Die Aufgabe von Linken in der Türkei besteht darin, Wege zu finden, einen Keil zwischen die »islamistische« Regierung der AKP und die Arbeiterklasse zu treiben, die ihr anhängt. In diesem bereits vor dem Putschversuch erschienen Hintergrundartikel, liefert der in Istanbul lebende Sozialist Ron Margulies wichtige Argumente, die auch nach dem 15. Juli 2016 höchst aktuell sind.
Die Frage der Beziehung zwischen Sozialisten einerseits und Muslimen und islamischen Organisationen andererseits ist für den Westen und erst recht für die Länder des Nahen und Mittleren Ostens von höchster Bedeutung.
Keine Zugeständnisse an Islamfeindlichkeit
In Westeuropa und in den Vereinigten Staaten wird diese Frage sehr einfach beantwortet: Nach offizieller Ideologie sind Islam und Muslime das Übel der Welt. Muslime im Westen sind mit wenigen Ausnahmen arm und gehören der Arbeiterklasse an. Der Kampf gegen Islamophobie ist deshalb ein wesentliches Element des Kampfs sowohl gegen Rassismus als auch für die Einheit der Arbeiterklasse. Organisationen, die im Namen »des Antiklerikalismus«, »der Moderne«, »der Zivilisation«, »der Redefreiheit«, der »freien Meinungsäußerung« oder mit welchen Argumenten auch immer Zugeständnisse an Islamfeindlichkeit machen, begehen einen folgenschweren Fehler. Sie werden sich an der Seite des Staats gegen einen besonders armen Teil der Arbeiterklasse wiederfinden, an der Seite von Rassistinnen und Rassisten gegen einen Teil der zugewanderten Bevölkerung – gegen jene, die sich nicht verteidigen können und kaum organisiert sind. Solch eine Organisation wird nicht in der Lage sein, gemeinsame Kämpfe der Arbeiterklasse aufzubauen.
Die Linke und der Islam
All das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht. Einige linke Organisationen in Frankreich meinen, der Staat habe zu Recht das Tragen von religiöser Kleidung verboten – wie das Kopftuch. Sie begreifen nicht, dass es dabei nicht um Religion im Allgemeinen geht, sondern um den Islam, nicht um religiöse Symbole, sondern um islamische Kleidung, nicht darum, was französische Kinder und Jugendliche tun oder nicht tun, sondern was Mitglieder einer bestimmten Minderheit tun oder nicht tun. Es ging nicht um Antiklerikalismus, sondern um Rassismus. Das ist so offensichtlich, dass sich jede weitere Diskussion darüber erübrigen sollte, aber leider ist es nicht so. Das Thema bleibt uns erhalten, und das nicht nur in Frankreich.
Mir geht es hier aber nicht um den Westen, wo das Verhältnis zum Islam Gegenstand ausführlicher Debatten ist,i sondern um den Nahen und Mittleren Osten. Im Westen gemachte Fehler können durchaus ernsthafte Folgen andernorts haben, zum Beispiel wenn die muslimischen Migrantengemeinschaften in Frankreich sich von der Linken und von organisierter Politik abgestoßen fühlen.ii Im Nahen Osten können Fehler Tausende Menschen das Leben kosten, wie die Zerschlagung der iranischen Linken nach der Revolution von 1979 oder das heutige Ägypten zeigen. Die Frage ist auch, was passiert wäre, hätte das türkische Militär in der ersten Hälfte der 2000er Jahre Recep Tayyip Erdoğan gestürzt. Ich werde mich an dieser Stelle mit der Türkei beschäftigen, weil ich dieses Land am besten kenne und hier politisch aktiv bin. Die Parallelen insbesondere mit Ägypten sind jedoch, so hoffe ich, nicht zu übersehen.
Modernisierung der Türkei und der Ausschluss des Islams
Fast alle türkischen Bürger sind Muslime. Es gibt um die 60.000 (christlichen) Armenier, 20.000 Juden, unter 2.000 Griechen und eine noch kleinere Anzahl Assyrer und anderer Bevölkerungsgruppen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 75 Millionen. Wir könnten also meinen, dass der türkische Staat mit Muslimen kein Problem hat und umgekehrt die Muslime keine Probleme mit dem Staat haben. Das aber ist falsch.
Ein sehr großer Teil der türkischen Bevölkerung passte im Jahr 1923, als die Republik gegründet wurde, nicht in die Vorstellung von »guten« türkischen Bürgern, die die Gründungsväter des Staats hegten. Die neu geschaffene Türkei sollte ein Nationalstaat sein, modern, weltlich geprägt und westlich orientiert (diese drei Begriffe wurden faktisch synonym verwendet bezogen auf Mustafa Kemal Atatürk und seine Kameraden), und es sollte der sunnitisch-muslimische Nationalstaat der Türken sein. Angesichts der Tatsache, dass das Land auf den Trümmern des Osmanischen Reichs errichtet wurde und Heim einer multiethnischen, vielsprachigen, multireligiösen Bevölkerung war, die sich meist über Religion definierte, entsprach keine Bevölkerungsgruppe dem Idealbild der kemalistischen Kader. Ihnen schwebte ein Land vor bevölkert mit Leuten, die aussahen und lebten wie die Franzosen, und die führenden Kemalisten, einschließlich Kemal Atatürk selbst, kannten das Leben in Frankreich recht gut und hatten einiges davon gelernt. Die große kurdische Minderheit passte nicht in das Bild, weil sie nicht türkisch war; die alevitische Minderheit passte nicht, weil sie nicht sunnitisch war; und die kleineren christlichen und jüdischen Minderheiten, die weder türkisch noch muslimisch waren, passten schon gar nicht. Aber wie sah es mit der sunnitisch-muslimischen türkischen Mehrheit aus?
