Liebe Leserinnen und Leser,
Im Jahr 1917 stürzten Arbeiterinnen und Arbeiter, Bäuerinnen und Bauern, und Soldatinnen und Soldaten die seit 450 Jahren despotisch herrschende Zaren-Monarchie und beendeten die russische Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Sie gründeten im ganzen Land Räte (»Sowjets«), verteilten das Land der Großgrundbesitzer unter der Bauernschaft und nahmen die Fabriken und Betriebe unter ihre demokratische Kontrolle. In der Armee wählten die Soldatinnen und Soldaten nun ihre Offiziere. Eine neue Regierung, der »Rat der Volksbeauftragten«, wurde gebildet. Die Bolschewiki, die spätere Kommunistische Partei, hatten darin die Mehrheit. Lenin war ihr Vorsitzender.
Diese Regierung ergriff zahlreiche Maßnahmen, die teilweise noch heute in vielen Ländern unerreicht sind – so zum Beispiel das Recht auf Abtreibung. Sie stärkte die Rechte der Frauen und der Homosexuellen sowie die aller nationalen und religiösen Minderheiten. Russland erfuhr eine ungeheure kulturelle Blüte. Textilarbeiterinnen gingen an die Universitäten, Soldaten besuchten die Theater und Bauern aus der Provinz lasen die klassische Literatur. Die Kunst der »Russischen Avantgarde« erlebte ihren Höhepunkt und das junge Medium Kino einen ersten Aufschwung.
Selten gab es in einem Land einen solch umfassenden gesellschaftlichen Aufbruch wie in Russland nach der Oktoberrevolution 1917. Das Land, das kurz zuvor noch in ganz Europa als »Hort der Reaktion« galt und das wirtschaftlich weit hinter Ländern wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien zurücklag, wurde binnen kürzester Zeit zu einer der freiesten Gesellschaften der Welt und inspirierte in den Folgejahren revolutionäre Bewegungen weltweit.
Dieser Aufbruch währte allerdings nicht lange. Ab Ende der 1920er Jahre entwickelte sich die junge Sowjetunion, wie sich das nachrevolutionäre Russland nannte, in ein Schreckensregime. Unter dem Diktator Joseph Stalin wurden Millionen Menschen verfolgt, in Lager gesteckt und getötet.
Die Revolution und ihr Niedergang polarisierte auch die Linke. Kaum ein anderes Thema hat in der Vergangenheit zu so leidenschaftlichen Diskussionen geführt.
Einige dieser Diskussionen nehmen wir in der hier vorliegenden Ausgabe des theorie21-Journals auf. Zwei Themen stehen bei uns im Mittelpunkt: Zum einen eine marxistische Analyse des historischen Ereignisses selber. Unsere Einführung von Mike Haynes nähert sich der Oktoberrevolution aus einer selten eingenommenen Perspektive: Er untersucht sehr konkret, welche anderen Möglichkeiten außerhalb der sozialistischen Revolution es überhaupt gegeben hätte, welche die geschundene Bevölkerung aus dem Schlachten des Ersten Weltkriegs und jahrhundertelanger Knechtschaft befreit hätten. Welchen politischen Kurs, welche Strategie bot die nach dem Sturz des Zaren an die Macht gekommene neue Regierung an, welche die nicht-bolschewistischen linken Kräfte? Der Artikel zeichnet so ein anderes Bild als die heute in Schulunterricht und bürgerlichen Darstellungen so beliebte Erzählung vom »Putsch der Bolschewiki«.
Im nächsten Beitrag stellt Katrin Schierbach anhand der Ausweitung der Demokratie, dem Kampf gegen Antisemitismus und den Fortschritten in der Befreiung der Frau einige verschüttete Errungenschaften der Revolution heraus. Zum Abschluss des historischen Teils verortet Jan Maas das Scheitern der Revolution und den Aufstieg Stalins und seiner Getreuen in den Kontext von Bürgerkrieg und völliger Zerrüttung des Landes. Die Dezimierung der Arbeiterklasse gepaart mit der Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Produktionsweisen ließ unweigerlich den politischen Einfluss der Arbeiter und Arbeiterinnen schwinden. Immer mehr ging die Macht von den demokratisch gewählten Arbeiterorganen an kommunistische Parteifunktionäre über. Mehr und mehr verschmolz der Parteiapparat mit dem Staatsapparat. Doch war diese Entwicklung zwangsläufig? Vieles spricht dagegen, und gerade deshalb lohnt die Analyse der konkreten Umstände, die zur Entartung der Russischen Revolution geführt haben.
Der zweite Teil des Heftes fragt nach der Relevanz der Erfahrungen aus dem revolutionären Prozess in Russland für sozialistische Politik heute. Tilman von Berlepsch untersucht die Gewerkschaftspolitik der Bolschewiki, immer mit einem Auge auf Inspirationen für die Arbeit von Sozialistinnen und Sozialisten in den Gewerkschaften heute. Lenin sagte, die Gewerkschaften seien »Transmissionsriemen der Partei in die Arbeiterklasse hinein«. War er damit Vordenker der autoritären Staatsgewerkschaften im Ostblock? Ein Missverständnis, meint unser Autor und geht den gewerkschaftspolitischen Überlegungen hinter Lenins Zuspitzung auf den Grund.
Robert Blättermann verknüpft die Darstellung von bedeutenden Kunstschaffenden der Revolution wie Sergei Eisenstein und Wladimir Majakoski mit einer allgemeinen marxistischen Reflexion über die Rolle und Funktion von Kunst im Kampf um Befreiung, damals wie heute. Der nächste Beitrag von Rhonda Koch und Kasper Ange nimmt das strategische »große Ganze« in den Blick: Die sofort nach der Russischen Revolution einsetzende sogenannte »Übertragbarkeitsdebatte«. Die Russische Revolution fand unter sehr spezifischen Bedingungen in einem vergleichsweise rückständigen Land statt. Dies warf sofort die Frage auf, was aus der russischen Erfahrung für Revolutionäre in weiter entwickelten kapitalistischen Gesellschaften hilfreich ist und was eher in die Irre führt. Führende Marxisten wie Lenin und besonders Antonio Gramsci haben sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ihre Antworten und deren Relevanz für revolutionäre Strategie im 21. Jahrhundert werden beleuchtet.
Den Abschluss bildet eine andere bis heute laufende Debatte: Die Bewertung des politischen Erbes von Lenin, der prägenden Figur der Russischen Revolution. Michael Brie fordert in einem kürzlich veröffentlichten Buch dazu auf, Lenin neu zu entdecken – Sebastian Zehetmaier folgt der Aufforderung und setzt sich in seiner Buchbesprechung mit Stärken und Schwächen von Bries Lenin-Darstellung auseinander.
Eure Redaktion
Inhaltsverzeichnis theorie21-Journal Nummer 7
Editorial
Chronologie der Russischen Revolution
Russland 1917: Gab es eine parlamentarische Alternative? Mike Haynes
Befreiung und Selbstbefreiung in der Russischen Revolution Katrin Schierbach
Aufstieg und Sieg des Stalinismus Jan Maas
Gewerkschaftspolitik der Bolschewiki Tilman von Berlepsch
Aus Farben wurden Keile: Kunst & Revolution Robert Blättermann
Wie gewinnen? Lenin, Gramsci und … wir Rhonda Koch und Kasper Ange
Das Erbe Lenins unter Stalins Schatten Sebastian Zehetmaier
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Schlagwörter: 1917, bolschewiki, Debatte, Lenin, marx21, Oktoberrevolution, Russland, theorie21