Syriza hat kapituliert. Und nun? Die Macht der Banken und des Kapitals in Frage stellen – 15 Thesen von Christine Buchholz und Volkhard Mosler
1. Sieben Jahre nach dem großen zyklischen Weltwirtschaftseinbruch von 2008 lässt sich mit Sicherheit sagen, dass es sich um den Beginn einer langen Depression gehandelt hat. Auch die Eurozone hat sich nicht von der Krise erholt. Nach einer kurzen Erholung, die zudem noch sehr ungleich verlief, befindet sich die Eurozone in einer Phase der Stagnation. Im ersten Quartal von 2015 wuchs das BSP der Eurozone noch um 0,4 Prozent, um zweiten Quartal nur noch 0,3 Prozent. Spaniens BSP wuchs im 2. Quartal um 1 Prozent, Griechenlands um 0,8, Deutschlands um 0,4 und Frankreichs um 0 Prozent.
2. Die herrschenden Klassen der EU und der Eurozone sind unter Führung der deutschen Regierung zu einem radikalisierten Neoliberalismus übergegangen, der mit den Mitteln eines deflationär wirkenden Austeritätsprogramms die Krise überwinden soll. Die europäische Wirtschaft soll sich nach deutschem Modell aus der Krise heraus exportieren. Die Abwertung des Euro gegenüber Dollar und Pfund muss aber ihre Wirkung verfehlen, wenn andere große Wirtschaftsblöcke wie Japan, China und Russland zugleich abwerten und die USA nicht länger bereit ist, einen schuldenfinanzierten Aufschwung mit hohen Importüberschüssen zu finanzieren.
3. Massenhafter Widerstand gegen diesen Austeritätskurs der EU-Kommission hat in Südeuropa, in den vergangenen Jahren zu einem Aufschwung eines linken Reformismus geführt (Syriza, Podemos), der Ausdruck massiver Klassenkämpfe ist. Wir haben als revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten diesen Aufschwung begrüßt, weil sich darin politisch der wachsende Widerstandswillen gegen den Kurs der herrschenden Klassen ausdrückte, deren Austeritätskurs zur Verarmung von Millionen Menschen geführt hat.
4. Die großen Hoffnungen auf ein Ende der Memorandumspolitik wurden von der Regierung Tsipras enttäuscht. Die Zustimmung zu dem Memorandum nach dem beeindruckenden OXI-Votum vom 5.7.2015 ist ein dramatischer Einschnitt. Die Hoffnung, auf dem parlamentarischen Weg durch die Übernahme der Regierungsverantwortung einen Politikwechsel einzuleiten, ist an der realen Macht des Staates und der kapitalistischen Institutionen der EU gescheitert.
5. Die Politik der Syriza-Führung, wie übrigens auch die von Podemos und der der Mehrheit der LINKEN in Deutschland, beruht auf der Illusion, es ließe sich innerhalb der bestehenden kapitalistischen Institution der EU und des Euros eine gerechtere Entwicklung durchsetzen. Die Hoffnung, dass sich eine Linksregierung gestützt auf ein demokratisches Mandat durch Massenbewegungen gegen den Austeritätskurs durchsetzen oder zumindest aber wesentliche Kompromisse erreichen könnte, ist enttäuscht. Einmal an der »Macht« ändert sich die Haltung von linken Regierungen zu den Kräften, die sie hoch gebracht haben. Deren Forderungen geraten in Widerspruch mit der Politik dieser Regierungen. In diesem Augenblick wird der linke Reformismus zum Hemmschuh für soziale Bewegungen. Diese Erfahrung haben in der Vergangenheit die Anhänger und Wähler von sozialdemokratischen Regierungen gemacht.
6. Die Hoffnungen der Massen in eine linke Regierung haben in Griechenland zwar vorübergehend zu einem Abflauen der ökonomischen Massenstreiks geführt, dieses ist aber weder ursächlich für die Kapitulation der Tsipras-Regierung, noch ist es Ausdruck einer vorangegangenen Niederlage oder eine politischen Demoralisierung der Arbeiterbewegung und der unterdrückten Klassen. In den Monaten der Tsipras-Regierung hat es beeindruckende Kämpfe gegen die Umsetzung der Austeritätspolitik gegeben. Auch das OXI-Votum im Referendum hat das Potential für den Widerstand auch gegen das neue Memorandum gezeigt.
