Das Buch »Burning Country« erzählt von den Menschen in Syrien, die nicht nur um ihr Leben, sondern auch weiterhin für ihre Freiheit kämpfen. Ein Interview mit der Autorin Leila al-Schami
Was war der Hauptgrund, das Buch zu schreiben?
Robin Yassin-Kassab und ich fanden, dass zu schlecht über Syrien berichtet wird. Nicht weil es zu wenige Nachrichten gäbe, sondern weil sie selten syrische Anliegen wiedergeben. Die Medien berichten hauptsächlich über die humanitäre Krise oder den Aufstieg islamistischer Gruppen und des Extremismus. Syrerinnen und Syrer werden entweder als Opfer oder als Terroristen gesehen.
Wir wollten diese Sichtweise herausfordern, indem wir die Menschen selbst erzählen lassen. Wir wollten Aktivistinnen und Aktivisten, die an der Revolution beteiligt waren und vom Krieg betroffen sind, eine Plattform bieten. Eine linke Analyse sollte darauf beruhen, was die Bevölkerung tut, und nicht nur darauf, was auf dem Schachbrett der Staaten geschieht oder was die internationalen Auswirkungen der Krise sind.
Wie habt ihr eure Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ausgesucht?
Wir waren von Anfang an mit der Revolution in Syrien verbunden. Wir kannten bereits viele Leute. Als wir mit diesen Aktivistinnen und Aktivisten sprachen, brachten sie uns mit weiteren Menschen in Kontakt. So haben wir eine Vielfalt von Einsichten in das Leben in Syrien gewonnen von Leuten aus ländlichen wie städtischen Gebieten, von Frauen wie von Männern. Wir interviewten Menschen aller Religionsgemeinschaften und Nationalitäten in Syrien: Muslimas und Muslime, Christinnen und Christen, Ismailitinnen und Ismailiten, Alawitinnen und Alawiten, sowie Kurdinnen und Kurden als auch Araberinnen und Araber.
Syrien und der Arabischen Frühling
Was glaubst du, warum ein großer Teil der internationalen Linken entweder sehr zurückhaltend oder sogar offen feindselig gegenüber der Revolution war?
Viele Linke schauen vor dem Hintergrund bereits vorhandener Ideen auf Syrien. Vor dem Arabischen Frühling waren ihre Erfahrungen mit dem Nahen Osten auf die israelische Besatzung Palästinas und den US-Krieg und die anschließende Besetzung Iraks beschränkt. Als der Arabische Frühling begann und sich die Revolution nach Syrien ausbreitete, schauten die Linken dann durch die Brille des US-Imperialismus auf Syrien.
Was ist an dieser Sichtweise falsch?
Die Lage hatte sich im Jahr 2011 dramatisch verändert. Es gab plötzlich eine internationale revolutionäre Welle in der Region, die eine gewaltige Veränderung im Denken der Menschen bewirkte. Die Menschen sagten, sie wollten nicht länger unter diesen Regimes leben, die sie über so lange Zeit unterdrückt hatten. Die Linke reagierte aber mehrheitlich nicht auf die Tatsache, dass es eine Massenbewegung von unten gab. Sie sah das Regime Assads als ein säkulares sozialistisches Regime, das sich in einem Krieg mit den USA und Israel befände. Doch das stimmt nicht.
Kannst du das näher erläutern?
Erstens ist es kein säkulares Regime. Im Verlauf der Revolution haben wir gesehen, wie das Regime die verschiedenen Religionsgemeinschaften für eine Teile-und-herrsche-Politik instrumentalisierte. Zweitens ist es kein sozialistisches Regime. Bereits unter Hafis al-Assad begann die Umsetzung neoliberaler Maßnahmen, die unter Baschar al-Assad noch zunahm.
Baschar al-Assad suchte Syrien stärker in die Weltwirtschaft zu integrieren, beispielsweise durch ein wirtschaftliches Assoziationsabkommen mit der EU. Unter ihm führten die neoliberalen Maßnahmen dazu, dass sich der Reichtum in den Händen von Assads Verwandten und von Leuten, die mit dem Regime verbunden sind, konzentrierte, während große Teile der Bevölkerung in Armut lebten. Eine der Hauptforderungen der Revolution war daher soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit.
Syrien, die USA und der »Regime Change«
Einige Linke reduzieren die syrische Revolution aber auf einen US-amerikanischen Versuch des »Regime Change« durch Waffenlieferungen nach Syrien. Wie denkst du darüber?
