Die marx21-Redaktion hat es geschafft, den vor achtzig Jahren verstorbenen Marxisten Antonio Gramsci für ein Interview zu gewinnen. Ein Gespräch über Trumps Amtsantritt, Hegemonie und die Aufgaben der Linken
marx21: Donald Trumps Rede zum Amtsantritt war eine Kampfansage. Er macht dort weiter, wo er im Wahlkampf aufgehört hat. Was sind deine Gedanken zur Amteinführung von Donald Trump?
Antonio Gramsci: Was wir brauchen ist Nüchternheit: Wir sollten nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und uns nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.
Bevor Donald Trump gegen die Demokratin Hillary Clinton gewann, hatte er schon gegen sämtliche Konkurrenten aus den Reihen der Republikaner gewonnen. Wie erklärst du dir den Aufstieg Donald Trumps?
Die politischen Parteien sind der Reflex und die Nomenklatur der Gesellschaftsklassen. Sie entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf, erneuern sich, je nachdem, ob die einzelnen Schichten der kämpfenden Gesellschaftsklassen Verschiebungen von wirklich geschichtlicher Tragweite unterliegen, ihre Existenz- und Entwicklungsbedingungen radikal verändert sehen, eine größere und klarere Bewusstheit ihrer selbst und der eigenen vitalen Interessen erwerben. An einem gewissen Punkte ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Klassen von ihren traditionellen Parteien. Die traditionellen Parteien in ihrer gegebenen Organisationsform, mit bestimmten, diese Partei bildenden, sie vertretenden und leitenden Menschen, werden nicht mehr als eigentlicher Ausdruck ihrer Klasse oder Klassenfraktion anerkannt.
Du sprichst von einer »organischen Krise« als Hintergrund eines solchen Prozesses – im Gegensatz zu den konjunkturellen Krisen, denen die Wirtschaft im Kapitalismus unterworfen ist. Mit dem Begriff »organische Krise« beschreibst du die Verdichtung verschiedener Krisenmomente zu größeren Widersprüchen und Konflikten, die offenlegen, dass das politische und wirtschaftliche System nicht so reibungslos funktioniert, wie es sonst den Anschein hat.
Ja, wenn solche Krisen auftreten, so wird die unmittelbare Situation delikat und gefährlich, weil das Feld den Lösungen durch Gewalt und der Tätigkeit dunkler Mächte überlassen wird. Ihr Ausdruck sind die charismatischen oder von der Vorsehung auserwählten Menschen.
In den USA spielt gerade Donald Trump die Rolle des charismatischen Führers. Doch wie kommt es überhaupt zu einer Krise, die Figuren wie ihn begünstigt?
Sie entwickelt sich, weil entweder die Führungsklasse in irgendeinem politischen Unternehmen einen Fehlschlag erlitten hat, wofür sie mit Macht den Konsensus (die Einwilligung, d. Red.) der breiten Massen erbat oder erzwang (…), oder weil breite Massen (…) schlagartig aus der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergehen (…).
Du nennst das die »Hegemoniekrise der Führungsklasse«. Kannst du den Begriff der Hegemonie genauer erklären?
Die »normale« Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit (…) getragen erscheint.
Der Zwangsapparat in den USA ist riesig. Polizei, Militär und Geheimdienste haben weitgehende Befugnisse. Aber du argumentierst, dass die Herrschaft in modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch Gewalt und Repression aufrechterhalten wird. Sie wird politisch so organisiert, dass die Einbindung wesentlicher Teile der untergeordneten sozialen Gruppen – du nennst sie die »Subalternen« – gewährleistet wird. Die Herrschenden integrieren die Beherrschten in ihre »Hegemonie«.
Richtig. Die Vorherrschaft einer sozialen Gruppe zeigt sich auf zwei Arten, als Beherrschung und als intellektuelle sowie moralische Führung. Eine soziale Gruppe ist dominant, wenn sie die gegnerischen Gruppen unterwirft und die verbündeten Gruppen anführt. Eine soziale Gruppe kann, ja muss sogar vor der Machtübernahme die Führung übernommen haben; wenn sie dann an der Macht ist (…) wird sie dominant, aber sie muss weiterhin führend bleiben.