Der türkische Staat und die sunnitischen Muslime
Ich hielt einmal in Konya, einer Provinz in der Zentraltürkei, vor einer Versammlung von Delegierten von 350 islamischen Nichtregierungsorganisationen einen Vortrag über das Thema des friedlichen Zusammenlebens. Nachdem ich über das Elend gesprochen hatte, das der kemalistische Staat über die kurdischen, alevitischen und nichtmuslimischen Minderheiten gebracht hatte, ließ mir eine Frau eine handgeschriebene Frage überreichen: »Ich weiß nicht sehr viel darüber, was den Minderheiten in diesem Land angetan wurde, und ich habe noch einiges zu lernen. Aber du hast nichts darüber gesagt, was uns sunnitischen Muslimen angetan wurde.«
Ich muss zugeben, ich war einigermaßen überrascht. Bis dahin hatte ich keinen Gedanken an diese Frage verschwendet. Keine städtische, am Westen orientierte, nichtreligiöse Person, die wie alle anderen auch das kemalistische Schulsystem absolviert hat, stellte oder stellt sich diese Frage. Doch tatsächlich bestand auch die sunnitisch-muslimische Mehrheit den Test des kemalistischen Staats hinsichtlich »Modernität« und »bevorzugter Nationalität« nicht. Diese Muslime galten als zu religiös, zu »östlich«, zu »rückständig«, »ungebildet« und »schlecht gekleidet«, in »islamischer Dunkelheit und Ignoranz« lebend.
Atatürk und das Programm gegen den Islam
Mit Atatürk als faktischer Diktator begann der Einparteienstaat, sich die Bevölkerung nach eigenen Vorstellungen zu formen. Kurden sollen assimiliert werden (und später, als dieser Versuch scheiterte, wurde ihre Existenz geleugnet), die Aleviten wurden ignoriert (und viele im Jahr 1938 massakriert), und die Nichtmuslime wurden aus dem Land vertrieben. Was die sunnitische Mehrheit betrifft, so wurde ihr ein »Reformprogramm« zur Änderung ihrer Lebensweise aufgezwungen. Es wurden Gesetze erlassen, mit denen das Tragen des Fezes, der traditionellen Kopftracht, verboten wurde. Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt und der islamische Kalender durch den gregorianischen.
Ein Staatssymphonieorchester, ein Staatsphilharmonieorchester, eine Staatsoper und ein Staatsballett wurden gegründet und regelmäßig durch das Land geschickt, während das traditionelle türkische Musikinstrument, die Langhalslaute Saz, zeitweise im Staatsradio nicht mehr gespielt werden durfte. Fachbereiche zur Unterrichtung in traditioneller islamisch/osmanischer Kunst wie Kalligrafie, Illumination, das Spielen der Längsflöte Ney wurden an der Kunsthochschule und an der Istanbuler Universität geschlossen. Es wurde systematisch versucht, die Sprache zu »reinigen«, ihre zentralasiatischen und »wahrhaft türkischen« Wurzeln wiederzubeleben und sie von arabischen und persischen Wörtern zu säubern, deren Gebrauch als rückständig und reaktionär galt. Nach der offiziellen kemalistischen Darstellung war die Konversion der Türken zum Islam im 10. Jahrhundert ein Missgeschick und die 600 Jahre osmanischer Geschichte galten als Zeit islamischer Dunkelheit und des Stillstands.
Widerstand egal gegen welchen Aspekt dieses Programms der erzwungenen Verwestlichung wurde nicht geduldet. Wichtiger noch als spezifische politische Maßnahmen war jedoch die Tatsache, dass die große Mehrheit einer weitgehend bäuerlichen und tief religiösen sunnitischen Bevölkerung von dem politischen und öffentlichen Leben ausgeschlossen wurde. Die um die kemalistische Bürokratie herum versammelte städtische Elite blickte verächtlich auf sie herab und bevormundete sie. Keine Frau mit Kopftuch und kein Mann mit dem typischen Bart eines Gläubigen oder in Bauernkleidung wurde jemals auch nur in die Nähe der Hebel der Macht gelassen. Während dies immer eine unausgesprochene Regel war, gab es sogar Zeiten, in denen sie gesetzlich festgeschrieben wurde: Das Kopftuch war im öffentlichen Raum verboten und Frauen, die es trugen, durften noch bis vor Kurzem nicht im öffentlichen Dienst arbeiten oder zur Schule und auf die Universität gehen. Und dies in einem Land, in dem rund drei Viertel aller Frauen immer ihren Kopf auf die ein oder andere Weise bedeckt haben.