Es stimmt nicht, dass die USA unzählige Waffen nach Syrien lieferten. Die USA lieferten einigen Nachschub, aber lange Zeit nur leichte Waffen, Nachtsichtgeräte und Fertigmahlzeiten. Anschließend kamen einige Panzerabwehrwaffen, um eine Pattsituation aufrechtzuerhalten. Die USA lieferten keine schweren Waffen, die syrische Rebellen benötigen würden, um sich gegen die Luftangriffe des Regimes zu verteidigen, wie beispielsweise Luftabwehrraketen.
Wie sieht die militärische Strategie der USA konkret aus?
Die USA halten Ausschau nach Stellvertretern, die den »Krieg gegen den Terror« für sie führen. Die »Südliche Front«, ein Bündnis auf demokratischer und nationalistischer Grundlage, das sich geweigert hat, mit Islamisten zusammenzuarbeiten, wurde von den USA und Jordanien gezwungen, das Regime Assads nicht weiter zu bekämpfen. Dies ermöglichte dem Regime, sich auf andere Gebiete zu konzentrieren, darunter Daraya, was nach einer langen Belagerung und dem systematischen Aushungern der Bevölkerung an das Regime gefallen ist. Die USA haben außerdem die »Syrisch-Demokratischen Kräfte« mit Waffen und Luftunterstützung versorgt, die von der kurdischen YPG dominiert werden, weil diese ausschließlich gegen Daesch (arabisches Akronym für »Islamischer Staat im Irak und der Levante«, d. Red.) kämpfen.
Die »Islamisierung« der Revolution hat gewiss ihre internationale Anziehungskraft reduziert. Für wie tiefgreifend hältst Du diese Entwicklung?
Ein großer Teil des militärischen Kampfes wird von Islamisten verschiedener Couleur geführt – von moderaten islamistischen Gruppen, die innerhalb eines demokratischen Rahmens operieren, bis zu salafistischen Hardlinern. Internationale dschihadistische Gruppen wie Daesch sind dagegen konterrevolutionär, sie stellen eine dritte Kraft dar. Syrerinnen und Syrer haben gegen Daesch gekämpft, wie sie auch gegen das Regime Assads gekämpft haben. Die »Freie Syrische Armee« existiert noch immer und hat eine große Anhängerschaft, aber sie ist nicht mehr der einzige Akteur.
Die Islamisierung der Revolution
Was waren die Gründe für die »Islamisierung« der Revolution?
Spätestens nach dem Giftgasangriff auf Ghuta im Jahr 2013 wusste die syrische Bevölkerung, dass sie keine Hilfe aus dem Westen bekommen würde. Darum wandte sie sich an die Golfstaaten. Das Ergebnis war ein stärker islamistisches Vokabular. Viele Kämpfer wechselten zu islamistischen Gruppen, weil diese Waffen und Geldmittel zur Verfügung gestellt bekamen. Diese Gruppen konnten einen Sold zahlen, was angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des Hungers entscheidend war.
Zwar herrscht der militärische Kampf vor, aber es gibt ebenso eine starke Zivilgesellschaft, die immer noch eine sehr wichtige Rolle in der syrischen Revolution spielt. In Maarat al-Numan gab es über 200 Tage anhaltende Proteste gegen Assad und gegen »Dschabhat Fatah al-Scham« (»Front für die Eroberung der Levante«, der neue Name der al-Nusra-Front).
Die Menschen in Maarat al-Numan haben Fatah al-Scham klar abgelehnt, aber in Aleppo ist die Lage ganz anders. Dort hat Fatah al-Scham eine große Rolle bei dem Durchbrechen der Belagerung des Ostens von Aleppo gespielt, wodurch zwischenzeitlich 300.000 Menschen befreit wurden. Während die internationale Gemeinschaft die Menschen in Aleppo im Stich gelassen hat, kam Fatah al-Scham ihnen zur Hilfe. Es ist lächerlich zu denken, dass die Menschen sie in dieser Lage ablehnen.
Eine andere widersprüchliche Entwicklung, die du beschreibst, ist die Militarisierung?
