Die USA liefern der Ukraine Streubomben – eine weitere Eskalation des Krieges, meint Alex Callinicos
Die Entscheidung der Joe Biden Regierung, Streubomben an die Ukraine zu liefern, sollte einen Schlussstrich unter die Debatte über den Charakter dieses Kriegs setzen. Nur ein Narr oder ein Schurke wird noch leugnen, dass die USA einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen.
Streubomben sind keine Defensivwaffen. Sie wurden entwickelt, um so viele Menschen wie nur möglich zu töten. Sie hinterlassen nicht detonierte Munition zurück (Bomblets), die noch lange nach Kriegsende Zivilist:innen, vor allem Kinder, töten oder verletzen. Die Entscheidung schockierte sogar den Sicherheitskorrespondenten der BBC, Frank Gardner – für gewöhnlich ein treuer Diener des britischen Staats. Er sagte: »Streubomben sind eine grauenhafte, unterschiedslose Waffe, die aus gutem Grund von vielen Ländern der Welt geächtet ist.«
Der Offensivcharakter von Streubomben
Der entscheidende Punkt jedoch, abgesehen von ihrer Grausamkeit, ist ihr Offensivcharakter. Gardner klärt auf: »Die Ukraine steht jetzt vor der gewaltigen Aufgabe, die einmarschierenden Russen aus ihren stark befestigten Schützengräben entlang einer sich über 1000 Kilometer erstreckenden Kampffront zu vertreiben. Angesichts fehlender Artilleriemunition hat die Ukraine die USA ersucht, ihren Vorrat an Streubomben aufzustocken, um die russische Infanterie, die all diese defensiven Schützengräben mannt, zu beschießen.«
Somit bewaffnen die USA die Ukraine, damit sie die Besatzungstruppen zurückdrängen und Territorien zurückerobern, womöglich einschließlich der Krim. Je erfolgreicher dieses Unternehmen verläuft, desto größer wird das Risiko, das Wladimir Putin, ohnehin durch den misslungen Putsch der Prigoschin-Truppe geschwächt, sich für den Einsatz von Nuklearwaffen entscheidet.
Nuklearkrieg ist eine reale Bedrohung
Und lasst niemand uns einreden, es wäre eine »moralische Pflicht«, die Ukraine mit allen Waffen zu beliefern, die ihre Regierung sich wünscht. Ein Nuklearkrieg stellt eine Bedrohung für alle Menschen unseres Planets dar. Es stimmt, dass die chinesische Regierung, anlässlich des Besuchs ihres Präsidenten Xi Jinping in Moskau im März, Putin vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt hat. Da Russland stark auf China angewiesen ist, um den westlichen Bokott zu umgehen, ist dies eine beruhigende Nachricht. Aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Es gibt keinen Präzedenzfall, nach dem wir uns richten könnten, was der Herrscher einer Nuklearmacht tun würde, sollte sein politisches und persönliches Überleben auf dem Spiel stehen.
Modell Israel in Europa?
Biden ist allerdings nicht bereit, Wolodymyr Selenskyj alles zu geben, was dieser verlangt. Die USA und Deutschland widersetzten sich dem Druck der rechten Regierungen Mittel- und Osteuropas, sich auf eine Aufnahme der Ukraine in die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Vilnius in Litauen festzulegen. Die USA und Deutschland hegen Bedenken gegen eine Fortsetzung der Kriegshandlungen gegen Russland auch nach einem Abgang Putins. Die gesamte russische Elite ist gegen eine Nato-Präsenz entlang ihrer langen Grenze zur Ukraine. Und unter Artikel 5 des Nordatlantikpakts könnte sich die Nato nur schwerlich aus einem zukünftigen Krieg raushalten.
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Die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich, die größten Militärmächte der Nato – wenn wir die Türkei außen vor lassen – schnüren gerade ein ganzes Paket an Zusicherungen an die Ukraine diesseits einer Vollmitgliedschaft. Die Financial Times berichtet: »Manche Regierungsvertreter befürworten Verpflichtungen nach dem ‚Modell Israel‘, entsprechend der offenen militärischen Unterstützung für den jüdischen Staat. Die USA haben sich selbstverpflichtet, Israel einen ‚qualitativen militärischen Vorsprung‘ in Nahost zu garantieren und erneuern diese Absichtserklärung alle zehn Jahre wieder. Die Politiker sehen was Ähnliches für die Ukraine vor.«
Ausdehnung des Kriegs
Selenskyj höchstpersönlich sagte im April 2022: »Wir werden ganz sicher ein ‚großes Israel‘ mit eigenem Gesicht werden. Wir sollten uns nicht wundern, Vertreter der Streitkräfte oder der Nationalgarde in allen Behörden, Supermärkten, Kinos zu sehen, und sie werden bewaffnet sein.«
Sicher möchte er am liebsten beides haben: Nato-Mitgliedschaft und Militärhilfen in israelischen Dimensionen. Wenn die USA und Deutschland sich aber weigern, hat er keine anderen Optionen. Biden will Putin weiter ausquetschen, aber eine Ausdehnung des Kriegs vermeiden.
In der Zwischenzeit muss er die mittel- und osteuropäischen Staaten bei der Stange halten. Ihre kriegerischen Töne werden immer schriller, sie sind aber, mit Ausnahme Polens, machtpolitisch vernachlässigbar. Die baltischen Staaten zeichnen für weniger als 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts der EU. Die Lieferung von Streubomben an die Ukraine hat das Gleichgewicht hin zu einer Ausdehnung des Kriegs jedenfalls verschoben.
Zum Text: Der Artikel erschien zuerst auf Englisch bei der britischen Zeitung Socialist Worker. Aus dem Englischen von David Paenson.
Foto: wikimedia / U.S. Air Force photo by Senior Master Sgt. John S. Chapman
Schlagwörter: Krieg, NATO, Russland, Ukraine, USA