Reaktion der türkischen Linken
Der türkischen Linken war das nicht bewusst, und hätte sie es gewusst und sich dafür interessiert, hätte sie es wahrscheinlich begrüßt. Schon im Jahr 1925 schrieb Şefik Hüsnü, Führer der Kommunistischen Partei: »Die Türkei steht vor zwei Problemen: dem kurdischen Problem und dem Problem der religiösen Reaktion.« Die Linke spielte bis Ende der 1960er Jahre kaum eine Rolle, wurde danach aber eine relevante Kraft. Hüsnüs Schilderung der »zwei Probleme« blieben auch dann unveränderliche Lehrsätze vieler Linker. Der Ursprung dafür waren einerseits der Kemalismus und andererseits der Stalinismus. Das kurdische Problem galt als Bedrohung für die Integrität des Nationalstaats und das Problem des Islams galt als eine Hürde für die »fortschrittliche« Moderne.
In all den Jahrzehnten, in denen der kemalistische Staat erfolgreich jede politische Manifestation der kurdischen nationalen Bestrebungen und den islamischen Widerstand gegen die Verwestlichung unterdrückte, konnte die Linke so tun, als gebe es in ihrem Land weder Kurden noch Muslime. Zur nationalen Frage musste sie sich nicht äußern und auch nicht zur Religionsfreiheit, da dank dem kemalistischen Staat weder Kurden noch gläubige Muslime Protest dagegen anmelden konnten.
In meiner und der vorherigen Generation las die gesamte Linke die Tageszeitung Cumhuriyet (Republik), die als einzige Zeitung auch Nachrichten über Arbeiter und Gewerkschaften verbreitete. Diese Zeitung stand für die »aufgeklärte« weltliche Republik und gegen religiösen Obskurantismus, und wenn es darauf ankam, rief sie nach den Streitkräften, um das Erbe Kemal Atatürks zu verteidigen. Damals glaubten wir, das sei der Inhalt linker Politik, und viele Linke glauben das heute noch. Einige von uns störten sich vielleicht ein wenig an der übergroßen Begeisterung der Cumhuriyet für die Armee, aber sie war nach wie vor die Zeitung der Linken.
Der Islam betritt die politische Bühne
Der Ursprung von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) geht auf Necmettin Erbakan und seine Ende der 1960er Jahre gegründete Bewegung der Nationalen Sicht (Millî Görüş) zurück. Erbakan, ein in Deutschland ausgebildeter Ingenieur, war Vorsitzender des Bundes der Industrie- und Handelskammern, der das kleinere bis mittlere anatolische Kapital im Gegensatz zum Istanbuler Big Business repräsentierte. Er setzte auf schnelle Industrialisierung durch Staatsintervention, sprach für die Armen und die Arbeitslosen, stand für moralisch-nationalistisch-islamische Werte und bediente sich einer deutlich nationalistischen, antiimperialistischen und antisemitischen Sprache. Er wurde im Jahr 1969 als Mitglied der herrschenden konservativen Partei ins Parlament gewählt, verließ diese Partei im folgenden Jahr und gründete die Partei der Nationalen Ordnung.
Innerhalb eines Jahres wurde sie wegen klerikaler Aktivitäten als Bruch der in der Verfassung festgeschriebenen weltlichen (laizistischen) Ausrichtung des Staats verfolgt und verfassungsgerichtlich verboten. Als Begründung hieß es, sie habe gegen die »Prinzipien des laizistischen Staats und Atatürks Reformen verstoßen«. Im Laufe der folgenden 30 Jahre gründete er vier weitere Parteien, die jedes Mal wieder verboten wurden. Er und seine Parteien reizten den kemalistischen Staat und seine Verteidiger auf jede erdenkliche Weise. Selbst die Namen der Parteien — Selamet (Rettung), Refah (Wohlfahrt), Fazilet (Tugend) und Saadet (Glückseligkeit) —, die zwar nicht spezifisch islamisch, aber arabischen Ursprungs und etwas antiquiert waren, klangen für kemalistische Ohren sehr rückständig.
Erbakans Parteien erhielten zwar nur 5 bis 10 Prozent der Wählerstimmen, gelegentlich jedoch wirkte die parlamentarische Arithmetik zu ihren Gunsten und sie konnten bis Ende der 1990er Jahre immer wieder eine wichtige Rolle bei der Regierungsbildung spielen. Schließlich gewann Erbakans Wohlfahrtspartei bei den Kommunalwahlen im Jahr 1994 die Mehrheit in den Großstädten Istanbul und Ankara, und als nach den landesweiten Wahlen im Dezember Erbakan Ministerpräsident wurde, betrat der Islam die politische Bühne. In all den dunklen Kammern der Staatsmaschinerie schrillten die Alarmglocken, und die Militärs begannen bereits vom Tag eins an, auf den Untergang der Regierung hinzuarbeiten.
Tatsächlich hatte die Wohlfahrtspartei in Istanbul 25,2 Prozent der Stimmen erhalten (mit Erdoğan als Kandidat), in Ankara 31 Prozent und landesweit gerade einmal 21,4 Prozent. Das war keine islamisch-fundamentalistische Lawine. Es war ein Ausdruck der Zersplitterung der Mitte-rechts-Parteien und der Mitte-links-Parteien, die der Refah-Partei den Durchbruch ermöglichte. In dem Parteiprogramm stand nichts über Allah oder seine Engel, sondern es ging um wirtschaftliche Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut. Erbakans Regierung war eine Koalition mit einer konventionellen neoliberalen Partei, an deren Spitze mit Tansu Çiller, Wirtschaftsprofessorin an der Bosporus-Universität, eine durch und durch am Westen orientierte Frau stand. Sie wurde zur stellvertretenden Ministerpräsidentin ernannt. Nach den Koalitionsvereinbarungen sollten die Posten nach zwei Jahren getauscht werden.