Als die Revolution sich zu militarisieren begann, war ein Großteil der Zivilgesellschaft dagegen. Die Menschen fürchteten, dass die Revolution ihre Rechtmäßigkeit verlieren und dies zu stärkeren ethnoreligiösem Sektierertum führen könnte. Dies wurde offensichtlich Realität, aber die Militarisierung war keine Entscheidung, die auf irgendeinem Treffen oder durch irgendeine Abstimmung fiel, sondern erfolgte, weil Tausende Menschen unter das Feuer des Regimes gerieten. Sie hatten die Wahl, entweder zu den Waffen zu greifen und sich zu verteidigen oder massakriert zu werden.
Wie weiter für Syrien?
Was hältst du von den Verhandlungen in Genf?
Ich hege keine großen Hoffnungen und ich denke auch nicht, dass die syrische Bevölkerung große Hoffnungen hegt. Die USA haben sich jetzt in Sachen Syrien mit Russland verbündet. Die USA sind bereit, das Regime an der Macht zu lassen, wenn es sich darauf konzentriert, was die USA als größte Bedrohung ansehen. Solange die internationale Gemeinschaft den islamistischen Extremismus als das Hauptproblem ansieht, werden jegliche Verhandlungen wenig Bedeutung für die syrische Bevölkerung haben.
Wie stark ist die Anhängerschaft von Assad? Kann er sich weiterhin auf die alawitische Bevölkerung verlassen?
Einige Alawitinnen und Alawiten haben die Revolution massiv unterstützt, wenngleich die überwiegende Mehrheit hinter dem Regime steht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Während einige Alawiten vom Regime profitieren, lebt die absolute Mehrzahl immer noch in verarmten Gemeinden in der Küstenregion. Sie fürchten jedoch Vergeltung durch Unterstützer der Revolution im Falle des Sturzes des Regimes und eine islamistische Alternative an der Macht.
Insofern können wir sagen, dass die alawitische Bevölkerung vielmehr gegen die Revolution ist als für das Regime, weil es auch innerhalb der alawitischen Gemeinschaft Unzufriedenheit mit dem Regime gibt. Viele Alawitinnen und Alawiten haben gegen die Zwangsrekrutierung protestiert und Leute, die dem Regime nahestehen, sind besorgt über den Einfluss Russlands und Irans. Viele alawitische Milizen sind nicht länger unter der Kontrolle des Regimes. Die Hauptakteure an den Fronten sind externe Kräfte, wie die Hisbollah und die irakischen schiitischen Milizen, die von Iran gelenkt werden.
Gibt es unter den Rebellen noch Gruppen, die Syrerinnen und Syrern unterstützen können, wenn sie weder das Regime noch Islamismus wollen?
Es gibt viele positive Dinge, die man in Syrien unterstützen kann. Es gibt lokale Räte, die ihre Gemeinden selbst zu verwalten versuchen, während sie von heftigen Bombardements betroffen sind. Es gibt humanitäre Hilfsorganisationen wie die Weißhelme, die eine großartige Arbeit leisten und ihr eigenes Leben riskieren, um die Opfer von Luftangriffen aus den Trümmern zu retten. Aktivistinnen und Aktivisten haben Frauenzentren errichtet, unabhängige Medienzentren und Menschenrechtsorganisationen.
Diese Initiativen sind momentan natürlich nicht die stärksten Akteure, aber sie stehen für Menschen, die kämpfen. Und diese Menschen sollten Linke unterstützen. Nur weil sie das Geschehen nicht beherrschen, bedeutet das nicht, dass wir unsere Unterstützung stattdessen Staaten schenken sollten. Wir sollten weder die USA noch Russland unterstützen. Alle in Syrien intervenierenden Staaten verursachen ein großes Chaos dort.
Zur Person: Leila al-Schami ist in der Menschenrechtsbewegung im Nahen Osten tätig gewesen. Sie ist die Co-Autorin von »Burning Country«. Das Buch behandelt den grausamen und komplizierten Krieg in Syrien.
Das Buch:
Leila al-Schami/ Robin Yassin-Kassab
Burning Country: Syrians in Revolution and War
Pluto Press
London 2016
280 Seiten
21 Euro (ebook 12,08 Euro)
Interview: Max van Lingen, Redakteur der niederländischen Zeitung »De Socialist«. Übersetzung: Frank Simon.
Foto: Syrien Freedom Forever
Schlagwörter: Analyse, Assad, Baschar al-Assad, Buch, Imperialismus, Islamismus, Krieg, Krise, marx21, Medien, Revolution, Russland, Syrien, USA