Seit Jahren fordert die Regierung in der Ukraine Waffenlieferungen aus Deutschland. In der deutschen Debatte wird von »Defensivwaffen« gesprochen. Doch das ist nur ein Ablenkungsmanöver, damit sich die Bundesregierung am gefährlichen geopolitischen Spiel beteiligen kann. Von Karim Khoury
Der russische Präsident Wladimir Putin hat über 100.000 Soldat:innen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, dazu eine Menge Kriegsgerät: Panzer, Raketenwerfer und andere schwere Waffen. Gleichzeitig rüsten die Nato-Staaten die Ukraine auf, schicken Militärberater und verlegen immer mehr Truppen nach Osteuropa. Keine der Seiten dürfte Interesse an einem neuen großen Krieg haben. Ein kleiner Funke reicht jedoch, um die Lage zu eskalieren. Trotz dieser extrem gefährlichen Situation mehren sich in Deutschland die Forderungen nach Waffenlieferungen in das Krisengebiet.
So fordert etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik schon länger, dass die Bundesrepublik Waffen an die Ukraine liefert. Der Denkfabrik zufolge ginge die Bundesregierung damit mehrere Probleme gleichzeitig an. So löse sich damit der derzeitige Stillstand des Minsk-Prozesses, während Deutschland gleichzeitig strategische Solidarität mit den EU- und Nato-Mitgliedsstaaten bekunde.
Deutsche Kriegsschiffe und Luftabwehrsysteme
Bereits im Mai 2021 forderte Grünen-Chef Robert Habeck, kurz vor seinem Besuch an der Frontlinie, den Export von »defensiven« Waffen in die Ukraine. Infolge heftiger Kritik, unter anderem aus Reihen von CDU, SPD und LINKEN, suchte er damals allerdings noch nach einer Rechtfertigung. Dauernd würden »alle« von europäischer Souveränität reden. Habecks Verständnis davon: »Wenn diese Rede irgendeinen Sinn hat, dann muss sich das doch zum Beispiel im Donbass beweisen«.
Der ukrainische Botschafter in Berlin Andrij Melnyk konkretisiert laut Tagesspiegel Mitte Januar gegenüber der Deutschen Presse Agentur, welche Waffen den Vorstellungen entsprechen würden. Hauptsächlich bräuchte die Ukraine nämlich »deutsche Kriegsschiffe, die zu den besten der Welt gehören«. Melnyk führt fort, die Ukraine benötige diese dringend »für die robuste Verteidigung der langen Küste im Schwarzen und Asowschen Meer«. Ähnlich »riesigen Bedarf« sehe der Diplomat »für modernste Luftabwehrsysteme, die gerade deutsche Rüstungskonzerne herstellen«.
»Defensivwaffen« für die Ukraine?
Bisher lehnt die Bundesregierung Waffenlieferungen in die Ukraine ab, wofür sie (inter)national scharfe Kritik erntet. Nicht zuletzt von Kiews amtierenden Bürgermeister, Vitali Klitschko. Die Bildzeitung berichtet, dass Klitschko die Zusage der Bundesregierung 5.000 Helme zu liefern, »sprachlos« mache. »Was will Deutschland als nächstes zur Unterstützung schicken? Kopfkissen?«, fragt er zynisch. Aber noch betont Kanzler Olaf Scholz: »Die deutsche Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren eine gleichgerichtete Strategie […]. Und dazu gehört auch, dass wir keine letalen Waffen exportieren«. Ebenso weist Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei ihrem Besuch im Januar in Kiew die Forderungen der Ukraine zurück. Die »restriktive« Rüstungsexportpolitik sei unter anderem in der deutschen Geschichte begründet.
Dennoch keimen in der Ampel-Koalition mittlerweile erste Zweifel an der Haltung von Scholz und Baerbock auf. Einen neuen Vorstoß wagte unter anderem die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) Mitte Januar: »Die Lieferung von Defensivwaffen könnte eine Möglichkeit zur Unterstützung der Ukraine sein.«
Rückenwind bekommen die Militarist:innen der Regierung auch aus der Opposition. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland mitteilt, spricht sich der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Johann Wadephul (CDU) vehement für Waffenlieferungen aus. Denn die Nato müsse der »Ukraine im Konflikt mit Russland beistehen«. Russland müsse die Entschlossenheit des Westens deutlich wahrnehmen. Die bisherige Haltung hätte Russland buchstäblich als Einladung »zur Fortsetzung der Verletzung der Souveränität der Ukraine verstanden«. Deshalb sei diese Position nicht mehr haltbar.
Militarisierung der Ukraine
Doch der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist Höhepunkt, aber nicht Ausgangspunkt der derzeitigen Spannungen. Die Expansionsschritte »westlicher« imperialistischer Staaten beginnen bereits in den 1990er Jahren mit der Nato-Osterweiterung. Wirtschaftliche Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine kamen hinzu. Darauf folgten der Aufbau einer »schnellen Eingreiftruppe« der Nato, Raketenstationierungen und die Aufkündigung des INF-Vertrages durch die USA. Zusätzlich verstärken die Nato-Staaten ihre Truppenpräsenz an der Ostflanke, ebenso ihre Marinepräsenz, während regelmäßig Manöver stattfinden.