Angst vor dem Islam an der Macht
Kurz gesagt gab es für Erbakan kaum eine Möglichkeit, die Türkei in eine islamische Republik zu verwandeln — er verfügte nicht über die notwendige soziale Basis, die Regierung unterstand nicht seiner Kontrolle und schon gar nicht kontrollierte er den Staat. Er machte große Sprüche, erging sich in symbolischen Gesten, sprach von großen und nicht umsetzbaren Projekten wie die »Islamischen Vereinten Nationen«, einen »Islamischen Gemeinsamen Markt« und eine »islamische Währung«, ließ seinen Worten aber keine Taten folgen. Er unterzeichnete sogar ein Abkommen mit Israel über die Zusammenarbeit der Rüstungsindustrien der beiden Länder, während er gleichzeitig gegen den Zionismus zu Felde zog, womit er bewies, dass Rhetorik die eine Sache und Staatsangelegenheiten eine andere sind.
Seine ersten Staatsbesuche als Ministerpräsident galten zwar dem Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien, doch diese Reisen waren, wie alles andere was er tat, bedeutungslos. Dennoch brach ein Sturm der Entrüstung in den Medien, in den Salons der Mittelschicht und den Büros der Stabschefs der Armee aus. Hohe Wellen schlug auch seine Einladung an die Führer der religiösen Orden und Bruderschaften, um mit ihnen in der Residenz des Ministerpräsidenten das Fastenbrechen zu begehen. Diesen Männer mit ihren Bärten und wehenden Roben auch nur auf der Straße zu begegnen, hätte die Generale und die Bürokraten äußerst irritiert. Sie mit dem Ministerpräsidenten in dessen offizieller Residenz zu sehen, war schlimmer als ein Albtraum und schien ein bewusster Schlag ins Gesicht der säkularen Republik zu sein.
Das Fass zum Überlaufen brachte der »Jerusalemabend«, der im Februar 1997 von der Gemeinde Sincan, einem Randbezirk Ankaras, veranstaltet wurde. Dies solle ein Solidaritätsabend für Palästina aus Protest gegen die israelische Besetzung Jerusalems sein. Es gab scharfe Reden, ein Theaterstück wurde von einer Laiengruppe aufgeführt und der iranische Botschafter gehörte zu den Gästen. Angesichts der Sympathien in der Türkei für den palästinensischen Befreiungskampf ließe sich dies als ein normaler Vorgang bezeichnen. Stattdessen fuhren vier Tage später zwanzig Panzer und fünfzehn Panzerfahrzeuge ohne ersichtlichen Anlass in den Straßen Sincans auf. Da die Armee in den vorangegangenen vier Jahrzehnten bereits dreimal die Macht ergriffen hatte, wussten jedoch alle im Land, was die Panzer in den Straßen zu bedeuten hatten.
Drei Wochen später hielt der Nationale Sicherheitsrat eine neunstündige Sitzung ab, an deren Ende er bekräftigte, Hüter der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu sein. Er händigte der Regierung ein Memorandum aus, in dem gefordert wurde, die Gesetze des Laizismus durchzusetzen, religiöse Bruderschaften gesetzlich zu verbieten, Korankurse strikter zu kontrollieren, antikemalistische Aktivitäten zu bestrafen, die Medien unter Aufsicht zu stellen, damit sie die Streitkräfte nicht weiter als antireligiös darstellten, Offiziere zu verteidigen, die als »Reaktionäre« aus der Armee entlassen worden waren, und einiges mehr.
Die Armee zeigt ihre Macht gegen die AKP
Die Regierung Erbakan überlebte bis Juni, war aber faktisch machtlos. Der Generalstab hielt Lagebesprechungen für Journalisten, Vertreter der Justiz und Wissenschaftler in seinen Hauptquartieren ab und es wurde eine Verleumdungskampagne gegen Personen der Regierung und Religionsvertreter entfesselt. Niemand bezweifelte, dass ein Putsch bevorstand, wenn die Regierung nicht freiwillig abträte.
Die Regierung entschied sich dafür abzudanken, und das Datum des Memorandums, der 28. Februar, ging als Begriff in die Sprache ein so wie frühere Militärputsche: 27. Mai (1960), 12. März (1971) und 12. September (1980). Dieses Datum grub sich in das Bewusstsein der politisch bewussten Muslime ein, die — egal ob sie Erbakan gewählt hatten oder nicht — wussten, dass die herrschenden Eliten sie erneut aus dem politischen Leben des Landes verdrängt hatten.
Erbakans Aufstieg und Sturz zwang die Linke zum ersten Mal, sich zur Frage des Islams zu verhalten. Da sie den Wahlerfolg Erbakans als Sieg der »Reaktion« begriffen hatten, konnten die meisten Organisationen der Linken (und alle kemalistischen Organisationen hielten sich für Linke) ihre Freude kaum verhehlen, als diese Regierung von den Militärs gestürzt wurde. Die seinerzeit beliebte Parole »Weder die Regierung, noch die Armee« mag gut klingen, aber wenn die Regierung soeben von einer Gruppe nicht gewählter bewaffneter Militärs aus dem Amt gejagt wurde, sind das nur Worthülsen.
