Der Konflikt um die Ukraine spitzt sich zu. Wie sollten Sozialist:innen sich zum Säbelrasseln zwischen Russland und den Nato-Staaten verhalten? Ein Kommentar von Volkhard Mosler
In der »Taz« stand kürzlich in einem Leserbrief: »Die Betrachtungen zur Ukraine geraten leider oft schwarz-weiß, auch in der taz. Nur Russland hat ›Expansionsgelüste‹, während die Nato das ›gute Recht‹ hat, sich zu erweitern.« Ein:e andere:r Leser:in schreibt ganz richtig: »Beide Seiten halten immer mal wieder die Lunte ans Fass.«
Seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion (1989-1992) versuchen die USA und die übrigen westlichen Natoländer ihren wirtschaftlichen und politischen Machtbereich auf die ehemaligen Ostblockländer und die selbständig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken auszweiten. Wir haben es mit einem klassischen imperialistischen Konflikt zu tun, in dem es auf der einen, wie auf der anderen Seite um ökonomische Interessen und politische Macht geht, nicht um Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht kleiner Nationen.
Stellvertreterkonflikt um Ukraine
In einer Pro/Contra-Debatte der »Taz« zur Frage, ob deutsche Waffen für die Ukraine geliefert werden sollen, argumentiert der Autor des Pro-Beitrags, dass »einem schwächeren Land gegen ein stärkeres Beistand gebührt.« Und: »Wenn eine militärische Großmacht ganz offensichtlich Krieg gegen den Nachbarn vorbereitet, ist das Gleichgewicht der Kräfte das einzige Mittel, den Frieden zu retten.« Will heißen: Deutsche Waffenexporte an die ukrainische Regierung helfen, den Frieden zu retten.
Die Autorin des Contra-Beitrags weist darauf hin, dass die Ukraine bereits großzügige Militärhilfen der USA, Kanadas, der Türkei und bald auch Großbritanniens erhalte. Und sie argumentiert ganz richtig, dass die Aufrüstung der Ukraine durch Nato-Staaten weder zu einem militärischen Gleichgewicht noch zu einer Befriedung der Situation geführt habe.
Dem Autor des Pro-Beitrags ist entgegenzuhalten, dass der Ukraine-Konflikt sich längst zu einem Stellvertreterkonflikt entwickelt hat, in dem die Ukraine nur ein Bauer im Schachspiel des Königs, hier des US-Imperialismus, geworden ist, obwohl sie formell noch nicht Mitglied des westlichen Militärbündnisses (Nato) geworden ist. Hier geht es also nicht um den Erhalt der Unabhängigkeit eines kleinen Landes gegen ein aggressives größeres. Es geht um die Machtausdehnung eines noch größeren Staates, der USA, und des Blocks mittlerer imperialistischer Mächte in Gestalt der EU.
Liebknecht und der »Hauptfeind«
Karl Liebknecht, Antimilitarist einer der Gründer der KPD, hat zum 1. Mai 1915 mitten im Weltkrieg ein Flugblatt mit der Kampfparole »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« verfasst. Im Flugblatt heißt es weiter: »Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie.«
Ersetzen wir »eigenes Land« durch »eigenes Lager« und »Deutschland« durch »Nato«, dann haben wir eine sozialistische Einschätzung für den aktuellen Ukraine-Konflikt. Dabei sollten wir Liebknechts Parole vom »Hauptfeind« ebenfalls auf den Ukraine-Konflikt anwenden. Mit »Hauptfeind« meinte Liebknecht, dass die militärischen Gegner Deutschlands, die Mächte der Entente (Frankreich, Russland, Großbritannien, USA u.a.), ebenfalls Feinde der Arbeiterklasse seien. Oder anders ausgedrückt: der Feind unseres Feindes war – zumindest in diesem Falle – nicht Freund der Arbeiterklasse, sondern ihr nachgeordneter Gegner. Jedes Proletariat müsse mit den eigenen Kriegstreibern abrechnen. Der Kampf für eine zivilisierte und friedliche Menschheit war aus Sicht Karl Liebknechts (und Rosa Luxemburgs) untrennbar mit dem Kampf gegen die Ursachen des Kriegs und des Militarismus im imperialistischen Kapitalismus verknüpft. Auch Putin und sein autoritäres Regime sind ein nachgeordneter Feind der »deutschen« Arbeiterklasse.
Russischer Imperialismus
Und hier versagt der Contra-Beitrag in der »Taz«: »Im Grunde hat auch Russland Interesse an einer friedlichen Lösung«, argumentiert die Autorin. Putins Kriege, Feldzüge und Militäroperationen in Tschetschenien, Ossetien, Dagestan, in Syrien und in Libyen, die Annexion der Krim sowie die Benutzung der russischen Minderheit zur Spaltung der Ukraine und zuletzt die Niederschlagung einer revolutionären Erhebung in Kasachstan mit Hilfe russischer Militärs sprechen eine andere Sprache.
Putin schließt an die imperialistische Tradition des zaristischen Russlands an, das Lenin als ein »Gefängnis der Nationen« bezeichnet hatte – ein nicht auf Demokratie und Selbstbestimmung beruhender Vielvölkerstaat unter russischer Vorherrschaft.
Antiimperialistische Friedensbewegung
Und der Fairness halber müsste man jetzt eine noch längere Liste von Militärinterventionen und neokolonialen Kriegen von Vietnam bis Afghanistan aufmachen, die allesamt davon zeugen, dass die USA und ihre Nato-Bündnispartner nicht Freunde der Unabhängigkeit kleiner Nationen und Völker sind – es sei denn sie lassen sich für die eigenen imperialistischen Pläne instrumentalisieren.
Wir teilen zwar die Ablehnung von deutschen Waffenexporten an die Ukraine. Aber eine Lösung des Konflikts kann nicht im Appell an die »Diplomatie« der Herrschenden liegen. Putin ist ein Kriegstreiber so wie Biden und seine Nato-Bündnispartner. Nicht nur bei der Analyse des Konflikts, sondern auch bei seiner Lösung sollten wir uns an Liebknecht und Luxemburg orientieren, die dies wiederum an Marx und Engels taten: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«
Das ist leichter gesagt als getan, aber der einzig gangbare Weg. Der erste Schritt dahin ist der Wiederaufbau einer antiimperialistischen Friedensbewegung in Deutschland, die stark genug ist, der eigenen herrschenden Klasse und ihrer neuen Außenministerin Baerbock die Lust an Auslandseinsätzen, Waffenexporten und der Nato-Osterweiterung zu nehmen.
Foto: 7th Army Training Command / flickr.com
Schlagwörter: Antiimperialismus, Imperialismus, NATO, Russland, Ukraine