Ausnahmezustand, Massenverhaftungen, Anschläge, Korruption und Krieg: Nicht erst seit dem Putschversuch im Juli 2016 steht die Türkei Kopf. Aber wer denkt, dass Erdogan fester im Sattel sitzt denn je, täuscht sich. Von Erkin Erdogan
Der Putschversuch stellte die bei weitem größte politische Krise für die regierende konservative AKP und ihren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan dar. Die Regierung konterte mit drakonischen Maßnahmen. Seit dem 20. Juli gilt in der Türkei ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Erdogan kann als Staatspräsident per Dekret regieren. Es folgte die größte »Säuberungswelle« in der türkischen Geschichte: Zehntausende wurden verhaftet, entlassen, suspendiert oder mit Ausreiseverbot belegt. Mehr als 130 regierungskritische Medienhäuser wurden geschlossen, darunter mehrere Fernsehsender und Radiostationen, 45 Zeitungen, 29 Buchverlage und 15 Magazine. Und die Angriffe auf die Pressefreiheit und Oppositionelle gehen weiter. Anfang November verhaftete die Regierung Erdogan Abgeordnete der linken Oppositionspartei HDP, unter ihnen auch die Vorsitzenden der Partei Selahattin Demirtas und Figen Yüksekda. Gleichzeitig setzt die Regierung den Krieg gegen die kurdische Minderheit im Osten mit aller Brutalität fort. Mit dem Einmarschbefehl für die türkische Armee in Syrien mit dem Namen »Schutzschild Euphrat« ist sie auch dort zur Kriegspartei geworden.
Wohin steuert Erdogan?
Welche Bedeutung haben die Ereignisse für das politische System der Türkei? Der Politikwissenschaftler Burak Copur erklärte gegenüber dem »Spiegel«: »Faktisch ist die Türkei eine Diktatur«. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk meinte gegenüber der italienischen Zeitung »La Repubblica«: »Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime«. Manche sehen die Türkei sogar »auf dem Weg in den Faschismus«, wie die Abgeordnete der LINKEN Sevim Dagdelen. Klar ist: Nach dem Putschversuch befindet sich die Regierung Erdgans in der Offensive. Aber ist die Türkei wirklich auf dem Weg zu einem faschistischen Staat?
Auf dem Weg in den Faschismus?
Das Vorgehen der Erdogan-Regierung ist ohne Zweifel demokratiefeindlich und Ausdruck eines autoritären Regimes. Aber sie ist nicht die einzige demokratisch gewählte Macht, die den Ausnahmezustand ausgerufen hat und per Dekret regiert: In den USA herrscht seit 16 Jahren der Ausnahmezustand. In Frankreich hat die sozialdemokratische Regierung ihn gerade bis Januar 2017 verlängert und Ministerpräsident François Hollande hat gegen Massenprotest eine neoliberale Arbeitsmarktreform per Dekret durchgesetzt. Es ist absolut irreführend, in Bezug auf die Türkei vom Faschismus zu sprechen. Denn das würde letztendlich auch bedeuten, die Unterstützerinnen und Unterstützer Erdogans, also die Hälfte der Bevölkerung, als »faschistisch« zu sehen.
Erdogan und die AKP
Doch die AKP ist keine faschistische Partei. Die AKP ist eine religiös-konservative, neoliberale und nationalistische Kraft. In der Regierung ist sie repressiver Verwalter der Interessen der türkischen herrschenden Klasse, während sich ihre Wählerbasis allerdings eher aus den sozial schwächer gestellten Schichten rekrutiert. Sogar in den kurdischen Provinzen, wo die Regierung im Allgemeinen schlecht abschneidet, genießt sie Rückhalt in der Bevölkerung. Während die Oberschichtbezirke Ankaras und Istanbuls alle von der – angeblich sozialdemokratischen – Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert werden, stehen alle anderen unter Verwaltung der AKP, die den höchsten Stimmenanteil in den ärmsten Bezirken verzeichnen kann. Die Arbeiterviertel waren und sind AKP-Hochburgen. Allerdings täuscht das Bild, Erdogan säße fester im Sattel denn je.
Kurswechsel von Erdogan
Erdogan musste erkennen, dass die Machtstellung der AKP in Zeiten politischer und ökonomischer Instabilität leicht ins Wanken geraten kann. Um das zu verhindern, brauchte die AKP neue Koalitionspartner, besonders in Bezug auf die politischen »Säuberungen« gegen die realen und vermeintlichen Anhänger und Anhängerinnen der Gülen-Bewegung im Staatsapparat. Um die drastischen Angriffe auf die demokratischen Rechte durchzusetzen, musste Erdogan innenpolitisch einen Kurswechsel einleiten. Seit Jahren versucht er, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, um die Gewaltenteilung des kemalistischen Staatsapparats abzuschaffen. Dieser Versuch, ein Präsidialsystem einzurichten, hat jedoch die Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse vertieft. Hier hat Erdogan vorerst einen Rückzieher gemacht. Der Vorschlag zur Verfassungsänderung und der Plan eines auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems ist auf unbestimmte Zeit vertagt. Stattdessen begann die AKP unter dem Slogan der »Nationalen Aussöhnung« mit den zwei anderen großen Parteien des Establishments zusammenzuarbeiten: der kemalistischen CHP und der faschistischen MHP, die bisher in der Opposition waren.