Die Regierung der AKP und ihre Wählerschaft
Der Erfolg der Armee bei der Verteidigung des kemalistischen Erbes war kurzlebig. Recep Tayyip Erdoğan und seine Anhänger brachen mit der Wohlfahrtspartei und gründeten im Jahr 2002 die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Innerhalb weniger Monate kam sie mit 34 Prozent der Stimmen an die Macht und stellte dank der Launen des Wahlsystems 66 Prozent der Abgeordneten.
Diese Regierung war und ist eine, die sich nur schwerlich als islamistisch bezeichnen lässt, abgesehen von ihrem Ursprung in der islamischen Tradition. Sie vermied sehr bewusst selbst den von Erbakan so gepflegten islamischen Symbolismus und beschäftigte sich erst nach Jahren mit solch grundsätzliche Fragen wie dem Verbot des Kopftuchs für Frauen an Universitäten. Was der Wahl der AKP folgte, war dennoch bemerkenswert: Der Apparat des kemalistischen Staats, vom Generalstab bis zu den Schattenorganisationen des »tiefen Staats«, trat in Aktion, brütete detaillierte Pläne für eine militärische Machtübernahme aus, mobilisierte die westlich orientierte, gebildete und säkulare Mittelschicht gegen die Regierung und schuf sich auf diese Weise eine soziale Basis für eine Machtübernahme.
In den wohlhabenderen Bezirken der Großstädte und der Küstenregionen verbreitete sich Alarmstimmung angesichts eines fein abgestimmten Aufschreis über den nahenden Untergang: Die Einführung der Scharia, die Verschleierungspflicht für Frauen und den Rückfall in ein dunkles Zeitalter. Die Schlagzeile der Cumhuriyet in einer dem Arabischen ähnlichen Schrift lautete im Jahr 2006: »Erkennst du die Gefahr?« Damit fasste sie den Inhalt der Kampagne zusammen und heizte die Stimmung gleichzeitig weiter an.
Während der Staat und die »weiße türkische« Mittelschicht sich gegenseitig in einen islamfeindlichen Taumel der Angst und des Aktivismus versetzten, stellt sich die Frage, wer die AKP überhaupt gewählt hat. Ohne in die geografischen Einzelheiten zu gehen, die den nicht türkischen Lesenden wenig sagen, lässt sich feststellen, dass die AKP überwiegend aus städtischen und mehrheitlich armen Gegenden des Landes Unterstützung erhielt und weiterhin erhält (selbst in den kurdischen Provinzen, wo die Regierung im Allgemeinen schlecht abschneidet). Das zeigt sich am deutlichsten in Istanbul und Ankara, wo die Gemeinden der Oberschichtbezirke alle von der angeblich sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert werden, und alle anderen von der AKP, die den höchsten Stimmenanteil in den ärmsten Bezirken verzeichnen kann. Industrie- und Arbeiterklassenbezirke waren und sind AKP-Hochburgen.
Pläne für einen Putsch gegen Erdoğans AKP
Während der Feldzug zur Destabilisierung und Diskreditierung der Regierung Fahrt aufnahm, sickerten Pläne für mehrere Staatsstreiche durch. Am entlarvendsten waren Tagebücher des Stabschefs der Marine, die der Öffentlichkeit zugespielt wurden und im Internet frei zugänglich waren. Hier zeigte sich, dass die obersten Generale kaum etwas anderes diskutierten als die Frage, wie die gewählte Regierung gestürzt werden könnte. Was sie davon abhielt, war die Schwierigkeit, sowohl im In- als auch im Ausland den Sturz einer populären Regierung zu rechtfertigen, die nichts Illegales oder Verfassungsfeindliches getan hatte. Deshalb schmiedeten sie Pläne, um den Anschein ihrer Verfassungsfeindlichkeit zu erwecken. Einer dieser Pläne namens »Schmiedehammer« sah vor, nichtmuslimische Personen der Öffentlichkeit zu ermorden, um dies dann einer »islamistischen« Regierung in die Schuhe zu schieben. Auch war die Abhaltung von Massenversammlungen »zur Verteidigung der Republik« geplant, die die Armee aufrufen sollten, »ihre Pflicht« zu tun.
All das änderte nichts an der allgemeinen Zustimmung zur AKP, ganz im Gegenteil. Nachdem die frisch gegründete AKP im Jahr 2002 34,3 Prozent der Stimmen erhalten hatte, erhielt sie in den landesweiten Wahl der Jahre 2007 und 2011 bereits 46,6 Prozent und 49,8 Prozent, im Juni 2015 sank ihr Stimmenanteil auf 40,9 Prozent und erholte sich wieder mit 49,5 Prozent im November. In dieser Zeit blieb der Stimmenanteil der CHP fast unverändert bei 25 Prozent. Ganz offensichtlich waren sich die AKP-Wähler der angeblichen Gefahr nicht bewusst.
Woher kommt der Erfolg der AKP?
Die Geschichte des Übergangs der AKP von einer Partei mit sehr begrenzten und nur zögerlich umgesetzten Reformansätzen zu einer zunehmend autoritären, geführt von einem Mann mit einem Hang zu diktatorischer Herrschaft, ist nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. Während viele große Hoffnung in diese Partei setzten, war ihre Entwicklung tatsächlich nicht besonders überraschend. Immerhin steht sie nicht nur in einer islamistischen Tradition, sondern ist auch sozial und wirtschaftspolitisch zutiefst konservativ, stark nationalistisch und nicht besonders demokratisch. Der von der AKP eingeschlagene Weg erfordert keine besondere Erklärung.
