Im Mai wurde die Türkei von einer außergewöhnlichen Streikwelle erfasst. Betroffen war die Metallindustrie mit Schwerpunkt auf Betrieben der Automobilindustrie. Von Jochen Gester
Das regionale Zentrum bildete Bursa, das 100 Kilometer südlich von Istanbul am Marmarmeer liegt. Hier konzentrieren sich viele Tochterniederlassungen und Zulieferbetriebe großer Autokonzerne, die in ihren ausgelagerten Fertigungsstätten niedrige Löhne bei hoher Arbeitsbelastung zahlen. Mit ihren 1,3 Millionen Beschäftigten hat die Autobranche eine hervorragende wirtschaftliche Bedeutung für die Türkei. Sie generierte im letzten Jahr ein Umsatzvolumen von 22,3 Mrd. Dollar.
Ausgangspunkt des Konflikts
Ausgangspunkt des Konflikts war eine Tarifvereinbarung, die die Türkische Metallarbeitergewerkschaft Türk-Metal (sie gehört zum Gesamtverband Türk-Is) 2014 mit Bosch Fren, einem Tochterbetrieb des Boschkonzerns, abgeschlossen hatte; sie läuft bis 2017 und sieht eine 60%ige Lohnerhöhung vor. Als Turk-Metal damit scheiterte, einen vergleichbaren Abschluss auch in anderen Betrieben durchzusetzen, trat die Belegschaft von Renault am 14.Mai in den Streik. Die Autoarbeiter veröffentlichten einen «Dringenden Aufruf der Arbeiter aus Bursa zur Solidarität», der nicht ohne Resonanz blieb. Sie erhielten viele Solidaritätserklärungen ihrer Kollegen aus der Autobranche, u.a. von Coskunöz, Delphi, Otorim, DJC, Rollmech, Tofas und Mako. In rascher Folge legten dann auch Beschäftigte des Fiat-Jointventures Tofas und der Fabriken Coskünöz und Mako die Arbeit nieder. Dann war auch die Produktion von Ford in Kocaeli an der Reihe.
Zahlreiche Belegschaften in Bursa hielten Versammlungen ab, um darüber zu diskutieren, ob und wie sie sich dieser Bewegung anschließen könnten. Die Gewerkschaft Türk-Metal machte keine Anstalten, den Ausstand zu unterstützen. Stattdessen warnte sie ihre Mitglieder und erklärte, bei Fortführung des Arbeitskampfs könnten sie umstandslos entlassen werden. Dieses Verhalten löste eine Austrittswelle aus, durch die Is-Metal 40.000 ihrer 180.000 Mitglieder verlor.
Erfolge der Streikbewegung in der Türkei
Ende Mai kam es dann zu den ersten betrieblichen Vereinbarungen bei Coskunöz, Ford Kocaeli und später bei Mako und Tofas. Gleichzeitig schlossen sich neue Betriebe wie Türk Traktör der Streikbewegung an. Auch in den Werken Kocaeli und Eskisehir von Ford Otosan legten tausende die Arbeit nieder. Türk Traktör sowie Ford Otosan gehören zur Koc-Holding, einer der ältesten und größten Kapitalgruppen in der Türkei. Im Ford-Standort Inonu reagierte die Werksleitung auf die Weigerung der Streikenden, das Werk zu verlassen, mit Produktionsstopp. Die Streikwelle erfasste auch Betriebe, in denen es gar keine Gewerkschaft gibt. So stopptendie Arbeiter bei Er Metal, einem Werk mit 2000 Beschäftigten, in der Nacht vom 28.Mai die Produktion und gingen erst wieder an die Arbeit, als der Arbeitgeber ihnen eine Erhöhung der Stundenlöhne um 2 TL (1 TL = 64 Cent) zusagte.
Ende Mai kam die Streikwelle zum Erliegen. Nach 15 Tagen Arbeitskampf wurde in den beiden Ford-Standorten Kocaeli und Eskisehir, nach 13 Tagen bei Renault und nach 12 Tagen bei Türk Traktör die Arbeit wieder aufgenommen. In der neun Artikel umfassenden Vereinbarung von Renault gesteht das Management der Belegschaft das Recht zu, Vertreter zu wählen, die nicht mehr Türk-Metall angehören, und verpflichtet sich, diese anzuerkennen. Sanktionen gegen Streikende wurden zurückgezogen. Zusätzlich zu Lohnerhöhungen wurde ein Bonus von 1000 TL (325 Euro) gewährt. Und am Ende jeden Jahres soll es eine Leistungszulage von netto mindestens 600 TL (195 Euro) geben. Bei Türk Traktör wurde eine Lohnerhöhung wie bei Topas (Fiat) in Aussicht gestellt.
Austritte
Viele Arbeiter waren jedoch verärgert darüber, dass Türk Metal die Verhandlung mit dem Management nicht offen, sondern über soziale Medien geführt hatte. Die Mehrheit der Beschäftigten von Renault und Tofas haben ihre Gewerkschaft verlassen. Sie organisierten einen Protestmarsch zum Sitz von Türk Metal. Dort forderten sie den Rücktritt des verantwortlichen Vorstandsmitglieds.
Auch bei Delphi hieß die Parole: «Nichts geht mehr». Die Arbeiter verabschiedeten sich per Smartphone von ihren häuslichen Pflichten und simsten: «Liebling kümmere dich um die Kinder, ich bin am kämpfen.» Und das taten sie mit Erfolg. Auch ihre Werksleitung verpflichtete sich, die von den Beschäftigten gewählte Vertretung anzuerkennen. Das Büro von Türk Metal wurde geschlossen. Über die Lohnforderungen wird weiter verhandelt.
Das nach den kräftigen Lohnerhöhungen wohl wichtigste Ergebnis der aktuellen Streikbewegung in der Türkei ist die Debatte um neue Wege der Interessenwahrnehmung und -vertretung, die aus der Enttäuschung der Belegschaften über die Politik von Türk Metal entstanden ist. Die Lohnabhängigen wollen ihre Vertreter selbst wählen können und diskutieren auch über die Gründung einer neuen Gewerkschaft, die ihren Aufgaben gewachsen sein soll.
Radikalere Arbeiter schlossen sich zur Organisation MIB (Vereinigung der Metallarbeiter von Bursa) zusammen. Die MIB wurde Opfer polizeilicher Repression, einige ihrer Vertreter wurden verhaftet. Dagegen verbreitete sie eine etwas schwülstige und grobschlächtige Protesterklärung. Die MIB will die Debatte um die Bildung neuer Gewerkschaften vorantreiben und setzt sich für die Durchführung von Wahlen in den Betrieben ein, die den Willen der Belegschaften ausdrücken.
Nach türkischem Arbeitsrecht können neue Gewerkschaften, die nicht zu einer der bestehenden Konföderationen gehören, mit ihrer Anerkennung rechnen, wenn sie 3% der Beschäftigten ihrer Branche organisieren. Das wäre im Fall der Metallarbeiter eine zu überspringende Hürde von 40.000 Mitgliedern. Das dürfte der Konflikt hergeben.
Zum Text: Der Text erschien zuerst bei der SOZ – Sozialistische Zeitung.
Foto: DIDF
Schlagwörter: Analyse, Automobilindustrie, Gewerkschaften, marx21, Protest, Streik, Türkei