Block der »nationalen Interessen«
Nach dem Putschversuch kam es zu mehreren Treffen zwischen den Spitzen der CHP, der MHP und dem AKP-Führer und Premierminister Yıldırım. Als nächsten Schritt durften die Politikerinnen und Politiker der Opposition – ausgenommen die linke HDP – wieder im staatlichen Fernsehsender TRT auftreten, nachdem ihnen dies viele Jahre verwehrt wurde. Aber nicht nur das: Gemeinsam mobilisierten die Parteien AKP, CHP und MHP, im Einklang mit Teilen des Militärs, die Bevölkerung zur Unterstützung ihrer politischen Agenda. Anfang August versammelten sich in Istanbul mehrere Millionen Menschen zu einer Massenkundgebung gegen den Putschversuch unter dem Motto »Demokratie und Märtyrer«. Als Redner traten Staatspräsident Erdogan, Kemal Kılıçdaroglu (CHP), Devlet Bahçeli (MHP) sowie der Militärchef und der Ministerpräsident Yıldırım auf. Die drei Parteien repräsentieren mehr als 85 Prozent des türkischen Wählervotums. Ziel dieser Koalition ist es, einen neuen herrschenden Block der »nationalen Interessen« zu bilden.
Die politische Agenda dieses Blocks fußt auf drei Säulen: Erstens soll der Staatsapparat umstrukturiert werden mit dem Ziel, die Politik des Neoliberalismus weiter voranzutreiben. Zweitens wird die Außenpolitik mit Blick auf Syrien und den Nahen Osten neu ausgerichtet. Die dritte Säule ist die Kriegspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden in der Türkei.
Erdogan und die »Neustrukturierung des Staats«
Die »Neustrukturierung des Staats« ist in vollem Gange. Seit dem 15. Juli wurden mehr als 40.000 Personen ins Gefängnis gesteckt und über 150.000 aus dem öffentlichen Dienst geworfen. Gleichzeitig haben der gescheiterte Putschversuch und die Umbrüche danach gezeigt, dass fast das gesamte Kapital die AKP-Regierung als seine Interessenvertretung betrachtet und deren Maßnahmen unterstützt. Enteignungen von Unternehmern, die als »Gülenisten« beschuldigt werden, wird nicht widersprochen. TÜSIAD, die Vereinigung des türkischen Großkapitals, die 85 Prozent des Außenhandels kontrolliert (inklusive Energie) und 80 Prozent der Körperschaftssteuer bezahlt, hat sich von dem Putsch distanziert. Zehn Tage nach dem Putschversuch veröffentlichte sie ein Statement, in dem steht, dass »Interventionen gegen die Demokratie nur dadurch unterbunden werden können, dass demokratische Strukturen und die Rechtsstaatlichkeit ausgebaut werden«. TÜSIAD bezieht sich dabei auf die EU-Beitrittsverhandlungen und sieht daher die demokratischen Standards der EU als den Weg, den es zu verfolgen gilt.
Erdogan, die EU und die USA
Das Verhältnis der AKP zur EU und den USA hatte Höhen und Tiefen, weil die Türkei ihre eigenen Interessen als imperialistische Regionalmacht verfolgt. Aber die Türkei muss sich mit den konkurrierenden imperialen Blöcken arrangieren. Um beispielsweise den Konflikt mit Russland nach dem Abschuss eines russischen Jets zu lösen, traf die Regierung eine Übereinkunft mit Russland. Aber das bedeutet nicht, dass die Türkei immer an Russland orientiert. Im Gegenteil: Die wirtschaftliche und geostrategische Abhängigkeit vom Westen erlauben dem Regime Erdogans nicht, zu weit zu gehen. Umgekehrt ist die Türkei für die EU und die USA ein wichtiger strategischer Partner. Mit seinen 78 Millionen Einwohnern liegt das Land am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist damit ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Innerhalb der Nato verfügt die Türkei über das zweitstärkste Militär nach den USA. Sie ist die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Das Land ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber es ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert. Die Türkei und der Westen brauchen einander. Rhetorische Angriffe und in den Medien ausgetragene Streitigkeiten können irreführend sein. In Wirklichkeit steht die NATO fest an der Seite der Türkei und unterstützt ihre Aktivitäten in Syrien. Auch Deutschland hat sich nach kurzen Auseinandersetzungen dazu entschlossen, Millionen Euro in die deutsche Militärbasis Incirlik in Adana zu investieren.