7. Die Kapitulation der Syriza-Führung birgt in sich die Gefahr der Demoralisierung der Massen und eines Rechtsrucks. Auch deswegen kommt den ökonomischen Abwehrkämpfen gegen Privatisierungen, gegen Massenentlassungen und Sozialabbau eine hervorragende Bedeutung zu. Einheitsfronten gegen die Umsetzung des Memorandums in Griechenland aufzubauen, ist die zentrale Aufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten. Darüber hinaus erklärt das Vorhandensein einer breiten Bewegung gegen Rassismus und Faschismus, warum es trotz tiefer Krise und trotz Versagens der politischen Führung von Syriza bisher nicht zu einem Rechtsruck ähnlich wie in Frankreich gekommen ist, obwohl die Gefahr weiter besteht. Es zeigt sich erneut die historische Erfahrung, dass es keinen Automatismus zwischen Krise und politischer Radikalisierung nach rechts gibt – vorausgesetzt es gibt politische und gewerkschaftliche Organisationen, die zum Träger alternativer sozialistischer Politik werden können.
8. Wir begrüßen die neue Debatte über Alternativen zur Euro-Politik, auch wenn eine Rückkehr etwa zum Europäischen Währungssystem der 1990er Jahre, für sich genommen keine Lösung im Sinne der werktätigen Klassen in Europa ist. Ein Grexit oder Austritt Griechenlands aus dem Euro ist zwar eine Voraussetzung einer sozialistischen Perspektive der Krisenlösung, nicht aber hinreichende Bedingung. Notwendig wäre die Kombination eines Grexit mit dem Kampf für Übergangsforderungen, die die Macht der Banken und des Kapitals in Frage stellen. Beispielsweise die Aufhebung der Schuldentilgung, Verstaatlichung der Banken und Großbetriebe unter Arbeiterkontrolle, Verbot von Massenentlassungen, Aufbau antifaschistischer Aktionskomitees usw. Mit der Kapitulation der Syriza-Regierung vor der EZB und den anderen »Institutionen« des europäischen Kapitalismus verlagert sich das Zentrum des Klassenkampfes und der politischen Prozesse notwendig wieder auf die Straßen und in die Betriebe.
9. Die Spaltung von Syriza führt zu großer Verunsicherung. Die Verantwortung liegt vor allem bei der Tsipras-Führung, die das Programm aufgegeben hat, mit dem Syriza zur Wahl angetreten ist. Mit der Ankündigung von Neuwahlen hat er den linken Flügel vor die Alternative des Bruchs mit der bestehenden Partei oder die Unterwerfung unter die Politik der Kapitulation gestellt. Wir stehen auf der Seite derer, die sich in der Parlamentsfraktion und in der Partei gegen den Kurs der Regierung gewendet haben. Wir kritisieren die Aussage von Gregor Gysi, Katja Kipping und Bernd Riexinger, die am Tag nach dem Rücktritt von Alexis Tsipras erklärt haben, »DIE LINKE in Deutschland unterstützt Alexis Tsipras mit allen Kräften dabei, erneut eine Mehrheit für eine linke Regierung in Griechenland zu erringen.« Es ist ein Widerspruch, Syriza zu unterstützen, auch wenn sich die Partei weiter verpflichtet das Memorandum umzusetzen und zugleich diejenigen zu unterstützen, die »einer Europäischen Union der Austerität und des Neoliberalismus den Kampf ansagen«, wie es auch in oben genannter Erklärung heißt. Ob die Neugründung der ‚Volkseinheit’ erfolgreich sein und in welchem Verhältnis zu bestehenden radikalen Formationen links von Syriza sie stehen wird, wird zum einen von ihrer politischen Grundlage, aber vor allem ihrer Rolle in den zukünftigen Kämpfen abhängen.
