Ob in Küche, Kita oder Krankenhaus: Frauen tragen die Hauptlast der Hausarbeit und stellen die überwiegende Mehrheit in sozialen Berufen. Die Theorie der Sozialen Reproduktion versucht, dieses Phänomen zu erklären, und zeigt auf, welche Widersprüche und Widerstandsperspektiven sich daraus ergeben. Von Ronda Kipka
Wenn in den letzten Jahren in Deutschland gestreikt wurde, war es in den seltensten Fällen der klassische Fabrikarbeiter, der in den Ausstand trat. Im Gegenteil: Größere Streikbewegungen gab es vielmehr in den sogenannten Frauenberufen, wie den Sozial- und Erziehungsdiensten oder in der Krankenhauspflege. Galten diese Bereiche lange als »nicht streikfähig« und »schwer organisierbar«, so ist inzwischen der Fachbereich Gesundheit einer der wenigen Sektoren, in dem die Gewerkschaft ver.di Mitgliederzuwächse zu verzeichnen hat und neue, lebendige Streikbewegungen entstehen. Was ist passiert? Wieso sind es gerade diese »weiblichen« Berufe, in denen Arbeitskämpfe stattfinden, und wie sind diese einzuordnen? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat es, wenn Erzieherinnen streiken? Und was hat das alles mit Frauenunterdrückung, unbezahlter Arbeit und sogenannter Care-Arbeit zu tun?
Die Theorie der Sozialen Reproduktion
Um diese Fragen geht es in der von der amerikanischen Marxistin Lise Vogel entwickelten Theorie der Sozialen Reproduktion (englisch: Social Reproduction Theory, SRT). Ausgehend von Marx’ »Kapital« untersucht Vogel, wie die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus vonstatten geht, welche Widersprüche sich hier auftun und was das für den Klassenkampf und den Kampf um die Befreiung der Frau bedeutet.
Das Hauptziel der SRT ist es, aufzuzeigen, dass im Kapitalismus ein grundlegender Zusammenhang zwischen der Reproduktion der Arbeitskräfte und der Produktion von Waren besteht. Schon für Marx war dieser Punkt zentral. In Das Kapital (Band I) schreibt er: »Sowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß. Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion.« Diesen Gedanken von Marx will die SRT vertiefen und darauf aufbauend untersuchen, wie die soziale Reproduktion sich im heutigen Kapitalismus darstellt und welche Widersprüche und Widerstandsperspektiven sich daraus ergeben.
Doch was bedeutet soziale Reproduktion? Zur sozialen Reproduktion zählen alle Arbeiten, die notwendig sind, um unsere Arbeitskraft (wieder)herzustellen. Die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft umfasst ein weites Feld: Herstellung, Zubereitung und Konsum von Lebensmitteln, das Aufziehen von Kindern, um eine neue Generation von Arbeitskräften hervorzubringen, aber auch die eigene Aus- und Weiterbildung. Die Theorie der Sozialen Reproduktion fragt nun: Unter welchen Bedingungen findet diese Reproduktion statt?
Mehr als Hausarbeit
Bei Betrachtung der oben genannten Tätigkeiten wird deutlich, dass auch in industriell hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften ein erheblicher Teil der Reproduktion nach wie vor im Privaten, also im Haushalt, stattfindet. Wir bereiten unsere Mahlzeiten zuhause zu, waschen unsere Wäsche und kümmern uns um Kinder und Angehörige. Aber reproduktive Tätigkeiten finden bei weitem nicht nur zuhause statt: Es gibt auch eine Vielzahl an vergesellschafteten Prozessen, Aktivitäten und Institutionen, die allesamt dafür Sorge tragen, dass die Arbeitskraft der Lohnabhängigen erhalten und die nächste Generation an Arbeitskräften »reproduziert« wird. Hierzu zählen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Universitäten, aber auch Krankenhäuser, Pflegeheime, Kantinen, Beratungsstellen, das ganze System der Sozialleistungen und viele andere Dienstleistungen.
