Ökonomen wie der Bestsellerautor Hans-Werner Sinn malen das Schreckbild an die Wand, »Deutschland« müsse aufgrund der südeuropäischen Misswirtschaft bald eine Billion Euro abschreiben. Doch um was geht es in der Debatte um Target-Salden eigentlich? Der Volkswirt Thomas Walter bringt Licht ins Dunkel und lüftet dabei das eine oder andere gut gehütete Bankgeheimnis
Was sind Target-Salden?
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zusammen mit den ihr gegenüber weisungsgebundenen Zentralbanken der Staaten mit dem Euro als Währung, also der Eurozone, ein elektronisches Überweisungssystem für den Euro geschaffen, genannt TARGET2 (TARGET, »Ziel«, ist eine Abkürzung für einen längeren englischen Begriff). Sozusagen als Nebeneffekt wird so auch erfasst, wie viele Euro über die nationalen Grenzen überwiesen werden. Die Menge an Euros, die so von anderen Ländern der Eurozone per Saldo nach Deutschland geflossen sind, werden als »Target-Forderungen der deutschen Zentralbank an die EZB« bezeichnet. Gegenbeispiel Italien (das hier als Synonym für »südeuropäische Misswirtschaft« im Sinne der Target-Kritiker stehen soll): Die Menge an Euros, die im Laufe der Zeit per Saldo aus Italien in andere Eurozonenländer abgeflossen sind, heißen »Target-Verbindlichkeiten der italienischen Zentralbank gegenüber der EZB«.
Wie kommt es zu »Target-Salden«?
Zu grenzüberschreitenden Euroströmen, also Target-Salden, kommt es, wenn zum Beispiel Geld von Italien nach Deutschland überwiesen wird (Minusbuchung bei der italienischen Zentralbank, Plusbuchung bei der deutschen Zentralbank), oder wenn ein Fabrikant aus Mailand per Überweisung einen Mercedes in Stuttgart bezahlt (minus für Italien, plus für Deutschland), oder wenn eine deutsche Geschäftsbank die Spareinlagen ihrer Kunden für einen Kredit nach Italien nutzt (plus für Italien, minus für Deutschland). Voraussetzung ist allerdings, dass diese Überweisungen tatsächlich über das Target-System abgewickelt werden. Bezahlt der italienische Fabrikant seinen Mercedes mit Euros im Geldkoffer, entstehen keine Target-Salden. Dies gilt auch für die Euro-Münzen anderer Länder der Eurozone in unseren Geldbeuteln. Hier liegt also eine gewisse Willkürlichkeit vor.
Um welche Summen geht es?
Bis zur Finanzkrise ab dem Jahr 2007 waren die Target-Salden, also die grenzüberschreitenden Verlagerungen von Euro, gering. Sei es, dass sich grenzüberschreitende Güterkäufe und -verkäufe gegenseitig ausglichen, sei es, dass Käufe aus dem einen Land durch Kredite von Geschäftsbanken aus dem anderen Land finanziert wurden. Doch nach 2007 stiegen diese Salden in die eine oder andere Richtung stark an. Zum Stand September 2018 sind aus Italien seitdem (netto, Abflüsse minus Zuflüsse) 490 Mrd. Euro abgeflossen, aus Spanien 400 Mrd. Euro. Nach Deutschland sind netto (Zuflüsse minus Abflüsse) 960 Mrd. Euro eingeflossen.
Warum sind die Target-Salden jetzt so groß?
Die Hauptursache der wachsenden Target-Salden ist Kapitalflucht. Kapitalisten zweifelten und zweifeln am Fortbestand der Eurozone und der EU und überweisen vorsichtshalber Euro von »Problemländern« wie Italien und Spanien in »sichere Häfen« wie Deutschland. Länder der Eurozone, aus denen Euros abgeflossen sind, also Länder mit negativem Target-Saldo, sind Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Österreich und Griechenland. Zuströme an Euros erlebten Deutschland, Luxemburg, die Niederlande und Finnland. Diese Länder haben also einen positiven Target-Saldo.
Woher kommt die aufgeregte Debatte über die Target-Salden?
Zunächst gingen die Target-Salden in den Wirren der Finanzkrise unter. Doch nach einiger Zeit fiel findigen oder windigen Ökonomen in Deutschland wie Hans-Werner Sinn die Bezeichnung dieser Salden auf: Target-»Forderungen«, also Guthaben, und Target-»Verbindlichkeiten«, also Schulden. Ließ sich daraus nicht ein kleiner Skandal machen? Mitten in der Griechenlandkrise 2011 wollte Sinn von der Zentralbank Griechenlands auch noch rund 100 Mrd. Euro »Target-Forderungen« eintreiben. Der Arbeitgeberverband titelte noch letztes Jahr auf seiner Homepage: »Griechenland bestellt, Bundesbank zahlt«.
Aus Sicht der herrschenden Klasse drohte die Debatte damals allerdings zu entgleisen. So nutzte etwa die AfD die Auseinandersetzung um die Target-Salden für Forderungen nach Austritt aus EU und Eurozone. Damals wurde deshalb von der EZB und der deutschen Zentralbank (Deutsche Bundesbank) die wissenschaftliche Reputation des sonst geschätzten Ökonomen Sinn in Frage gestellt. Die Target-Salden wären ein »technischer Vorgang« ohne tiefere ökonomische Bedeutung. Als aber im Jahr 2017 im Wahlkampf italienische Parteien einen Austritt Italiens aus der Eurozone und damit auch aus der EU ins Spiel brachten, änderten die EZB und die deutsche Zentralbank ihre Haltung. Jetzt heißt es plötzlich, Italien darf gerne austreten, aber erst nachdem es seine Target-Verbindlichkeiten von rund 500 Mrd. Euro bezahlt hätte. Aus dem »technischen Vorgang« ist also aus Sicht der Europäischen Zentralbank und ihrem deutschen Ableger, der Deutschen Bundesbank, eine handfeste Geldforderung geworden.