Erklärungsbedürftig ist hingegen Folgendes: Diese Partei ist seit 14 Jahren im Amt, erhielt 40 bis 50 Prozent der Wählerstimmen in vier Parlamentswahlen und das, obwohl sie im letzten Drittel ihrer Amtszeit eine mehr als verwerfliche Politik betrieben hat. Sozialisten, die eine effektive Opposition gegen diese Regierung aufbauen wollen, müssen sich dieser Frage stellen.
Die Linke hat eine Reihe oberflächlicher Erklärungen, wobei ich »die Linke« im weitesten Sinne meine, von der überzeugt kemalistischen CHP, die sich selbst für sozialdemokratisch hält, bis zurradikalen Linken. Die simpelste Erklärung lautet, dass die AKP zur Wahlbestechung gegriffen hat: sie gab kostenlos Lebensmittel, Kohle für die Heizung oder Waschmaschinen aus. Eine ähnlich bequeme Erklärung lautet, dass die AKP die Wahlen fälscht, indem sie Wahlzettel verschwinden und ihre Mitglieder mehrfach wählen lässt. Einiges davon geschieht hier und dort tatsächlich, aber ist das die Erklärung für 23 Millionen Wähler? Sind die Leute so dumm und gedankenlos?
Eine andere Erklärung, die insbesondere bei den CHP-Mitgliedern beliebt ist, lautet, dass AKP-Wähler tatsächlich dumm, fehlgeleitet und ungebildet sind, weshalb sie nicht erkennen können, was »gut« für sie ist und was Kemal Atatürk für ihr Land getan hat. Diese offensichtlich elitäre Vorstellung nach dem Motto »Diese Leute verdienen die Regierung, die sie haben« ist ein deutliches Beispiel für die Verachtung, die die Mittelschicht für die Armen und Arbeiterinnen und Arbeiter empfindet, und sie wird gelegentlich sehr offen von den weniger klugen CHP-Politikern und Journalisten geäußert.
Andere Antworten auf den Erfolg der AKP
Tatsächlich gibt es zwei wesentliche Erklärungen für die bemerkenswerte Popularität der AKP. Die eine liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung: In den ersten fünf Jahren der AKP-Regierung, in den Jahren 2003 bis 2007, lag das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts laut Weltbank bei 5,3 Prozent, 9,4 Prozent, 8,4 Prozent, 6,9 Prozent und 4,7 Prozent. Zwei Jahre nach der Weltwirtschaftskrise erholte sich die Wirtschaft erstaunlich schnell mit Wachstumsraten von 9,2 Prozent, 8,8 Prozent, 2,1 Prozent, 4,2 Prozent und 2,9 Prozent in den Jahren 2010 bis 2014. Es gab zwar eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstum seit dem Jahr 2012, in der Zeit von 2003 bis 2014 lag das Wirtschaftswachstum der Türkei im Durchschnitt aber bei 4,7 Prozent jährlich, während der Weltkapitalismus sich in der zweiten Hälfte dieser Periode in einer tiefen und langanhaltenden Krise befand. Wie viel dieser Wirtschaftsleistung auf den Eingriff der Regierung in die Ökonomie zurückzuführen ist und wie viel auf Glück und externe Faktoren, kann ich hier nicht ausführen. Die Bevölkerung hatte jedenfalls das Gefühl, dass es ihr insgesamt gut ging angesichts der ökonomischen, aber auch politischen Stabilität seit dem Jahr 2002. Wir sollten nicht vergessen, dass an der Spitze der Türkei in den vorangegangenen 30 Jahren instabile und oft nur kurzlebige Koalitionsregierungen (oder die Armee) standen. Im Gegensatz dazu erschien die Herrschaft der AKP zweifellos in der ersten Hälfte ihrer Regierungszeit stabil, solide und ohne politischen Zwist zu verlaufen, nicht nur in den Augen der einfachen Leute, sondern auch in denen des Großkapitals. Die Regierung spielte ihre Karten gut aus, ging vorsichtig vor, vermied die Konfrontation mit ihren Gegnern und machte einen Rückzieher, wenn eine ihrer Maßnahmen zu heftige Gegenwehr auslöste.
Die AKP und der Kampf gegen den Kemalismus
Der zweite und vielleicht noch wichtigere Grund für die andauernde Beliebtheit der AKP liegt darin, dass ihre Wählerschaft, rund die Hälfte der Bevölkerung, gläubige Muslime sind, die nach 80 Jahren Kemalismus erleichtert aufseufzten, sich sehr gut an die Vergangenheit erinnerten und keine Wiederholung wünschten. Der Sturz der Regierung Erbakan am 28. Februar 1997 und der Rückschlag gegen die Muslime im öffentlichen Leben waren noch in frischer Erinnerung. Die noch längere Geschichte des Ausschlusses, der Demütigung, Herabsetzung und Unterdrückung hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Muslime eingegraben. Egal wie sie zu dieser oder jener Maßnahme der AKP stehen mögen, nehmen sie für sich wahr, dass seit dem Jahr 2002 der Druck nachgelassen hat und sie ihre Religion nicht verstecken müssen. Sie fühlen sich nicht mehr wie Ausgestoßene und zu politischer Passivität Verurteilte. Sie fühlen sich gestärkt, da Leute wie sie, die denken und sprechen wie sie, jetzt in der Regierung sind.