Soziale Reproduktion kann in einer kapitalistischen Gesellschaft also unterschiedlich realisiert werden. In der Regel wird sie mit einem Mix aus unbezahlten Tätigkeiten innerhalb des Haushalts einerseits sowie staatlichen und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen andererseits ausgeführt. Zugleich ist sie eng verwoben mit der kapitalistischen Produktion: Die Lebensmittel, die wir zuhause zubereiten, haben wir in der Regel nicht selbst produziert, sondern zuvor im Supermarkt gekauft.
Hier wird bereits deutlich, dass die Art und Weise, wie soziale Reproduktion im Kapitalismus vonstatten geht, einem stetigen Wandel unterliegt. Es gibt jedoch eine wichtige Konstante: den Widerspruch zwischen ökonomischer Profitmaximierung einerseits und Reproduktion der Arbeitskraft andererseits.
Das Dilemma der Reproduktion im Kapitalismus
Nach Marx ist die menschliche Arbeitskraft die Profitquelle für den Kapitalismus. Wenn es keine Arbeiterinnen und Arbeiter gibt, gibt es auch keinen Profit. Um zu überleben, brauchen die Lohnabhängigen Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsdienste und vieles mehr. Der Kapitalismus muss sich zu einem gewissen Grad dieser Bedürfnisse annehmen, denn wenn all diese Grundbedürfnisse nicht berücksichtigt werden, wird auch keine auszubeutende Arbeitskraft zur Verfügung stehen.
Doch diese Beziehung ist unter kapitalistischen Bedingungen widersprüchlich. Denn aus Sicht des Kapitals ist die Reproduktion der Arbeitskraft ein Kostenfaktor, der direkt oder indirekt zu Lasten der Mehrwertproduktion geht. Investitionen in ein gutes öffentliches Gesundheitswesen, in Sozialwohnungen, Schulen oder Kindergärten mindern unmittelbar den Gesamtprofit der Kapitalisten. Das bedeutet, dass die Herrschenden darauf angewiesen sind, Strategien zu entwickeln, die Reproduktion »ihrer« Arbeitskräfte möglichst günstig und effizient zu gewährleisten. Anders gesagt: Es wird versucht, den Wert der Ware Arbeitskraft gering zu halten, denn je weniger Arbeitszeit für die Reproduktion aufgewendet werden muss, desto mehr Zeit bleibt für Ausbeutung. Benötigt werden hoch kompetente, mobile Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen und Gehältern, ohne dass für deren Reproduktion und Bereitstellung zu hohe Kosten entstehen. Der Kapitalismus steht also vor einem ständigen Dilemma, weil er einerseits von der Lebenskraft der Arbeiterinnen und Arbeiter abhängt, aber andererseits nicht zu viel in diese investieren will. Die SRT analysiert diese zentrale und widersprüchliche Beziehung.
Hierbei wird deutlich, dass die soziale Reproduktion eingebettet ist in die Kapitalakkumulation und dass der kapitalistische Staat im Rahmen der Reproduktion eine zentrale Rolle spielt. Der Staat greift unmittelbar in den Prozess der Reproduktion der Arbeiterklasse ein – durch Finanzierung sozialstaatlicher Fürsorge, aber auch durch Gesetze, die die Reproduktionssphäre direkt betreffen, wie etwa die Frage des Schwangerschaftsabbruchs oder die Ehe-Gesetzgebung.
Soziale Reproduktion und Frauenunterdrückung
Wie die soziale Reproduktion organisiert wird, wandelt sich. Konstant ist im Kapitalismus jedoch die ständige Tendenz, die Reproduktionsarbeit abzuwerten, um den Wert der Arbeitskraft zu senken und die Mehrwertrate zu steigern. Und es gibt noch eine weitere Konstante: Es sind Frauen, die den Großteil der reproduktiven Arbeit leisten – ob bezahlt oder unbezahlt, ob privat im Haushalt und der Familie oder in staatlichen oder privatwirtschaftlichen Institutionen wie Krankenhäusern, Kindertagesstätten oder Pflegeheimen. So leisten Frauen in Deutschland laut einem Gutachten des Familienministeriums aus dem Jahr 2017 täglich 52 Prozent mehr unbezahlte Arbeit für Kinder, Haushalt, Pflege und Ehrenamt als Männer. Gleiches gilt für die reproduktiven Arbeiten in Form von Lohnarbeit, bei denen es sich häufig zudem um prekäre Arbeitsverhältnisse handelt. So lag im Jahr 2010 der Frauenanteil bei Krankenpflegerinnen und Hebammen bei 86,2 Prozent, bei den Erzieherinnen sogar bei 95,8 Prozent. Ähnlich verhält es sich bei den Reinigungskräften mit einem Frauenanteil von 87,5 Prozent sowie in der sozialen Arbeit mit 80,2 Prozent.
