Liebe Leserinnen und Leser,
der russische Überfall auf die Ukraine und der seitdem eskalierende Krieg ist zu einem dominierenden Faktor der globalen Entwicklung geworden. Wir können zu Redaktionsschluss noch nicht absehen, welche Eskalationsschritte folgen. Der Einsatz von Atomwaffen ist seit langer Zeit wieder eine unmittelbare Gefahr.
Die Folgen des Krieges sind nicht nur für die Bevölkerung in der Ukraine verheerend. Die Weltwirtschaft steuert auf eine durch den Krieg beschleunigte Rezession zu. Die ökologischen Folgen werden dramatisch sein.
Rechte Kräfte nutzen die Angst vor den Folgen der Inflation, um sie auf ihre rassistischen und nationalistischen Bahnen umzulenken. Nicht nur in Deutschland erleben rechte Mobilisierungen einen Auftrieb. Der Wahlsieg der faschistischen Partei um Giorgia Meloni in Italien Ende September 2022 war ein deutliches Warnsignal.
Auch für das linke politische Lager ist die ›Zeitenwende‹, die Olaf Scholz und die Ampel-Koalition ausgerufen haben, eine Zäsur. Eine konservative Regierung hätte mit größerem Widerstand rechnen müssen, um das massive Aufrüstungspaket von 100 Milliarden Euro und den Export von schweren Waffen in einem laufenden Krieg durchsetzen zu können. SPD und Grüne erweisen sich nach der Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Kosovo und Afghanistan ein weiteres Mal als Taktgeber:innen für den deutschen Militarismus.
In der LINKEN hat der Krieg schwerwiegende Folgen. Die falschen Einschätzungen von Russland und seinem Imperialismus geben denen in der LINKEN Auftrieb, die zu Recht Russland kritisieren, aber zugleich die Kritik an der NATO und deren Imperialismus zurückstellen. In der LINKEN, geprägt durch den Dauerkonflikt mit Sahra Wagenknecht, nähert sich auch deswegen ein Teil des bewegungsorientierten Flügels den sogenannten Reformern wie Matthias Höhn oder Wulf Gallert, die eine Neuausrichtung der LINKEN in Fragen der Außenpolitik fordern und die Kritik an NATO und Bundeswehr abschwächen wollen.
DIE LINKE vertritt zwar mehrheitlich das Nein zu Waffenlieferungen, aber setzt stattdessen auf Sanktionen als scheinbar friedliche Alternative, auch wenn der Parteitag im Juni 2022 ebenfalls beschlossen hat, die Sanktionen abzulehnen, die der Bevölkerung schaden. Über den Charakter des Krieges als Stellvertreterkrieg und die Einordnung in die imperialistische Konkurrenz schweigt sich die Führung der LINKEN aber aus.
Somit könnte die Bruchlinie einer Spaltung mit Sahra Wagenknecht und ihrem Umfeld ausgerechnet die Kriegsfrage werden. Das wäre fatal sowohl für die Friedensbewegung als auch für die LINKE. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges sowie die fortschreitende Militarisierung der Außenpolitik machen eine starke LINKE nötiger denn je.
Die alten Konsense und Formelkompromisse in der LINKEN und Friedensbewegung halten nicht mehr. Wir brauchen eine Auseinandersetzung mit den politischen Fehlern der LINKEN und der Friedensbewegung in den vergangenen Jahren.
Die Stärke marxistischer Imperialismustheorie besteht darin, die komplexe Wirklichkeit zu erfassen, aktuelle Entwicklungen in ihrem systemischen Kontext globaler Konkurrenz zu verstehen und daraus eine nachvollziehbare politische Praxis abzuleiten. Verliert die LINKE diesen Anspruch, droht sie zur zahnlosen Kritikerin der Regierungspolitik zu werden.
Dieser Band aus der Reihe ›theorie21‹ ist ein Angebot an alle, die sich in die Diskussion über die Hintergründe und den Charakter des Krieges einmischen wollen, und die für eine Neuausrichtung der Friedensbewegung und der LINKEN auf einer antimilitaristischen und antiimperialistischen Grundlage streiten.
