Seit mehreren Tagen halten Hunderttausend Hongkong besetzt. Das Regime in Peking ist in Panik. Ein Bericht aus Hongkong
Die Massenproteste der letzten Tage auf Hongkongs Straßen waren wirklich inspirierend. Den Beginn machten Universitätsstudenten, als sie den Unterricht boykottierten und stattdessen öffentliche Vorlesungen im Zentrum Hongkongs abhielten. Daraus entwickelte sich die Besetzung des zentralen Platzes, der bezeichnender Weise den Namen Civic Square (Bürgerplatz) trägt und daher für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollte, mittlerweile aber mit riesigen Gittern bewehrt wurde. Nachdem sie sich zunächst in Schweigen gehüllt hatte, beschlossen der Anführer der Bewegung Occupy Central ihre erst für den 1. Oktober geplanten Straßenbesetzungen im Geschäftsviertel vorzuziehen und so beide Bewegungen miteinander quasi zu verschmelzen.
Peking reagiert mit Pfefferspray, Tränengas und Knüppeln
Am Sonntag stellten sich weitere zehntausende Honkonger auf die Seite der Studenten. Es waren in der Mehrzahl junge Menschen. Die Polizei versperrte den Weg zum Hauptprotestplatz. Sie nahm an, es wäre ein Leichtes, einfach durchzugreifen und die Kerngruppe zu verhaften, wären die übrigen Teilnehmer nach und nach den Weg nach Hause treten würden. Aber es kam anders. Sie musste frustriert zusehen, wie die Menschenmassen sich spontan entschieden, durch die überdehnten Polizeiketten durchzumarschieren und wichtige Straßen im Stadtzentrum zu besetzen und besetzt zu halten. Die Polizei war nicht mehr die Umzingler, sondern die Umzingelten. Sie versuchte vergeblich, die Protestierenden durch Pfefferspray, Tränengas und Knüppelvorstöße auseinander zu jagen. Die Aufstandspolizei wurde am nächsten Tag vorerst zurückgezogen. Währenddessen erreichen die Proteste andere Stadtteile, darunter die wichtige Verkehrsader Nathanstraße in Mong Kok, Kowloon und auch das Einkaufs- und Geschäftsviertel Causeway Bay.
Die Bilder von tausenden Protestlern unter Tränengasbeschuss durch die Aufstandspolizei mögen eine Überraschung für Außenstehende sein, in Wirklichkeit war die Lage schon lange am Kochen.
Chinas Regime wehrt sich gegen Demokratie in Hongkong
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Veröffentlichung durch die Zentralregierung in Beijing der Wahlmodalitäten für die erstmalige Direktwahl des Hongkonger Verwaltungschefs im Jahr 2017. Diese stellten sich als noch restriktiver als erwartet heraus, denn maximal zwei oder drei Kandidaten werden zugelassen, nachdem sie erst von einem exklusiven Komitee aus 1200 Beijing-Treuen bestätigt wurden. Es steht bereits fest, dass kein Beijing-Kritiker da überhaupt eine Chance haben wird. Eine Mehrheit der Hongkonger Bevölkerung meint, dass das Parlament Hongkongs diesen Plan ablehnen sollte, wenn man undemokratische Zustände wie in Nordkorea vermeiden will.
Was die Menschen vor allem ärgerte, war die lachhafte öffentliche Konsultation seitens der Regionalverwaltung HKSAR zu Beginn des Jahrs. Nachdem in einer gut organisierten, obwohl inoffiziellen Volksbefragung 800.000 Menschen sich für eine öffentliche Nominierung der Kandidaten aussprachen, berichtete die Regierung nach Beijing, dass die öffentliche Meinung Hongkongs in ihrer großen Mehrheit für die Prüfung und Auswahl durch ein Komitee sei, was nach Beijings Dafürhalten sowieso die einzige zulässige Option im Rahmen des Sonderstatus von Hongkong sei.
Hongkong ist die ungleichste Gesellschaft in der entwickelten Welt
Aber das ist nur ein Teil des Gesamtbilds. Hinzu kommen immer häufigere, auch gewalttätige Angriffe auf Journalisten, Anzeichen für eine verschärfte Zensur und Selbstzensur in den Medien, Drohungen gegen die Unabhängigkeit der Justiz, Versuche einer Hochverratsgesetzgebung und »patriotischer« Schulbildung, grassierende Korruption. Das alles lässt die Hongkonger befürchten, dass Beijing nicht vorhat, die vorgesehene Übergangsfrist von 50 Jahren nach Aushändigung der ehemaligen britischen Kolonie im Jahr 1997 abzuwarten, bevor es mit der Redefreiheit und dem Rechtsstaat kurzen Prozess macht.