Aber warum fallen diese reproduktiven Tätigkeiten meist Frauen zu? Wäschewaschen, Kinder erziehen und Kranke pflegen, das können schließlich auch Männer. Tatsächlich ist diese Arbeitsteilung nicht naturgegeben und es gibt keinen objektiven Grund, warum gerade Frauen die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen müssten. Erst mit der Entstehung von Klassengesellschaften führte der Umstand, dass einige produktive Arbeitsbereiche sowie die Jagd und Kriegsführung männlich dominiert waren, zur Verdrängung von Frauen aus bestimmenden gesellschaftlichen Positionen. Mit Herausbildung der Kernfamilie als vorherrschender Lebensform setzte sich diese Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern fest, wobei der Frau die Tätigkeiten in der Reproduktionssphäre zugeschrieben wurden. Diesen historischen Prozess, der seinen markantesten Ausdruck darin fand, dass die Erbschaftsfolge männlich definiert wurde, nannte Friedrich Engels die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«.
Keine rein ideologische Frage
Im Prinzip sind die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern in der Reproduktion der Arbeitskraft von begrenzter Dauer und spielen nur während der Monate der Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit eine Rolle. In Klassengesellschaften führt die biologisch beschränkte Periode der Schwangerschaft, in der die Frau das Kind austrägt und der Mann oder andere Personen für die Frau sorgen, jedoch tendenziell zur Bekräftigung der historisch tradierten Arbeitsteilung, die sich institutionalisiert und verfestigt. Zugleich erhalten »produktive« Arbeiten eine übergeordnete Stellung gegenüber Tätigkeiten, die kein Mehrprodukt schaffen, wie das Kinderkriegen oder das Pflegen von anderen Menschen. Auf dieser historisch gewachsenen Arbeitsteilung und der Abwertung der Reproduktionssphäre erwächst zudem ein gewaltiger ideologischer und politischer Überbau mit festgeschriebenen Rollen- und Geschlechterbildern.
Frauenunterdrückung ist also keine rein ideologische Frage, sondern fußt auf den realen, materiellen Bedingungen und Strukturen in der Gesellschaft, die wiederum dazu führen, dass Staat und herrschende Klasse Frauen eine gewisse Rolle und gewisse Arbeiten zuschreiben. Der Grund, weshalb der Kapitalismus also weiterhin auf Frauenunterdrückung angewiesen ist, besteht darin, dass das Kapital ein Interesse daran hat, dass jene »weiblichen« Tätigkeiten, sowohl das Gebären als auch andere für die Reproduktion notwendigen Aufgaben, möglichst kostengünstig erledigt werden. Frauenunterdrückung reproduziert sich so tagtäglich aufgrund der Strukturlogik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses.
Wandel der Reproduktionsstrategien
In einem kapitalistischen System wird die mehrheitlich von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit abgewertet und nur insoweit berücksichtigt, als es für das ökonomische Ziel, möglichst hohe Profite zu erzielen, von Bedeutung ist. Je nach historisch spezifischen Rahmenbedingungen der Produktionsweise wandeln sich jedoch die Strategien der Herrschenden, mit dem Dilemma der Reproduktion umzugehen. Zu Marx’ Zeiten war die Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit noch vollkommen unterentwickelt. Krankenhäuser oder Altersheime existierten nicht oder nur in Ansätzen. Frühkindliche Erziehung durch qualifiziertes Personal war das Privileg einer winzigen bürgerlichen Schicht. Die Reproduktion der Arbeiterklasse spielte sich fast ausschließlich in der Familie ab. Solange Bevölkerungswachstum und Nachschub an Arbeitskräften durch massenhaften Zuzug vom Land gewährleistet waren, machten sich weder Staat noch Kapital viele Gedanken über die Reproduktion der Arbeiterklasse. In den Fabriken schufteten längst nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Die Kindersterblichkeit war extrem hoch, die durchschnittliche Lebenserwartung sehr gering.