Militärische Unterstützung erhält die Ukraine schon lange. Antiwar berichtet, dass die US-Regierung seit Bidens Amtsantritt umfassend Militärhilfe an die Ukraine leistet. Bereits sein Amtsvorgänger Trump hatte die US-Waffenlieferungen an die Ukraine massiv ausgeweitet. Ein neues Paket schnürte das Weiße Haus nun im September 2021. Im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit der Ukraine kündigte die US-Regierung »ein neues Hilfspaket in Höhe von 60 Millionen Dollar« an. Insgesamt habe Präsident Biden der New York Times zufolge 2021 mehr als 400 Millionen US-Dollar an Sicherheitshilfe der Ukraine zur Verfügung gestellt. German-Foreign-Policy gibt einen Überblick, welche Staaten militärische Unterstützung für die Ukraine leisten: »So haben die USA inzwischen Militärhilfe im Wert von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar geleistet, darunter die Lieferung Hunderter Panzerabwehrraketen des Typs Javelin.«
Nato-Staaten sind präsent
Daneben sind einige andere Nato-Staaten bereits militärisch präsent, obwohl das einen Bruch der Nato-Russland-Grundakte von 1997 bedeutet. Mit der völkerrechtlichen Absichtserklärung wollte die Nato russische Bedenken gegenüber einer sich anbahnenden Osterweiterung besänftigen. Nun bilden diverse Nato-Staaten das ukrainische Militär für den Kampf gegen die von Moskau unterstützten Separatist:innen in der Ostukraine aus und stationieren mehrere Tausend Soldat:innen in den drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen und in Polen. Zudem wird über die Aufstockung der bisherigen »Enhanced Forward Presence« (EFP) debattiert. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas äußerte Mitte Januar, dass diesbezüglich Gespräche mit der Nato bereits stattfinden. Nach Angaben von Reuters soll die Frage einer Verstärkung der Truppenpräsenz beim nächsten Nato-Verteidigungsminister:innen-Treffen Mitte Februar auf die Tagesordnung kommen. Daneben arbeitet die EU an einem eigenenn Ausbildungseinsatz.
Außerdem meldete der Spiegel Ende 2021, dass US-General Tod D. Wolters wie im Baltikum auch in Bulgarien und Rumänien eigene EFP-Kontingente haben will. Der General und Supreme Allied Commander für Europa spricht in einer geheimen Videoschalte von gut 1.500 Personen, die er in Rumänien und Bulgarien stationiert sehen wolle. Wie die Tagesschau berichtet, hat das Treffen der 30 Verteidigungsminister:innen der Nato Mitgliedsländer nun auch offiziell das Mandat erteilt, die Präsenz in Rumänien konkret auszuarbeiten. Befürchtungen, dies könne die Spannungen mit Moskau weiter verschärfen, wies Nato Generalsekretär Stoltenberg zurück.
Die EU plant Ausbildungsmissionen
Darüber hinaus liefert das Nato-Kriegsbündnis Waffen. Nach Angaben von German-Foreign-Policy haben Polen und Tschechien »Dutzende gebrauchte Schützenpanzer beschafft; die Türkei liefert Kiew ihre berüchtigten Drohnen des Typs Bayraktar TB2. Großbritannien wiederum hat begonnen, die Aufrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte zu unterstützen; unter anderem will es die Ukraine beim Erwerb neuer Kriegsschiffe und beim Bau einer neuen Marinebasis unterstützen.« Zudem sendet London sogenannte Defensivwaffen an die Ukraine. Der Verteidigungsminister Ben Wallace erklärte Mitte Januar im Parlament »Wir haben entschieden, der Ukraine leichte defensive Panzerabwehr-Waffen zu liefern«. Erste Einheiten seien bereits in der Ukraine angekommen.
Mit der Intensivierung der Debatte im Januar erwägt die britische Regierung weitere Hunderte Soldat:innen in die baltischen Staaten und nach Polen zu schicken. So wolle London die Abschreckung gegenüber Russland erhöhen. Wenige Tage später folgte Biden dem Ruf. Die New York Times meldet, das Weiße Haus denke ebenfalls über »Tausende« zusätzliche Soldat:innen in Osteuropa und den baltischen Staaten nach. Auch zahlreiche EU-Staaten boten daraufhin Truppenverlegungen und Ausrüstungslieferungen an. Die Tagesschau berichtet: »Dänemark schickt eine Fregatte in die Ostsee und stationiert F-16-Kampfflugzeuge nach Litauen. Spanien entsendet Schiffe, um sich den ständigen Seestreitkräften der Nato anzuschließen und erwägt die Entsendung von Kampfflugzeugen nach Bulgarien. Frankreich sei bereit, Truppen nach Bulgarien zu schicken, teilte die Nato mit.« Auch die Bundesregierung hat zusätzliche Truppen ins Baltikum mobilisiert.