Wie argumentieren die Target-Kritiker und was steckt dahinter?
Die Position der Target-Kritiker ist, dass wenn aus Italien Euro nach Deutschland gezahlt werden, »Italien« eben »nur« Euros gezahlt hat und noch keine richtigen Gegenwerte. Das ist eigentlich absurd: Von Italien aus wurden Euro per TARGET nach Deutschland überwiesen und dabei hat sich Italien nicht einmal bei deutschem Kapital verschuldet. Hätte sich Italien bei deutschen Banken verschuldet, dann wären Euro von deutschen Banken auf Kredit nach Italien geflossen. Dieser Eurostrom in Gegenrichtung hätte den Eurostrom von Italien nach Deutschland ausgeglichen. Es wäre kein Target-Saldo entstanden. Nur weil Italien genügend Euro hat, um diese nach Deutschland zu überweisen, entstehen in der Target-Statistik bei den Zentralbanken Target-Salden -plus für die deutsche, minus für die italienische Zentralbank.
Was Sinn und Konsorten wohl ärgert, ist die Frage, warum Italien so viele Euro für Target-Überweisungen nach Deutschland hat, dass es sich nicht bei deutschen Banken verschulden muss. Der Grund liegt in der Politik der EZB seit der Finanzkrise: Italienische Unternehmen und Banken können sich Geld bei der italienischen Zentralbank besorgen, indem sie Sicherheiten bei dieser hinterlegen. Italienische Banken verkaufen zum Beispiel italienische Schuldscheine an die italienische Zentralbank. Dies wird von der EZB, die die Oberaufsicht für die Geldversorgung hat, seit der letzten Finanzkrise in größerem Maße zugelassen. Anders kann sie die Finanzmärkte nicht »beruhigen«. Die Target-Kritiker behaupten nun einfach, die Euro-Überweisungen seien nichts wert -»nur« Euro, elektronisches Geld ohne inneren Wert. Von Italien aus müsse noch etwas »richtiges«, »wirklich werthaltiges« nachgezahlt werden. Kurz: Italien habe eben doch Schulden, weil die Eurozahlungen aus Sicht der Kritiker nicht gelten.
Was soll Italien nach Meinung der Target-Kritiker nun machen?
Für die Euros, die ohne Euro-Gegenstrom von Italien nach Deutschland geflossen sind-zur Bezahlung von Waren, für das Rückzahlen eines Kredites oder als Geldanlage in Deutschland -soll Italien »richtige Werte« nachliefern, also Gold oder Wertpapiere. Die Euros werden einfach als wertlos angesehen. Als Wertpapiere kämen Forderungen an den italienischen Staat oder an italienische Banken und Unternehmen in Frage. All das ist jedoch sowohl praktisch als auch juristisch nicht umsetzbar, wie auch von bürgerlichen Experten festgestellt wird. Der Euro ist keine goldgedeckte Währung. Eine solche Währung gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr. Die italienische Zentralbank hält zwar Forderungen an den italienischen Staat und an italienische Banken und Unternehmen, aber solche »italienischen« Vermögenswerte wollen Leute wie Hans-Werner Sinn ja gerade nicht akzeptieren. Selbst wenn man die Forderungen der Target-Kritiker ernst nehmen will, sind sie also gar nicht umsetzbar.
Was passiert, wenn Italien aus dem Euro austritt?
Zunächst einmal wäre ein »Italexit« -Italien verlässt die EU -wohl noch schlimmer für das europäische Kapital als der »Brexit«. Auch deshalb droht die EZB Italien inzwischen mit einer Forderung von 500 Mrd. Euro »Target- Schulden«, um Italien vor einem Austritt abzuschrecken. Es sieht aber anders aus, wenn man nur das Target-Problem für sich betrachtet. Dass in Deutschland sich derzeit Euro befinden, die ursprünglich in Italien von der dortigen Zentralbank ausgegeben wurden, hat offensichtlich der deutschen Wirtschaft nicht geschadet. Würde Italien aus der EU austreten und würde die italienische Zentralbank das Eurosystem verlassen, wären die Euros weiterhin in Deutschland und würden natürlich weiterhin nicht der deutschen Wirtschaft schaden. Wie gesagt, ein Austritt solch eines großen EU-Staates aus der EU hätte natürlich schwerwiegende Folgen, aber das hat nichts mit Target zu tun.
Wie ist die Debatte um die Target-Salden zu bewerten?
Der Streit um die Target-Salden ist eine Scheindebatte und ein Ausdruck zwischenkapitalistischer Konflikte. Linke sollten sich aber in diese Streitereien ruhig einmischen. Sie sollten sich gegen die nationalistischen Untertöne verwahren. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den verschiedenen Nationen, sondern zwischen Kapital und Arbeit. Letztere muss solidarisch ersteres bekämpfen. Dabei können innerkapitalistische Risse, wie sie unter anderem beim Target-Streit zum Ausdruck kommen, nützlich sein, um auf die kapitalistischen Widersprüche hinzuweisen.
Foto: Deutsche Bank
Foto: Holger Rings
Schlagwörter: Euro, Eurokrise, EZB, Finanzkrise, Inland