Doch mit den wachsenden Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte und durch den Druck der Auswanderung angesichts miserabler Lebensbedingungen entwickelte sich im Laufe der Zeit ein wachsendes Interesse der Herrschenden, die Reproduktion der Arbeiterklasse nicht sich selbst zu überlassen. So schreibt Marx, dass in England die Emigration der für die Produktion zentralen Maschinenarbeiter bei schwerer Strafe verboten war. Doch nicht nur die Auswanderung wurde als Bedrohung für einen reibungslosen Ablauf der Produktion und damit die Profite des Kapitals betrachtet. So schrieb der Handelsminister der USA im Jahr 1913: »Ein Arbeiter, der morgens schlecht gefrühstückt den Betrieb betritt, arbeitet bedeutend weniger effizient als einer, dem – wie den Amerikanern im Unterschied zu den Immigranten – seine Frau vor der Arbeit ein kräftiges Frühstück zubereitet hat.« Die Herrschenden erkannten also zunehmend, dass der Wert der Ware Arbeitskraft nicht unendlich nach unten gedrückt werden kann.
Die Rolle des Staates
Die einzelnen Kapitalisten stehen jedoch in Konkurrenz zueinander und haben im Zweifelsfall nur die unmittelbare Ausbeutungsrate vor Augen. Solange sie genug Nachschub an Arbeitskräften bekommen, muss es sie nicht interessieren, ob diese überleben. Die Balance zwischen günstiger, jedoch ausreichender Reproduktion zu halten, ist daher Aufgabe des Staates, der sich als »ideeller Gesamtkapitalist« denjenigen allgemeinen Belangen der Einzelkapitalien annimmt, die von diesen selbst nicht wahrgenommen werden können. In Form von Gesetzen und deren Überwachung wird dafür gesorgt, die Reproduktion der Arbeitskräfte und deren Bereitstellung für den Arbeitsmarkt zu gewährleisten.
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich in den westlichen kapitalistischen Ländern mit dem »Alleinverdienermodell« ein Reproduktionsmodell durch, in dem Frauen die Reproduktionsarbeit in der Familie unter nicht warenförmigen Bedingungen übernahmen. Im Gegenzug erhielten die meist männlichen »Ernährer« einen Lohn, der die Alimentation der Ehefrau wie auch der Kinder erlaubte. So konnte sich damals ein Großteil der männlichen Beschäftigten den freiwilligen oder erzwungenen Verzicht von Frauen auf Berufstätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes leisten. Individuelle und soziale Risiken wie Krankheit, Berufsunfähigkeit, Erwerbslosigkeit und Altersversorgung waren durch beitragsfinanzierte Sicherungssysteme und damit verbundene staatliche Sozialleistungen zumindest rudimentär abgesichert.
Der Mann galt als »Ernährer« und die Frau sollte den Haushalt erledigen. Ideologisch wurde dies auf allen Ebenen untermauert. So galten arbeitende Mütter als egoistisch, ihre Kinder als verwahrloste »Schlüsselkinder«. Frauenzeitschriften und Werbung propagierten das Bild der »idealen Hausfrau« als aufopfernd, liebend, zurückhaltend und fürsorglich. Die Rolle der Frau war klar umrissen: Sie muss dafür sorgen, dass die männliche Arbeitskraft zufrieden und erholt am nächsten Tag wieder ausgebeutet werden kann. Wie es der Frau geht, ist nebensächlich, zentral ist die Wiederherstellung der »produktiven«, männlichen Arbeitskraft.