Dem zugrunde liegen horrende soziale Verhältnisse, die Hongkong zu der ungleichsten Gesellschaft in der entwickelten Welt machen, eine Stadt, in der Millionen Menschen extrem lange für sehr niedrige Löhne arbeiten und in beengten, grotesk überteuerten Wohnungen und mit vollkommen unzureichender sozialer Absicherung, vor allem für die Alten, leben müssen, während die Regierung Jahr für Jahr riesige Budgetüberschüsse auftürmt.
Kern der Bewegung sind Schüler- und Studierendenproteste
Die Menschen glauben, vollkommen zu Recht, dass Hongkong von und im Interesse einer superreichen Oligarchie geführt wird, die mit Beijing unter einer Decke steckt und nur darauf aus ist, ihren Reichtum noch weiter zu vermehren, wobei sie ihre Profite zusehends aus der Ausbeutung der Arbeiterschaft auf Chinas Festland und in Sweatshops der übrigen asiatischen Länder ziehen. Es sind die gleichen Bosse, die der übrigen Hongkonger Bevölkerung von Patriotismus schwafelt und ihr nahelegt, den Mund zu halten und sich mit Beijings Angebot zufrieden zu geben. Kein Wunder, dass die Menschen aufgebracht sind.
Auch in den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Massenprotesten. Die Menschen erreichten damit im Jahr 2003 die Rücknahme von Artikel 23 gegen subversive Akte und im Jahr 2012 protestierten bis zu 120.000 Menschen auf den Straßen gegen die Einführung »patriotischer« Lehrpläne an Schulen. Das war die Geburtsstunde der Studentenbewegung Scholarism, die eine entscheidende Rolle in den jüngsten Protesten spielt.
Auf Occupy Central ist kein Verlass
Aber diesmal wird der Kampf mit härteren Bandagen geführt. Obwohl Beijing auch damals die Strippen zog, war es noch die Hongkonger Regierung, die die Entscheidungen allem Anschein nach traf. Diesmal hat Beijing ein direktes Machtwort gesprochen, und es wird einer weitaus größeren Anstrengung bedürfen, um es zum Nachgeben zu bringen. Massenstreiks wären ein Weg, aber die Gewerkschaften sind schwach und gespalten und der größte gewerkschaftliche Dachverband, die HKFTU, eine Marionette Beijings. Immerhin hat aber die Lehrergewerkschaft als Teil des demokratisch gesinnten gewerkschaftlichen Dachverbands HKCTU zu einem Proteststreik gegen das Eingreifen der Polizei aufgerufen, während noch am Montag die Arbeiter eines Coca Cola-Betriebs in einer wichtigen jungen Stadt der New Territories auf einer außerordentlichen Betriebsversammlung für Streik stimmten.
Die Anführer von Occupy Central meinen es gut, sind aber taktisch ganz und gar inkompetent. Es handelt sich um eine bunte Mischung aus Rechtsprofessoren, Kirchenleuten und ähnlichen, die sich von der studentischen Führung fernhält, während diese wiederum wesentlich kompromissloser, dafür sehr unerfahren ist. Es ist sehr gut vorstellbar, dass die Anführer von Occupy Central angesichts der Straßenschlachten anstelle des netten, geordneten zivilen Ungehorsams, den sie sich gewünscht hatten, unter dem Vorwand einer Neugruppierung der Kräfte den Rückzug antreten werden.
Aus Gesprächen mit den Teilnehmer an den Protesten über die Frage wie weiter schimmerte Wut durch, zugleich aber ein gewisser Fatalismus. So nach dem Motto, Beijings Haltung können wir nicht beeinflussen, aber wir werden dennoch weiter protestieren, denn wir müssen uns dafür einsetzen, unsere bestehenden Freiheiten zu erhalten. Es handelt sich zweifellos um eine Massenbewegung. Das belegt die Teilnahme solcher Menschen wie der 23-jährigen Veterinärassistentin Crystal, die sich am Abend ihres Geburtstags dazustellt, nachdem sie miterleben musste, wie Studenten mit Tränengas angegriffen wurden, oder einer 91-jährigen Frau, die dem Festland bereits vor etlichen Jahrzehnten den Rücken gekehrt hatte.
Aus dem Englischen übersetzt von David Paenson. Der Artikel erschien zuerst auf rs21.
Foto: ansel.ma
Schlagwörter: Aufstand, China, Demokratie, Demonstration, Diktatur, Gewerkschaften, Großbritannien, Hong Kong, Hongkong, Peking, Polizei, Repression, Unistreik