Die Herrschenden müssen also, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, ihre Ideen, ihre Werte und Normen als führend durchsetzen. Für die USA ist vielleicht die Idee vom amerikanischen Traum ein ganz gutes Beispiel hierfür. Darin steckt ja die Akzeptanz von den Prinzipien der Konkurrenz, des Profitstrebens und des Wettbewerbs. Dieses Ideen sind von breiten Teilen der US-Gesellschaft im alltäglichen Selbst- und Weltverständnis aufgenommen worden und Teil des »Alltagsverstands«. Doch das Versprechen »Vom Tellerwäscher zum Millionär« ist aufgrund der realen Erfahrung von Armut, Arbeitslosigkeit und Abstieg für Millionen Menschen in den USA brüchig geworden. Können wir von einer Hegemoniekrise in den USA sprechen?
Ja. Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr »führend« ist, (…) bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.
Die Krise eröffnet also auch eine Chance für die Linke, mit antikapitalistischen Argumenten am Bewusstsein der Menschen anzuknüpfen?
Wie immer sich die Krise entwickelt, wir können nur eine Verbesserung der politischen Positionen der Arbeiterklasse erhoffen, nicht aber ihren siegreichen Kampf um die Macht. Die wesentliche Aufgabe unserer Partei besteht in der Eroberung der Mehrheit für die Arbeiterklasse. Die Phase, die wir durchlaufen, ist nicht die des direkten Kampfes um die Macht, sondern eine Übergangsphase zum Kampf um die Macht, eine Phase also der Agitation, der Propaganda, der Organisation.
Aber ist es nicht schon zu spät? Donald Trump hat radikale Projekte – und eine große Mehrheit in den parlamentarischen Vertretungen. Die Republikaner haben bei der US-Kongresswahl auch ihre Mehrheit im Senat behauptet. Trump hat also als zukünftiger Präsident dank der Mehrheiten in beiden Kammern gute Aussichten, seine politischen Vorhaben ohne große Gegenwehr durchzusetzen.
Manche heulen reuevoll, andere fluchen unanständig (…) Ich glaube, dass leben bedeutet, Partei zu ergreifen. (…) Gleichgültigkeit ist Apathie, ist Parasitismus, ist Feigheit, ist das Gegenteil von Leben. (…) Ich lebe, ich bin parteiisch. Deshalb hasse ich den, der nicht eingreift, ich hasse die Gleichgültigen.
Wie kann die Linke Partei ergreifen?
Gute Frage! Was kann man seitens einer Klasse, die die Erneuerung anstrebt, diesem gewaltigen Komplex von Schützengräben und Befestigungsanlagen der herrschenden Klasse entgegenstellen? Den Geist des Bruchs, das heißt die fortschreitende Aneignung des Bewusstseins der eigenen historischen Persönlichkeit, den Geist des Bruchs, der danach streben muss, sich von der führenden Klasse auf die potentiell verbündeten Klassen auszudehnen: all das erfordert eine komplizierte ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die richtige Kenntnis des Gebiets ist, dem die Menschenmassen zu entreißen sind.
Was bedeutet das für dich konkret?
Die erste Aufgabe unserer Partei besteht darin, dass sie sich ihrer historischen Mission entsprechend rüstet. In jeder Fabrik, in jedem Dorf muss es eine kommunistische Zelle geben, die die Partei (…) vertritt, die politisch zu arbeiten versteht, die Initiative hat.
Es muss deswegen noch gegen eine gewisse Passivität in unseren eigenen Reihen angegangen werden, gegen die Tendenz, die Reihen unserer Partei klein zu halten.
Wir müssen vielmehr eine große Partei werden, wir müssen versuchen, die größtmögliche Anzahl von revolutionären Arbeitern und Bauern an unsere Organisationen zu ziehen, um sie zum Kampf zu erziehen, um aus ihnen Organisatoren und Führer der Massen zu machen, um sie politisch anzuheben. (…) Es geht darum, die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen.
Über den Autor: Antonio Gramsci (1891-1937) war ein revolutionärer Sozialist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. Unter der faschistischen Herrschaft verbrachte er mehr als zehn Jahre im Gefängnis. In dieser Zeit entstanden seine berühmten »Gefängnishefte«. Ihnen sind zum größten Teil die Antworten auf unsere Fragen entnommen.
Interview von Jan Maas und Yaak Pabst
Schlagwörter: Analyse, Antonio Gramsci, Demokraten, Donald Trump, Hegemonie, Hegemoniekrise, Konsens, marx21, Marxismus, Republikaner, Sozialismus, Trump, US-Außenpolitik, USA