Das Ende des »Ernährermodells«
Mit den sich seit Mitte der 1970er-Jahre verschärfenden Wirtschaftskrisen zeigte sich jedoch, dass der »Familienlohn« sowie die damit verbundenen Sozialausgaben zur Absicherung aller Familienmitglieder für die Kapitalverwertung mit verhältnismäßig hohen Kosten verbunden sind. Auch aufgrund der sinkenden Geburtenrate wurde aus der Sicht der Kapitalakkumulation die alte stereotype Familie zunehmend unrentabel. Frauen leisteten jetzt mehr Arbeit im Haus als unbedingt nötig, um Arbeitskräfte für das System zu reproduzieren. So wurde das Reproduktionsmodell des »Familienernährers« nicht nur von der zweiten Frauenbewegung bekämpft, sondern verlor seit den 1980er-Jahren auch aufgrund seiner hohen ökonomischen Kosten schrittweise an Bedeutung. Der britische Marxist Chris Harman schrieb: »Aus der Sicht des Spätkapitalismus ist eine Frau, die zu Hause bleibt und nur zwei Kinder und ihren Ehemann versorgt, eine Vergeudung potenziellen Mehrwerts. Die Tatsache, dass sie den ganzen Tag schuftet, ist kein Trost für das System; ihre Arbeit ist Arbeit, die effizienter getan werden könnte, wodurch sie für die Lohnsklaverei freigesetzt werden könnte.«
Einerseits waren es zwar die berechtigten Emanzipationsbestrebungen vieler Frauen, die zu einem kontinuierlichen Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit beitrugen, gleichzeitig konnten sich jedoch auch immer mehr Menschen das »Ernährermodell« aufgrund sinkender Reallöhne und der Durchlöcherung des Sozialsystems schlicht nicht mehr leisten.
Reproduktion im Neoliberalismus
Heute ist ein Doppelverdienstmodell das Leitbild, bei dem alle erwerbsfähigen Personen – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus und der Anzahl der zu betreuenden Kinder und Angehörigen – durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen müssen. Mit dieser Entwicklung verliert das traditionelle Konzept der Hausfrau an Bedeutung. Das bedeutet jedoch nicht, dass Frauenunterdrückung eine weniger zentrale Funktion einnehmen oder die Verteilung der Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern gerechter würde.
Zwar gab es, einhergehend mit dem Anstieg der Frauenerwerbsquote, auch einen Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung. Allerdings macht sich der Staat auch hier das Rollenbild der Frau zu eigen, um die Kosten hierfür möglichst gering zu halten – dementsprechend schlecht sind die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Außerdem bleibt ein großer Teil der Reproduktionsarbeit nach wie vor an den Familien und damit zumeist an den Frauen hängen. So ist sowohl der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen als auch der Frauen in geringfügiger Beschäftigung stark gestiegen. Der Vorteil für das Kapital: Frauen in Teilzeit dienen als billige Arbeitskräfte und können dennoch zusätzlich unbezahlte Reproduktionsarbeit zu Hause leisten. Beispielsweise wurden im Jahr 2015 von insgesamt 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland über 2 Millionen in privaten Haushalten versorgt, davon 1,4 Millionen von Angehörigen ganz ohne Unterstützung ambulanter Pflegedienste. Knapp die Hälfte aller Pflegebedürftigen wird also allein von Angehörigen gepflegt.
Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit
Deutschland setzt heute auf eine große und flexible, aber prekäre Arbeiterklasse. Das bedeutet im Kern auch eine gezielte Familienpolitik zu entwickeln, die sowohl die generationelle Reproduktion im Blick hat, als auch der Frauenerwerbstätigkeit nicht im Wege steht. So heißt es in einem Gutachten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: »Die Zahl der Erwerbstätigen bestimmt das Produktionspotenzial und der Anteil der Erwerbspersonen an der gesamten Bevölkerung bestimmt maßgeblich die Leistungsfähigkeit umlagefinanzierter, sozialer Sicherungssysteme. Die Erwerbspersonenzahl wird durch die Generationennachfolge erhalten. Die Familie erfüllt insofern eine gesellschaftlich relevante Reproduktionsfunktion.« Hier wird der komplexe Zusammenhang zwischen staatlicher Sozialhilfe unter Kostendruck und Familien-, Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik deutlich.
Auch im öffentlichen Sektor finden wir die Maxime des Kostendrucks. So wird beispielsweise eine Gesundheitspolitik verfolgt, die sich daran bemisst, ob sie effizient und möglichst kostengünstig Arbeitskräfte »repariert«. Gesundheit wird zur Ware, Pflege wird auf das Minimum rationalisiert. Der gesamte Sektor des Gesundheitswesens muss sich aus Sicht des nationalen Kapitals daran messen, dass er möglichst günstig die Arbeitskraft wiederherstellt.