10. Es ist richtig, dass DIE LINKE die Verantwortung der deutschen Regierung für die Krise in Griechenland und der Syriza-Regierung betont. Die Krise von Syriza führt auch zu einer Krise der LINKEN und der Europäischen Linken, der Illusion in eine »andere, soziale EU« und in einen sozialen Ausgleich innerhalb der Eurozone. Lenins Kritik von 1915 an der Losung »der Vereinigten Staaten von Europa« gilt auch heute. Lenins zentrales Argument war, dass unter kapitalistischen Verhältnissen »jede andere Basis (einer Vereinigung, d.V.), jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich« sei. Die »Macht« sei wiederum Ausdruck der Größe des jeweiligen Kapitals oder Nationaleinkommens, wobei das »größte Kapital mehr bekommt, als ihm zusteht«. Kapitalismus, Privateigentum an den Produktionsmitteln und Anarchie der Produktion sei nicht vereinbar mit einer »gerechten« Verteilung der Einkommen.
11. »Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung« sei – so Lenin- »ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus.« Lenins Analyse trifft auch heute zu: die ökonomische Ungleichheit zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen Griechenland und Deutschland, die daraus resultierende ungleiche Verteilung der Macht, ist nicht das Produkt von »falscher« Politik, sie ist Ausdruck kapitalistischer Akkumulationsgesetze. Die Entwicklung der Klassenkämpfe in Griechenland wartet nicht auf das Heranreifen der Gegensätze in Deutschland und den übrigen Staaten der Eurozone, sie folgt ihrem eigenen Tempo. Umso wichtiger ist jetzt die aktive Solidarität mit dem griechischen Widerstand gegen die europaweite Austeritätspolitik des Kapitals. Die deutsche und europäische Linke steht vor einer großen Herausforderung und sie wird an ihrer Solidarität politisch gemessen werden.
12. Die Teile der Linken, die die Einheit der EU und der Eurozone mit internationaler Solidarität verwechseln und vereinbar halten und die daher die Kapitulation der Tsipras-Regierung verteidigen (vgl. Forum demokratischer Sozialismus, Händel-Bischoff-Radke-Troost-Wolf-Papier), stellen die aktive Solidarität mit dem griechischen Widerstand infrage. Wir führen zugleich die Debatte in der Linken über den imperialistischen Charakter der EU und der Eurozone. Ein Bruch mit diesen ist nicht notwendig ein Rückfall in den Nationalstaat und den Nationalismus, wenn er im Zeichen der Verteidigung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen erfolgt. Form und Inhalt sind nicht identisch. Die partielle Vereinigung von kapitalistischen Staaten ist so wenig eine Überwindung des Kapitalismus und Imperialismus wie eine sozialistische Revolution zunächst in einem Land oder einer Gruppe von Ländern ein Rückfall in den »Nationalstaat«.
13. Es ist wichtig, die Frage zu diskutieren, welche Grenzen eine linke Regierungsübernahme hat. Der Staatsapparat ist nicht neutral. Syriza hat versucht, das griechische Kapital und die EU zu beschwichtigen, indem es das Verteidigungsministerium und Innenministerium an die nationalistische Anel oder Unabhängige Minister gegeben hat, die keine Bedrohung für die Repressionsorgane Militär und Polizei sind. Dieses Zugeständnis hat Syriza nicht geholfen. Von Beamtenapparat sind die linken Minister ignoriert und sabotiert worden. Die Ministerialbeamten stecken mit dem Kapital unter einer Decke. Der Staatsapparat erwies sich in der Situation der finanziellen Erpressung nicht als Instrument von Syriza auf Seiten der Besitzlosen, um die Kapitalflucht zu stoppen, die Banken zu verstaatlichen oder die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten., »Sie dachten, sie wären an der Macht, dabei waren nur an der Regierung« dieses Zitat ist hochaktuell. Es braucht demokratische Strukturen, die den bürgerlichen Staatsapparat ersetzen und die Produktion nach den Bedürfnissen der Menschen reorganisieren können. Die können aber nur durch eine Massenbewegung entstehen. Das Kampffeld für die Linke im Kapitalismus ist nicht der Staat, sondern der Aufbau von Klassenkämpfen und Gegenmacht. Dort steckt das Potenzial zur Gegenmacht zu Banken und Konzernen. Dies wurde auch in der Woche des Referendums deutlich.