Daneben plant die EU eine eigene Ausbildungsmission in der Ukraine. EUTM Ukraine soll vor allem die ukrainische Armee auf Nato-Standard bringen, wie der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks gegenüber Bruxelles2 betont: »Wir wollen eine Armee aufbauen, die modern ist. In der Praxis würde dies bedeuten, dass wir Teams von Militärexperten entsenden […]. Das ist also in der Tat das Ziel: der Nato-Standard.«
Gefahr weiterer Eskalation
Seit der Annexion der Krim erhält die Ukraine also bereits massiv Waffenlieferungen sowie militärische Beratung und Ausbildung. Das führt weder zu einem militärischen Gleichgewicht, wie oftmals argumentiert wird, noch zu einer friedlichen Lösung der Krise. Letzteres wäre allerdings bitter nötig. Auch das Regime Putins dürfte grundsätzlich kein Interesse an einem neuen großen Krieg haben. Der Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine dient in erster Linie, Gespräche auf Augenhöhe zu erzwingen. Die Bundesregierung sollte auf jede Dialogbereitschaft eingehen und das Spiel militärischer Drohgebärden nicht mitmachen.
Mit der Entsendung von Kriegsschiffen ins Schwarze Meer und der Lieferung von »Defensivwaffen« würde die Bundesregierung zwar den Wünschen der Ukraine nachkommen, ein anderes Kräfteverhältnis wäre dadurch jedoch nicht geschaffen. Stattdessen dreht sich die Eskalationsspirale weiter und die Option als friedliche und glaubwürdige Vermittlerin aufzutreten, wäre dahin.
Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, machte in der Debatte um »Defensivwaffen« deutlich: »Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen stammt aus früheren Jahrhunderten, wo sie noch Sinn ergeben hat. Mittlerweile lässt sich nahezu jede Waffe defensiv oder offensiv nutzen, das hängt immer von der Art und Weise der Operationsführung ab.« Gefährlich sei dies, weil »diese Waffen doch für offensive Operationen eingesetzt werden« könnten, was »eine massivere russische Antwort bedeuten würde«. An anderer Stelle macht er klar: »Diese Defensiv/Offensiv Debatte dient nur der Beruhigung der deutschen pazifistischen Gemüter.« Masala zufolge bestünde auch die Gefahr einer weiteren Eskalation in der Ostukraine.
Ganz abgesehen davon, dass die deutschen Rüstungsexportrichtlinien Waffenlieferungen in Krisengebiete eine Absage erteilen, untersagen auch die europäischen Rüstungsexportrichtlinien Waffenlieferungen in Krisengebiete. Nebenbei ist zu erwähnen, dass weder die Ausbildung militärischen Personals noch die Lieferungen von militärischen Gütern einen Beitrag für mehr Sicherheit oder gar Frieden leisten. Stattdessen wirkt militärisches Eingreifen grundsätzlich destabilisierend und kriegstreibend.
Gespräche ermöglichen, Drohgebärden beenden
Putin ist kein Freund und kein Bündnispartner. Er propagiert einen großrussischen Chauvinismus und möchte die Einflusssphären Russlands ausweiten. Geostrategische und wirtschaftliche Interessen sollen militärisch abgesichert werden. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es die herrschende Klasse in Russland ist, die von der Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Massen lebt.
Linke müssen an der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten stehen, die keinen Krieg wollen. Das sind die Massen der Arbeiter:innen, der Männer, Frauen und Kinder in den Nato-Staaten, der Ukraine und in Russland. Bei einer Konfrontation zwischen zwei imperialistischen Mächten, zwischen herrschenden Klassen, dürfen sich Linke auf keine der beiden Seiten stellen: Weder Washington noch Moskau, weder Berlin noch Brüssel!
Die Nato-Osterweiterung ist Ausgangspunkt der derzeitigen Eskalation. Immer wieder gab es diplomatische Gespräche, in denen die russische Regierung unter anderem das Versprechen verlangte, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied wird. Bisher blieben die Gespräche ohne Ergebnisse.
»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, wie es Karl Liebknecht bereits vor mehr als Hundert Jahren deutlich machte. Wir sind verpflichtet, der Kriegstreiberei ein Ende zu bereiten. Im Fall der Ukrainekrise heißt das, die sogenannte Abschreckungspolitik der Bundesregierung, der EU und der Nato abzulehnen.
Das bisherige Mantra der LINKEN: »Keine Eskalationsschritte« und »Reden statt Schießen« ist unzureichend. Es ist eine deutliche Sprache nötig. »Schluss mit der Militarisierung der Außenpolitik!«; »Keine Raketenstationierung in Osteuropa!« und »Schluss mit der Osterweiterung der Nato!«. Nein zu Säbelrasseln und Krieg!
Weitere Analysen zum Thema gibt es auf der Seite der Informationsstelle Militarisierung.
Foto: Kayla Christopher
Schlagwörter: Aufrüstung, Imperialismus, Militarisierung, NATO, Russland, Ukraine