Gleichzeitig erleben wir in den letzten Jahren auch eine unmittelbare Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit durch privatwirtschaftliche, warenförmig organisierte Angebote. Die Privatisierung von Staatsfunktionen, etwa die Übernahme von öffentlichen Krankenhäusern, findet jedoch nur dort statt, wo das Kapital Profite erwartet. So reduzieren privatisierte Krankenhäuser die Liegezeiten und spezialisieren sich beispielsweise auf Knie- oder Hüftoperationen, da diese wie am Fließband profitabel abzuwickeln sind.
Bedeutung des Reproduktionssektors
Durch die prekäre Form der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit ist jedoch auch ein riesiger Wirtschafts- und Beschäftigungssektor entstanden. Schon heute arbeiten über eine Million Menschen in Krankenhäusern, darunter eine halbe Million Pflegekräfte. Hinzu kommen weitere 427.000 im stationären und 215.000 im ambulanten Pflegebereich sowie etwa 600.000 in der Altenpflege. 724.000 Beschäftigte arbeiteten im Jahr 2018 bundesweit in einer Kindertageseinrichtung. Zum Vergleich: In der Automobilindustrie, dem Schlüsselsektor der deutschen Industrie, waren 2017 ungefähr 820.000 Menschen beschäftigt.
Die Bedeutung des Reproduktionssektors wird weiter zunehmen. In keinem anderen Bereich ist das Beschäftigungswachstum größer. Gleichzeitig werden sich auch die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sowie auf die Reproduktionsbedingungen insgesamt weiter intensivieren, da Ökonomisierung und Rationalisierungsdruck stetig wachsen.
Die Tatsache, dass Reproduktionsarbeit zunehmend in Form von Lohnarbeit organisiert ist, gibt den Kämpfenden jedoch auch neue Machtmittel zur Hand. Das zeigen die Streiks in Krankenhäusern, Kitas oder im Reinigungsgewerbe. Hier tut sich also für die Gewerkschaften ein großes Feld auf, in dem zunehmend Konflikte zu erwarten sind. Die Klassenkämpfe in der hauptsächlich von Frauen getragenen Reproduktionssphäre haben zudem das Potenzial, den feministischen Kampf um Gleichberechtigung neu zu beleben.
Neue Widersprüche und Machtmittel
Die Theorie der sozialen Reproduktion zeigt uns, dass die Art und Weise, wie im Kapitalismus die Reproduktion strukturiert wird, Einfluss auf die Mehrwertrate hat. Das bedeutet, dass die Umstrukturierung des Sektors in marktkonforme Prozesse neue Widersprüche entstehen lässt. Arbeitskämpfe in diesen Bereichen rütteln an genau jenen Stellschrauben.
Das Spezifische an diesen Auseinandersetzungen ist, dass sich die Beschäftigten beim Streik oft in einer besonderen sozialen Situation befinden: Streiken sie, betrifft es zuallererst die Patienten, die Kinder, die Eltern usw. Dies bedeutet zum einen eine größere Hürde, in den Arbeitskampf zu treten, zum anderen aber auch ein Potenzial für die Solidarisierung der Bevölkerung, die auf jene Arbeiten angewiesen ist. Klassenkämpfe im Bereich der Reproduktion sind daher als gesellschaftliche Kämpfe zu führen – gegen ein kapitalistisches System, das selbst unsere elementaren Bedürfnisse der Profitmaximierung unterwirft, und für eine Gesellschaft, in der Fürsorge für andere und uns selbst nicht der Ausbeutung, sondern unserem Wohlbefinden dient.
Weiterlesen:
Ronda Kipka / Vincent Streichhahn (Hrsg.)
Kapital gegen Leben – Beiträge zur Theorie der Sozialen Reproduktion im Kapitalismus
2019
125 Seiten
EUR 8,50
Schlagwörter: Feminismus, Frauen, Frauenbefreiung, Frauenunterdrückung, Reproduktion