14. Die Zuspitzung der ökonomischen Krise der EU und der Weltwirtschaft sowie die Grenzen einer parlamentarischen Strategie verdeutlichen, dass die Frage von Reform und Revolution nicht erledigt ist. Die Linksparteien, wie sie in den letzten Jahren in mehreren Ländern entstanden sind, entwickeln sich nicht organisch hin zu klassenkämpferischen Parteien. Auch wenn revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten in jedem Land unter anderen Bedingungen arbeiten und Strukturen aufbauen. Die griechische Erfahrung bestätigt uns,, dass es wichtig auch im Rahmen einer pluralen Linken und breiter Bündnisse, ideologische Unabhängigkeit und die Fähigkeit zur Initiative zu haben.
15. In Deutschland stehen wir vor der Aufgabe, die Solidarität mit dem konkreten Widerstand in Griechenland gegen Sozialabbau und Privatisierung, d.h. die Memorandumspolitik, zu stärken. Jan Schlemermeyer beschreibt richtig, den Standortnationalismus und die Exportorientierung in den deutschen Gewerkschaften als Hemmschuh. So macht der DBG-Bundesvorstand in seiner Erklärung vom am 6. Juli 2015 keinen Unterschied zwischen Interessen der Lohnabhängigen und des Kapitals in Deutschland: »Uns in Deutschland muss stärker bewusst sein, welche erheblichen ökonomischen Vorteile gerade wir als Exportland haben. Daher müssen wir mutig und ohne Zögern Verantwortung übernehmen. Ein Grexit wäre eine Kapitulation vor den anstehenden Herausforderungen. Die möglichen mittel- und langfristigen negativen Folgen kann heute keiner überschauen.« DIE LINKE hat die Aufgabe, gegen den Einfluss der Sozialdemokratie, der Unionsparteien und der Grünen vorgehen, die den Standortnationalismus teilen. Das geht aber nur, wenn sie Tsipras‘ Memorandumspolitik nicht als alternativlos darstellt. Mehr Austerität in Griechenland bedeutet auch mehr Druck in Richtung Austerität in Deutschland. Der Vorsitzende von DIE LINKE. Hessen, Jan Schalauske, kritisierte zu Recht den Verkauf von 14 Flughäfen an Fraport: »Die Fraport AG darf sich nicht auf Kosten der griechischen Bevölkerung bereichern. (..) Wir lehnen die Privatisierung von öffentlichem Eigentum ab, ob in Griechenland oder in Hessen.«
Neben der Unterstützung von Kämpfen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland sollte DIE LINKE die kommenden Blockupy-Proteste stärken und zu ihrer Ausweitung beitragen. Denn die Proteste mit 25.000 Menschen gegen das europäische Krisenregime anlässlich der Eröffnung des neuen EZB-Gebäudes im März 2015 waren ein wichtiges Zeichen der internationalen Solidarität mit der Bewegung in Griechenland. Trotz einer leicht gestiegenen, gewerkschaftlichen Beteiligung mit eigener Demonstration am 18. März 2015, bleibt die GEW die einzige Gewerkschaft, die Blockupy unterstützt. Auch gibt es mehrere lokale Solidaritätsinitiativen in den Gewerkschaften – auch in der IG Metall – mit griechischen Kolleginnen und Kollegen und ihren Arbeitskämpfen. Diese Ansätze sind wichtig. Eine der wichtigsten politischen Aufgaben der LINKEN ist es, politische Alternativen zu formulieren und dazu beitragen, die Beteiligung der deutschen Gewerkschaften an Blockupy und ähnlichen Protesten in Solidarität mit den Kämpfen in Südeuropa auszuweiten.
Zu den Autoren: Christine Buchholz, MdB, ist Mitglied im geschäftsführenden Parteivorstand der Partei DIE LINKE, Volkhard Mosler ist aktives Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main. Beide unterstützen das Netzwerk marx21.
Zum Text: Zu erst veröffentlicht am 28.08.2015 bei der Tageszeitung Neues Deutschland
Schlagwörter: Analyse, Christine Buchholz, EU, EZB, IWF, marx21, Rechtsruck, Reformismus, Solidarität, Syriza, Troika