für den Aufstand gegen Tyrannei und Barbarei.
Stimmt das auch noch, seitdem sich der IS in Syrien eingerichtet hat?
Ja, unbedingt. Schauen wir uns an, was in den ersten sechs Monaten dieses Jahres passiert ist: Die Hubschrauber des Regimes warfen 10.423 Fassbomben auf verschiedene Landesteile ab. Die regierungstreuen Kräfte waren in dieser Zeit für fast 90 Prozent aller getöteten Zivilisten verantwortlich. Das sind mehr als siebenmal so viele wie der IS. Im März 2015 haben Menschenrechtsorganisationen die Gräueltaten des Regimes untersucht: Seit dem Beginn des Aufstands wurden fast 13.000 Gefangene zu Tode gefoltert. Weitere Zehntausende darben in den Gefängnissen und Tausende sind verschwunden. Barbarei hat viele Gesichter. Das des Assad-Regimes ist das schlimmste. Assad und seine Verbündeten, der Iran, Russland und die libanesische Hisbollah, sind für die Mehrheit der mehr als 250.000 Toten und der mittlerweile zehn Millionen Flüchtlinge im In- und Ausland seit dem Beginn des Aufstands verantwortlich.
Hinzu kommt, dass die Regierung selbst direkt zu der Entwicklung des IS und der übrigen reaktionären islamistischen Kräften beitrug, als sie notorische Verbrecher aus den Staatsgefängnissen entließ, die dann führende Positionen in diesen Strukturen einnahmen. Im Zug verschiedener Amnestien gleich zu Beginn des revolutionären Prozesses wurden die Anführer diverser reaktionärer islamischer Kräfte entlassen, während zugleich demokratische Aktivisten und Aktivistinnen verhaftet, gefoltert und unterdrückt wurden. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Assad vor allem demokratische und progressive Aktivisten sowie die Freie Syrische Armee ins Visier nahm und heute noch nimmt, während er dem IS freien Lauf lässt.
Wo liegen die Wurzeln des IS?
Der Islamische Staat ist die direkte Folge der US-amerikanischen Invasion in den Irak und der damit einhergehenden Zerstörung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Der Besetzung des Lands war bereits ein Jahrzehnt menschenfeindlicher Sanktionen vorausgegangen, durch die eine Million Menschen starben und vier Millionen Menschen vertrieben wurden.
Die US-Besatzungspolitik ist die Ursache des gegenwärtigen Debakels. Dazu gehören die rücksichtslose Unterdrückung jeglicher Opposition gegen die US-Besatzung, die Durchsetzung einer neoliberalen Agenda und die Knebelung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, ferner die Zerstörung von staatlichen Einrichtungen und die Etablierung eines politischen Systems auf Grundlage konfessioneller und ethnischer Spaltung – ähnlich wie im Libanon.
Wie kommt es, dass Menschen dem Islamischen Staat folgen?
Unter Assad haben die Menschen immer ein Leben in bitterer Armut geführt. Schon vor dem Bürgerkrieg lebten 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und weitere 30 Prozent nur knapp darüber. Die Jugendarbeitslosigkeit lag bei 50 Prozent und Millionen hausten in Slums.
Es war vielen klar, dass nur eine radikale Wende in Wirtschaft und Politik eine Lösung sein kann, und dementsprechend waren sie auf der Suche nach neuen Ideen. Wenn sich in einer solchen Situation der Islamische Staat als bedeutende Organisation mit dem Versprechen radikaler Veränderung darstellt, kann er Tausende Kämpfer trotz seines menschenfeindlichen Kriegs und seiner Politik rekrutieren.
Wollen die USA Assad stürzen?
Seit Beginn des Aufstands haben weder die USA noch andere Nato-Kräfte zu irgendeinem Zeitpunkt das Ziel verfolgt, den syrischen Revolutionären zu helfen oder das Regime zu stürzen. Die imperialistischen Großmächte USA und Russland und die regionalen kapitalistischen Mächte wie die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran haben bei aller Rivalität untereinander das gemeinsame Interesse, Revolutionen zu verhindern oder niederzuschlagen. Das Beispiel Syrien ist absolut lehrreich: Die vielen gemeinsamen Friedensinitiativen verfolgten ausnahmslos das Ziel, eine Vereinbarung zwischen Assad und einer mit den Nato-Staaten und den Golf-Monarchien verbundenen Fraktion der syrischen Opposition herzustellen.
Ist das Regime von Assad nicht ein traditioneller Gegner der US-Herrschaft im Nahen Osten?
Keinesfalls. Im Jahr 1976 intervenierte es im Libanon, um den palästinensischen Widerstand und progressive Bewegungen dort zu zerschlagen und rechtsextremistischen Kräften zur Macht zu verhelfen. Assad beteiligte sich auch an dem von den USA angeführten Bündnis im Krieg gegen den Irak 1991. Seine Armee gesellte sich zum US-amerikanischen »Krieg gegen den Terror« in den Jahren nach 2001. Und so weiter. Wie viele andere Diktatoren des Nahen Ostens unterhielt Assad Bündnisse mit verschiedenen imperialistischen Regierungen, während er Volksbewegungen im Land mit tödlicher Gewalt niederschlug.