Opposition zur AKP
Die Linke hat all das nicht begriffen. Insbesondere in den Anfangsjahren galt die Kritik der Linken an der Regierung nicht ihrer konservativen Sozialpolitik und dem neoliberalen Wirtschaftsprogramm, sondern sie konzentrierte sich auf Widerstand gegen die angeblich »islamistische«, »antiaufklärerische«, »antirepublikanische«, »antimoderne«, »reaktionäre« Natur der Regierung. All diese Adjektive kannten die muslimischen Wähler schon aus der kemalistischen Propaganda. Die Symbole der CHP-Opposition, um die sich die Mittelschicht scharte, waren Porträts Kemal Atatürks und die türkische Fahne, die wieder einmal den säkularen Staat und die offizielle Ideologie repräsentierten.
Während die radikale Linke diese Bilder weniger offen benutzte, gab es zwei der sichtbareren Organisationen der Linken, die Kommunistische Partei und die ehemalige Maoistische Arbeiterpartei (die sich kürzlich und durchaus angemessen in Mutterlandspartei umbenannt hat), die unverbrüchlich an Kemal Atatürk und der Republik festhielten. Die KP argumentierte, »die Errungenschaften der Republik« müssten verteidigt werden, während die Mutterlandspartei die Anwendung »kemalistischer Gesetze« forderte, womit sie meinte, dass die Führung der Islamisten gehängt werden sollte.
Bereits im Jahr 2007, als die Regierung der Justiz grünes Licht gab, Offiziere und Zivilisten, die an der Verschwörung zur Machtübernahme der Militärs beteiligt waren, strafrechtlich zu verfolgen, und als Dutzende Generäle und andere Personen verhaftet wurden, behauptete die gesamte Linke, sie seien zu Unrecht beschuldigt worden. Die CHP und die Mutterlandspartei organisierten Demonstrationen unter einem Meer türkischer Fahnen vor dem Gefängnis, in dem die Generale einsaßen. Viele Linke behaupteten, die ganze Sache sei eine Verschwörung der AKP oder imperialistischer Kräfte, oder die AKP handele als Werkzeug der Imperialisten und beraube die militärischen Hüter der Republik ihrer führenden Köpfe, um den türkischen Staat zu schwächen. Niemand schien es etwas eigenartig zu finden, die türkische Armee als antiimperialistische Kraft darzustellen.
Alles was diese Opposition sagte und tat, musste den AKP-Wählern sehr bekannt vorkommen, erinnerte sie daran, warum sie ursprünglich diese Regierung gewählt hatten, und sahen in ihr eine Bedrohung und Warnung, was passieren würde, wenn ihre Regierung stürzte. Das trieb der AKP Wählerinnen und Wähler zu und deshalb erfreut sie sich weiterhin großer Zustimmung. Deshalb gelang es der CHP auch nicht, mehr als 25 Prozent der Wähler zu erreichen, obwohl die Regierung in große Schwierigkeiten geraten ist. Und deshalb geriet die Linke immer mehr ins Abseits, weshalb viele ihrer Organisationen sich wiederholt spalteten.
Die Linke und die Wählerschaft der AKP
Die Unfähigkeit eines Großteils der Linken zu begreifen, warum die Arbeiterklasse die AKP wählte, und die Annahme, sie täte dies, weil sie dumm und reaktionär sei, führte dazu, dass die Linke zunehmend politisch unbedeutend wurde, gerade bei den Leuten, die ihre natürliche Anhängerschaft sein müssten.
Ich erlaube mir festzuhalten, was offensichtlich ist, aber meist vergessen wird: Muslime sind nicht nur Muslime. Sie sind menschliche Wesen, die in einer realen Welt mit materiellen Zielen, Sorgen und Interessen leben. Sie sind reich oder arm, Mitglieder einer parasitären Königsfamilie oder Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie machen profitable Geschäfte mit westlichen Konzernen oder ducken sich unter westlichen Kampfflugzeugen, die Bomben über ihnen abwerfen. Warum Leute, die an einen bestimmten Gott und an eine bestimmte Religion glauben, und die ihren Glauben praktizieren wollen, ohne dafür verfolgt zu werden, als unvermeidlich reaktionär oder konservativ angesehen werden sollten, ist schwer zu begreifen — außer im Licht des kemalistischen und stalinistischen Dogmas.
Die marxistische Theorie lehrt uns das jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil. Friedrich Engels schrieb zum Beispiel: »[…] das Christentum [war] im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft.«iii
Karl Marx nannte Religion nicht nur »Opium des Volkes«, sondern auch den »Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist«.iv
Wenn die Emanzipation der Arbeiterklasse, wie Marx ebenfalls sagt, das Werk der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst sein muss, dann können sich Sozialisten den Luxus nicht leisten, die Arbeiterklasse für zu religiös und nicht modern und aufgeklärt genug zu halten. Die Arbeiterklasse fallenzulassen und sie mit einer genehmeren Klasse zu ersetzen, ist keine realistische Option.
Die inneren Widersprüchen der AKP-Herrschaft
Die Aufgabe von Sozialisten in der Türkei besteht darin, Wege zu finden, einen Keil zwischen die »islamistische« Regierung (oder bezüglich des Nahen Ostens die Führung einer islamistischen Organisation) und die Arbeiterklasse zu treiben, die ihr anhängt. Das ist keine so schwierige Aufgabe. Islamistische Regierungen sind nicht nur Islamisten. Soweit sie keine gefestigte Diktatur sind, handelt es sich ausnahmslos um konservative, neoliberale, mehr oder weniger repressive Verwalter der Interessen einer herrschenden Klasse und sie haben nicht die Möglichkeit (oder das Bedürfnis), die Hoffnungen und Forderungen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu erfüllen. Als Islamisten mögen sie in bestimmen Fällen — wie in der Türkei — von der Bevölkerung bevorzugt werden, aber dieser Zustand ist nicht konflikfrei.