Eine Anti-HDP-Koalition
Die neue Verbindung zwischen der türkischen herrschenden Klasse und ihren politischen Repräsentanten hat bittere Konsequenzen für die Opposition, insbesondere für die Kurdinnen und Kurden. Es ist eine Anti-HDP-Koalition und sie ist bereit, die türkischen nationalen Interessen im türkischen Teil von Kurdistan und in Rojava zu verteidigen. Das heißt, dass die kemalistische Kriegspolitik gegen die Kurden fortgesetzt wird. Über 11.000 Lehrerinnen und Lehrer wurden Anfang September entlassen mit der Behauptung, sie würden der PKK nahestehen. Die meisten von ihnen waren Mitglieder der linken Gewerkschaft KESK. Ebenso hat die Regierung 28 Stadt- und Kommunalverwaltungen, darunter 24 von der linken HDP geführte, unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.
Trotz staatlicher Unterdrückung und der einschüchternden und erstickenden Atmosphäre, die der nationalistische Block der AKP schafft, gibt es aber noch Möglichkeiten für die Linke. Selahattin Demirtas verkündete nach dem Putsch zu Recht, dass der zivile Widerstand gegen die Panzer die Macht der Straße bewiesen hat. Das erste Mal seit den Terroranschlägen auf die Friedensdemonstration in Ankara am 15. Oktober letzten Jahres hatte die HDP und die Linke allgemein die Chance, Massen gegen den Putsch und gegen die schmutzige Politik der AKP zu mobilisieren. Aber leider wurde diese Chance, mit Ausnahme der kurdischen Gebiete, nicht wirklich genutzt.
Verwirrung in der türkischen Linken
Seit dem versuchten Militärputsch herrscht vor allem Verwirrung in der türkischen Linken. Aufgrund einer falschen Analyse der Bedeutung des politischen Islam war die Mehrheit der Linken von den Anti-Putsch-Protesten auf der Straße verängstigt und verfolgte die Entwicklungen nur passiv. Die Linke hat nicht genug eingegriffen und konnte die Massenbewegung auf der Straße nicht in Richtung Demokratieausbau und der Forderung nach Frieden beeinflussen, was eigentlich die einzige Lösung der momentanen Krise darstellt.
Angriff auf linke Strukturen
Das liegt teilweise daran, dass die Strukturen der Linken im letzten Jahr stark angegriffen und beschädigt wurden. Auf der einen Seite wurden Gewerkschaften und linke Strukturen Ziel von Selbstmordanschlägen, wie in Suruç und Ankara, faschistische Mobs haben kurdische Menschen in westlichen Städten angegriffen und es gab unzählige Angriffe auf die Büros der HDP. Anfang November verhaftete die Regierung Erdogan Abgeordneten der linken Oppositionspartei HDP, unter ihnen auch die Vorsitzenden der Partei Selahattin Demirtas und Figen Yüksekda.
Auf der anderen Seite hat der Krieg in den kurdischen Gebieten und die Verschärfung der Verfolgung von kurdischen Aktivistinnen und Aktivsten überall im Land die Linke stark geschwächt. Allein von der HDP wurden 2000 Mitglieder festgenommen, ebenso wie viele kritische Journalistinnen und Journalisten.
Die politische Atmosphäre verändern
Dennoch bleibt das Hauptproblem der Linken ihre falsche Analyse der Situation. Viele in der Linken versuchten, den Putsch durch Verschwörungstheorien zu erklären. Aber ein erfolgreicher Putsch hätte auch für die Linke in der Türkei brutale Repression bedeutet. Erdogans Antwort auf den Putschversuch war das Verhängen des Ausnahmezustands, wodurch grundlegende demokratische Rechte komplett ausgesetzt sind. Eine effektive Strategie der Linken dagegen sollte darauf zielen, die politische Atmosphäre zu verändern und das Vertrauen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten zu gewinnen, die im Moment noch für die AKP stimmen. Der HDP ist dies bei den Wahlen im Juni 2015 in vielen kurdischen Städten gelungen. Die Linke in der Türkei kann den gleichen Weg einschlagen und sollte versuchen, die Verbindungen zu den Massen wieder aufzubauen.
Wie die Linke in die Offensive kommen kann
Wenn Erdogans linke Kritiker vor allem auf die Religion abzielen, machen sie einen großen Fehler: Opposition gegen die AKP auf Grundlage ihres »Islamismus« führt lediglich dazu, den Widerspruch zwischen ihrer neoliberalen Politik und ihrer Basis in der Arbeiterklasse zu kaschieren und so die gläubigen Bevölkerungsteile noch näher an die Partei zu binden.
Der Widerspruch erscheint dann als einer zwischen Muslimen und Säkularen und die Klassenfrage gerät in den Hintergrund. Statt in erster Linie ihren »Islamismus« zu kritisieren und sich so gegenüber der gläubigen Bevölkerung zu isolieren, sollten Linke die AKP für ihre antidemokratische und prokapitalistische Politik angreifen und auf die gegensätzlichen Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung hinweisen. Auch viele Wählerinnen und Wähler der AKP sehen den autoritären und repressiven Kurs von Erdogan kritisch. Die Linke kann diese Menschen erreichen, wenn sie nicht an alten Fehlern festhält.
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