Wäre unter Assad nicht zumindest eine Rückkehr zu den friedlichen Zeiten vor dem Bürgerkrieg denkbar?
Auch vor dem Beginn der Revolution im März 2011 herrschte kein wirklicher Frieden in Syrien. Seit dem Machtantritt von Assads Vater Hafis al-Assad im Jahr 1970 hat das Regime permanent Krieg gegen das eigene Volk geführt: mit schärfster Unterdrückung, mit dem Versuch, die Menschen entlang konfessioneller und ethnischer Linien zu spalten, durch Verarmung der großen Mehrheit der Bevölkerung, mit Korruption und vor allem durch die neoliberale Politik, die Baschar al-Assad seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 verfolgt.
Die syrische Bevölkerung setzte den revolutionären Prozess im März 2011 in Gang, um eben dieser Wirklichkeit der tagtäglichen Unterdrückung ein Ende zu setzen und endlich in Freiheit und Würde leben zu können. Es geht nicht darum, jede Lösung für ein Ende des Kriegs von der Hand zu weisen. In der Tat haben die Menschen in Syrien viel zu viel gelitten und die meisten wünschen sich eine Übergangsperiode auf dem Weg zu einem demokratischen Syrien. Aber eine »realistische Lösung«, von der Staatsvertreter und Analysten so gern reden, muss Assad und andere blutbefleckte Kriminelle seines Regimes mittel- und langfristig ausschließen, weil sonst der militärische Konflikt nur fortgesetzt wird.
Assad und seine Partner müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, ebenfalls die Kräfte der islamistischen Fundamentalisten und anderer Gruppen. Außerdem kann es nur zu einer grundlegenden Veränderung kommen, wenn nicht nur Assad, sondern ebenfalls die Beamten, welche die Sicherheitsdienste, die Armee und verschiedene weitere Staatsbehörden kontrollieren, gestürzt werden.
Wie realistisch ist das?
Die demokratischen und progressiven Kräfte sind erheblich geschwächt, aber sie sind noch vorhanden und kämpfen in verschiedenen Regionen für die ursprünglichen Ziele der Revolution. Es gibt beispielsweise Basisgruppen in Aleppo und der ländlichen Umgebung, in der Region um Idlib und in der Umgebung der Hauptstadt Damaskus. Sie haben in der Vergangenheit gegen das Regime gekämpft, ihre Regionen von Assads Herrschaft befreit und stemmen sich heute gegen die verschiedenen Kräfte der islamistischen Fundamentalisten. Im Sommer 2015 fanden in der Region um die Stadt Sweida, die mehrheitlich von Drusen bewohnt wird, mehrere Proteste gegen die Politik des Regimes und die mangelhaften städtischen Dienstleistungen statt.
Es gab Demonstrationen und Proteste nach der Ermordung von Scheich Wahid Bal’ous, einem für seine Gegnerschaft zu dem Regime und den Kräften der islamistischen Fundamentalisten bekannten Drusen. Er wurde zusammen mit zwanzig weiteren Personen Opfer eines Bombenattentats in Dahret al-Jabal. Demonstranten versammelten sich vor verschiedenen Regierungsgebäuden und rissen die Statue des früheren Diktators Hafis al-Assad nieder.
Wer war Scheich Wahid Bal’ous?
Eine sehr beliebte Persönlichkeit unter der drusischen Bevölkerung. Er führte die Bewegung »Scheichs für Würde« an, eine Gruppierung, die sich dem Schutz der Drusen in der Provinz verschrieben hat und auch gegen den Islamischen Staat und Dschabhat al-Nusra kämpft. Wahid Bal’ous setzte sich auch dafür ein, dass Armeerekruten aus Sweida nicht außerhalb ihrer, unter der Kontrolle des Regimes und von drusischen Milizen befindlichen Provinz zum Einsatz kommen. Nur wenige Tage vor seinem Tod hatten protestierende Einwohner von Sweida grundlegende Leistungen wie Wasser und Strom eingefordert. Der Scheich unterstützte diese Proteste.
Die wichtigste Aufgabe für Internationalisten auf der ganzen Welt ist nach wie vor die Unterstützung dieser Inseln der Hoffnung, die es heute noch gibt und die sich zur Wehr setzen, die sich aus verschiedenen demokratischen und progressiven Bewegungen zusammensetzen und alle Seiten der Konterrevolution zurückzuschlagen versuchen. Sie sind es, die die Träume und die Ziele der Anfangszeit der Revolution wachhalten: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und die Ablehnung jeglichen Sektierertums. Wie es ein Revolutionär in der Stadt Zabadani auf einem Plakat schrieb: »Revolutionen sterben nicht, auch wenn sie massakriert werden. Sie sind der fruchtbare Boden, der neues Leben hervorbringen wird.«
(Das Interview führte Hans Krause. Übersetzung: David Paenson)
Zur Person:
Joseph Daher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Lausanne. Er ist Mitglied der Revolutionären Linken Strömung in Syrien und Autor des Blogs »syriafreedomforever«. Er wird auf dem Kongress »MARX IS’ MUSS 2016« zur aktuellen Lage in Syrien sprechen.
Schlagwörter: Analyse, Arabischer Frühling, Assad, Demokratie, Frankreich, Imperialismus, IS, Islamischer Staat, Krieg, marx21, Revolution, Syrien, Türkei, USA