Die AKP-Regierung leidet unter denselben inneren Widersprüchen wie die ägyptische Regierung unter dem inzwischen gestürzten Mohammed Mursi. Sie vertritt die Interessen des türkischen Kapitalismus und vollzieht die ihm dienende Politik des Neoliberalismus, während sie von der Arbeiterklasse und den städtischen Armen unterstützt wird, deren eigentliche Interessen dem zuwiderlaufen. Opposition zu der Regierung auf Grundlage ihres »Islamismus« dient nur dazu, über die Widersprüche zwischen ihr und ihrer armen Arbeiterbasis hinwegzugehen und festigt nur die Bande zwischen ihnen. Der Widerspruch scheint dann einer zwischen Islamisten und Antiklerikalen zu sein und Klassenunterschiede werden in den Hintergrund gedrängt.
Die vergangenen drei Jahre waren für die AKP-Regierung sehr schwierig. Angesichts von Korruptionsvorwürfen, die von vielen für berechtigt gehalten werden, setzte sie rechtsstaatliche Verfahren außer Kraft und wütete im Justizbereich. Sie hat das Recht auf freie Meinungsfreiheit verhöhnt, die Polizei gegen jedes Anzeichen von Opposition eingesetzt, eine Reihe großer Streiks per Verfügung »ausgesetzt«, insbesondere den der Metallarbeiter Anfang 2015. Ihre Nahostpolitik ist ein Scherbenhaufen und sie hat den Krieg gegen die kurdische Bewegung wieder aufgenommen.
Das Gefühl nationaler Stabilität und des Wohlergehens der früheren Jahre sind nur noch eine vage Erinnerung. Infolgedessen verlor die AKP ein Fünftel ihrer Wählerschaft bei den unentschieden ausgegangenen Wahlen im Juni letzten Jahres, als ihr Stimmenanteil von 50 Prozent im Jahr 2011 auf etwa 40 Prozent sank. Bei der zweiten Wahl im November konnte sie einen Teil der Verluste wieder wettmachen, aber nicht, weil die Wähler, die sie im Juni verlassen hatten, sich plötzlich wieder für sie begeistert hätten. In ihrem Wahlkampf vor den Novemberwahlen stellte sie sich als Partei des Friedens und der Stabilität dar und betonte die Notwendigkeit, eine ineffektive Koalitionsregierung zu vermeiden. Das funktionierte, da die Bevölkerung überzeugt von einer starken und stabilen Regierung war zu einer Zeit, da das imperialistische Eingreifen den Nahen Osten wieder zu einem Pulverfass machte und der Krieg im türkischen Kurdistan wieder entfacht wurde.
Wer die AKP in der Hoffnung auf Frieden und Stabilität gewählt hat, wird jetzt noch besorgter und unglücklich sein über die Politik der Regierung. Der Krieg in Kurdistan kostete bereits 6.000 Menschen das Leben, die Beziehungen mit Russland bewegten sich kurzzeitig fast auf einen Krieg zu, fast schien ein direktes Eingreifen in den Krieg in Syrien auf der Tagesordnung zu stehen, die Tourismusindustrie ist zusammengebrochen und Präsident Erdoğan scheint im Inland wie international auf Konfrontationskurs gegangen zu sein. Dafür haben die meisten seiner Wähler nicht gestimmt. Jene, die der AKP im Juni den Rücken kehrten und im Oktober zurückkamen, werden besonders unglücklich sein, aber selbst diejenigen, die im Juni fest an der Seite der Regierung standen, können nicht zufrieden sein. Sie könnten für eine andere Politik gewonnen werden, aber nicht von einer Partei, die auf sie herabblickt und ihre Religion als Problem ansieht.
Niemand, der sich im vergangenen Juni von der Regierung abwandte, wählte stattdessen die CHP. Und diese Wähler würden es auch heute nicht tun. Sie warten immer noch auf eine Alternative, die sie nicht als undifferenzierte Masse islamischer Reaktionäre sieht, sondern sich um ihre wahren Probleme, Sorgen und Hoffnungen kümmert.
Zum Text: Der Artikel wurde zuerst auf Englisch am 22. Juni 2016 bei International Socialism veröffentlicht. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Über den Autor: Ron Margulies ist Journalist und Mitglied der Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (DSIP) in Istanbul, Türkei
i Davison, Kate, „Atheism, Secularism and Religions Freedom: Debates within the German Left“, International Socialism 150, London, Frühjahr 2016.
ii Wolfreys, Jim, 2015, „After the Paris Attacks: An Islamophobic Spiral“, International Socialism 146 (spring), http://isj.org.uk/after-the-paris-attacks
iii Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Urchristentums, MEW Band 22, Berlin 1972, S. 449.
iv Marx, Karl, Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie, MEW Band 1, Berlin 1976, S. 72.
Schlagwörter: AKP, Analyse, Islam, Islamfeindschaft, Islamomophobie, Linke, marx21, Militär, Putsch