Der Ruf nach Frieden, Entspannung, Diplomatie und Abrüstung wirkt erst einmal hohl, wenn die Panzer rollen – und doch bleibt er richtig, meint Florian Wilde
Wenn die Waffen sprechen, haben die Stimmen der Kriegsgegner:innen es schwer. In der Stunde der Eskalation hilft es uns wenig, dass wir über Jahre all die Schritte bekämpft haben, die in die Eskalation führten: Die NATO-Osterweiterung wie die russische Expansionspolitik wie die Aufrüstung aller Seiten. Nun, wo wir den Schlamassel des Krieges nicht haben abwenden können, ist der Druck enorm, voll auf ihn einzusteigen und sich für Waffenlieferungen, Aufrüstung und NATO-Bündnistreue auszusprechen. Der Ruf nach Frieden, Entspannung, Diplomatie und Abrüstung wirkt erst einmal hohl, wenn die Panzer rollen – und doch bleibt er richtig.
Krieg und der Druck auf Kriegsgegner:innen
So groß der Druck 1999 für eine Unterstützung des Kosovokrieges auch war und so schwer der Vorwurf auszuhalten war, wir würden uns so mitschuldig machen an den – angeblichen – Massakern an den Kosovaren: Es war richtig, den Krieg abzulehnen und auf den Sturz von Milosevic durch Massenproteste in Serbien zu setzen. So groß der Druck 2001 für eine Unterstützung des Afghanistan- und 2003 des Irakkrieges auch war und so schwer der Vorwurf aufzuhalten war, wir würden uns so mitschuldig machen am Al-Qaida-Terror: Es war richtig, die Kriege abzulehnen und auf den Sturz der Taliban und Saddam Husseins durch die Afghanen und Iraker selbst zu setzen. So groß der Druck 2011 für eine Unterstützung des Libyenkrieges auch war und so schwer der Vorwurf auch auszuhalten war, wir würden uns so mitschuldig machen am Terror Gaddafis gegen seine Bevölkerung: Es war richtig, den Krieg abzulehnen und auf einen Sturz des Regimes von unten zu setzen.
Die Kriege gebaren nur neue Schrecken
Die Geschichte hat uns nachträglich immer Recht gegeben. Die Kriege gebaren nur neue Schrecken. Selbst der vermeintlich erfolgreiche, völkerrechtswidrige, Angriffskrieg der NATO auf Serbien zur Herauslösung des Kosovo schuf die Vorlage zum jetzigen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zur Herauslösung des Donbass. Milosevic wurde tatsächlich durch Massenproteste gestürzt, nicht durch die NATO-Bomben. Saddam Hussein hätte die Massenproteste des Arabischen Frühlings nicht überlebt. Die Taliban säßen ohne den NATO-Krieg heute kaum noch in Kabul am Ruder. Und selbst wenn Gaddafi die Aufstände niedergeschlagen hätte – es hätte wohl weniger Schrecken für die Menschen in Libyen bedeutet als die Hölle auf Erden, in die der NATO-Krieg ihr Land verwandeln sollte.
Der Hauptfeind bleibt
Heute ist der Druck auf die linken Kriegsgegner:innen gewaltig, alle unsere Grundsätze über Bord zu werfen und sich hinter der eigenen Regierung, ihrer Aufrüstung ihren Waffenexporten und der NATO zu versammeln. Und doch bleibt es falsch. Insbesondere Deutschland, dass wie kein anderes Land die Schrecken des Krieges über die Menschheit gebracht hat, darf nie wieder Kriegspartei werden und auch weiterhin keine Waffen in Kriegsgebiete liefern.
Für deutsches Kapital und die Bundesregierung eröffnet der Ukrainekrieg eine ungeahnte Möglichkeit, alle Fesseln abzustreifen, die dem deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt wurden, und die schon seit Jahren immer weiter hochgerüstete Bundeswehr endgültig in eine kriegsfähige Armee umzuwandeln. Diesen Zweck dient das gigantische 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung, die künftige Erhöhung der Militärausgaben auf über 2 Prozent des BIP oder die geplante Anschaffung von Kriegsdrohnen. Dieser Aufrüstungspolitik müssen Linke in den Arm fallen.
Sturz aller herrschenden Klassen
Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung gegen den russischen imperialistischen Überfall, und sie würde auch ohne deutsche Beteiligung mehr als genug Waffen aus dem Westen geliefert bekommen. Aus ihr aber das Schlachtfeld eines großen Stellvertreterkrieges zu machen, wird das Leid der Menschen dort nicht lindern, aber die Menschheit insgesamt der Gefahr eines Atomkrieges dramatisch näherbringen. Sozialistische Kriegsgegner:innen kämpfen für eine Welt des Friedens und wissen, dass es eine solche nur durch den Sturz aller herrschenden Klassen und die internationalistische Überwindung der Nationalstaaten »von unten« geben kann. Diese Perspektive mag momentan noch unendlich weit weg und unrealistisch erscheinen. Aber noch viel unrealistischer ist die herrschende Perspektive, die die vom Klimawandel existenziell bedrohte Menschheit in eine Spirale aus Krieg und Aufrüstung stürzen will und direkt in eine nukleare Konfrontation zu münden droht, die die Menschheit sogar noch vor der Klimakatastrophe auslöschen könnte.
Trotz alledem!
Diverse russische Regime brachen im 20. Jahrhundert durch Massenproteste in Folge imperialer Kriege zusammen. Auf den russisch-japanischen Krieg folgte 1905 die erste russische Revolution. Auf den Ersten Weltkrieg folgte 1917 mit der Februar- und Oktoberrevolution der Sturz des Zaren und dann des Kapitalismus selbst. Der Unmut über den Afghanistankrieg leitete in den 1980ern unmittelbar in den Zusammenbruch der Sowjetunion über. Es ist ein keineswegs unwahrscheinliches Szenario, dass nun der Ukrainekrieg zum Sturz des Putinismus durch Massenproteste von unten führen und demokratische Bewegungen in anderen Ländern inspirieren wird. Zentral ist dafür die Unterstützung der linken und Anti-Kriegs-Opposition in Russland und allen kriegführenden Staaten. Dies muss die Perspektive sozialistischer Kriegsgegner:innen sein und bleiben. Trotz alledem.
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