Im Fokus der aktuellen Debatte steht der Charakter des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, weil damit die Frage verbunden ist, ob der Westen – überhaupt und wenn ja wie – Partei ergreifen soll. Eine plausible Antwort, die versucht allen damit verbundenen Aspekten gerecht zu werden, ist die Voraussetzung, um im Kampf für den Frieden die Ursachen des Krieges in den Blick zu nehmen und zu bekämpfen. Nur dann wird es gelingen, auf lange Sicht erfolgreich zu sein und weitere Kriege zu verhindern.
Jürgen Ehlers geht deswegen zu Beginn der Frage nach, wie Sozialist:innen zum Recht auf nationale Selbstbestimmung stehen. Er begründet, warum es sich in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg handelt, der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird. Er zeigt in seinem Beitrag auf, wie eine Alternative für die Bevölkerung in der Ukraine aussehen kann, um sich der russischen Aggression zu widersetzen.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat eine Vorgeschichte, die den Einmarsch nicht rechtfertigt, aber erklärt. Rob Ferguson analysiert, welche Strategien Russland nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegenüber Osteuropa und der NATO verfolgte. Dabei richtet er den Blick auf die russische Innenpolitik und Russlands Interventionen in mehreren seiner Nachbarländer.
Lukas Sennecker ordnet den Krieg um die Ukraine in die globalen Verschiebungen seit 1990 ein. Er vertritt die These, dass es ein Zurück zur spannungsreichen Stabilität der Nachkriegszeit und ihrer Weltordnung nicht geben wird. Frieden und eine stabile Nachkriegsordnung kann es nur geben, wenn die Aufteilung von Rohstoffen, Arbeit und Wohlstand solidarisch und demokratisch geregelt wird.
Sascha Radl bewertet und ordnet die wichtigsten Theorien ein, die heute in der Diskussion um die Ursachen von Kriegen eine Rolle spielen. Dabei wird deutlich, dass es eine gefährliche Illusion ist, davon auszugehen, dass der Imperialismus nicht unmittelbar mit der kapitalistischen Konkurrenz zusammenhängt – eine Konkurrenz, die sich verschärft, wie die vorgenannten Artikel aufzeigen. Damit stellt sich immer drängender die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Bewegung aufzubauen, die weitere Kriege verhindern kann.
Stefanie Haenisch knüpft in ihrem Artikel daran an und begründet ihre These, dass die Friedensbewegung aufgrund ihrer politischen Schwächen, die sie analysiert, bisher tragischerweise daran scheiterte, eine relevante Bewegung gegen Aufrüstung und Krieg aufzubauen.
Ab dieser Ausgabe des theorie21 wird das jeweilige Schwerpunktthema durch Debattenbeiträge und Buchrezensionen ergänzt.
Debatte
Rosi Nünning setzt sich in ihrem Artikel über die Frauenarbeit in Mesopotamien mit den vielfältigen Rollen von Frauenarbeit bereits in der Frühzeit auseinander und greift damit ein in die gesellschaftliche Debatte über die Rolle von Frauenarbeit.
Buchrezension
Horst Haenisch rezensiert Harald Jähners Bestseller ›Wolfszeit – Deutschland und die Deutschen 1945 -1955.‹ Er kritisiert, dass die Geschichte Ostdeutschlands weitgehend fehlt und Jähners Glaube an eine durch Verdrängung und Vergessen geglückte Überwindung faschistischer Ideologien im Nachkriegsdeutschland blind vor den Gefahren ihres Überlebens und Wiedererwachens macht. Er vertritt die Auffassung, dass hinter Jähners Konzept der ›Mentalitätsforschung‹ ein nationalistisches, fast völkisches Geschichtsverständnis stehe.
Eure Redaktion
Inhaltsverzeichnis theorie21-Journal Nummer 7
Editorial
Der Kampf für nationale Selbstbestimmung Jürgen Ehlers
Russland, Imperialismus und die eurasische Bruchlinie Rob Ferguson
Vom Kalten Krieg zum heißen Krieg in Europa Lukas Sennecker
Kampf um die Ukraine: Konkurrierende Imperialismustheorien Sascha Radl
Antimilitarismus statt Friedenslogik Stefanie Haenisch
Debattenbeitrag Frauenarbeit in den ersten Zivilisationen Rosemarie Nünning
Buchbesprechung Die Deutschen: durch Verdrängung geläutert? Horst Haenisch rezensiert Harald Jähners »Wolfszeit«
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Schlagwörter: Antiimperialismus, Imperialismus, Krieg